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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Mehr Herder?

sehe, von der zünftigen Kritik nicht überall glimpflich behandelt worden. Auf
das in diesem Buche behandelte Problem möchte ich die Aufmerksamkeit noch
lenken; ist es doch auch ein Beitrag zu der Frage: Was ist uns Herder?

Im Mittelpunkt des Buches steht der bedeutsamste Vorgang, der sich in
Herders Leben überhaupt abgespielt hat: seine Berührung mit dem jungen
Goethe in Straßburg. Goethe, in dem tausend Keime sich regten, tausend
Ansätze auf Befruchtung harrten, in der Rolle des dankbaren, selbst unterwürfigen
Schülers gegenüber dem einzigartig Frühreifen, in dem sich Wissen und Schauen
zu einem gewaltigen Weltbilde, beseelt von tiefdurchwaltendem Gefühle, auszu-
wachsen strebte. Der persönliche Verkehr legte in Goethe den Grund zu einem
viele Jahre andauernden unerhörten Ausgeschlossensein der Seele für alle
Wesensäußerungen Herders. Goethe las nunmehr, was er von Herder las,
mit ganzem Gemüte. Vielleicht hat kein Mensch, auch Schiller nicht aus¬
genommen, je auf Goethe so stark gewirkt, und gewiß hat keiner in einem so
fruchtbaren Augenblick gewirkt wie Herder. Man wird sicher gut tun, den
Nachklang Herderscher Ideen in Goethes Anschauungen, die damals zuerst zu
dauernder Festigung strebten, mehr zu beachten als dies gewöhnlich geschieht.

Wenn nun Jacobo den Versuch unternimmt, aus diesem Gebiet eine Kern¬
frage, die nach Herders Einwirkung auf die Konzeption des Faustdramas, zu
untersuchen, so ist der Gedanke selbst nicht neu. Man hat auch früher schon
bemerkt, daß sich in Faust der Geist Herders regt. Doch ist niemand bisher
dem Gedanken auf den Grund gegangen. Es kam darauf an zu zeigen, wie
nahe die Persönlichkeit Herders der des Goethescher Faust steht, und wie daher
Goethe in ihm die lebendige Erscheinung des Aufstrebens vom Menschen zum
Übermenschen, die Durchdringung von Natur und Menschenleben mit eigenem
Gefühl und ihre Gestaltung und Durchfühlung als Kosmos, mithin das Nach¬
denken des göttlichen Gedankens erlebt haben müsse, hierdurch die Faustidee
auf eine Höhe erhebend, die keiner der vorausgegangenen Faustdichter erreichte.

Darüber wird kein Zweifel obwalten können: die für den Schüler nicht
immer erquickliche Lehre, in die Herder den jungen Goethe in Straßburg nahm,
und die sich in dem Briefwechsel der nächsten Jahre fortsetzte, bedeutete für
Goethe eine heilsame Erziehung; das "spechtische Wesen" wich einer zu¬
nehmenden Verinnerlichung. Aus Jacobys Darlegungen gewinnt man nun den
Eindruck, als habe Goethe Herders Persönlichkeit und seine Schriften mit einer
solchen Glut eingesogen, habe sich so mit Herder getränkt, daß er nicht nur in
Herders Leoensrichtung hineingezogen, nicht nur seinen Anschauungen gewonnen
worden sei, sondern daß bis in die Ausdrucksweise, bis in den sprachlichen
Rhythmus hinein Herders Wesen durch das seine hindurch sich auswirkt.

Am stärksten haben -- immer als Persönlichkeitszeugnisse gefaßt -- außer
den vor der Straßburger Begegnung schon erschienenen Herderschen Schriften
die der nächsten Jahre auf Goethe gewirkt: die "Älteste Urkunde". "Auch eine
Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", der Aufsatz "Über die


Grenzboten II 191ö 6
Mehr Herder?

sehe, von der zünftigen Kritik nicht überall glimpflich behandelt worden. Auf
das in diesem Buche behandelte Problem möchte ich die Aufmerksamkeit noch
lenken; ist es doch auch ein Beitrag zu der Frage: Was ist uns Herder?

Im Mittelpunkt des Buches steht der bedeutsamste Vorgang, der sich in
Herders Leben überhaupt abgespielt hat: seine Berührung mit dem jungen
Goethe in Straßburg. Goethe, in dem tausend Keime sich regten, tausend
Ansätze auf Befruchtung harrten, in der Rolle des dankbaren, selbst unterwürfigen
Schülers gegenüber dem einzigartig Frühreifen, in dem sich Wissen und Schauen
zu einem gewaltigen Weltbilde, beseelt von tiefdurchwaltendem Gefühle, auszu-
wachsen strebte. Der persönliche Verkehr legte in Goethe den Grund zu einem
viele Jahre andauernden unerhörten Ausgeschlossensein der Seele für alle
Wesensäußerungen Herders. Goethe las nunmehr, was er von Herder las,
mit ganzem Gemüte. Vielleicht hat kein Mensch, auch Schiller nicht aus¬
genommen, je auf Goethe so stark gewirkt, und gewiß hat keiner in einem so
fruchtbaren Augenblick gewirkt wie Herder. Man wird sicher gut tun, den
Nachklang Herderscher Ideen in Goethes Anschauungen, die damals zuerst zu
dauernder Festigung strebten, mehr zu beachten als dies gewöhnlich geschieht.

Wenn nun Jacobo den Versuch unternimmt, aus diesem Gebiet eine Kern¬
frage, die nach Herders Einwirkung auf die Konzeption des Faustdramas, zu
untersuchen, so ist der Gedanke selbst nicht neu. Man hat auch früher schon
bemerkt, daß sich in Faust der Geist Herders regt. Doch ist niemand bisher
dem Gedanken auf den Grund gegangen. Es kam darauf an zu zeigen, wie
nahe die Persönlichkeit Herders der des Goethescher Faust steht, und wie daher
Goethe in ihm die lebendige Erscheinung des Aufstrebens vom Menschen zum
Übermenschen, die Durchdringung von Natur und Menschenleben mit eigenem
Gefühl und ihre Gestaltung und Durchfühlung als Kosmos, mithin das Nach¬
denken des göttlichen Gedankens erlebt haben müsse, hierdurch die Faustidee
auf eine Höhe erhebend, die keiner der vorausgegangenen Faustdichter erreichte.

Darüber wird kein Zweifel obwalten können: die für den Schüler nicht
immer erquickliche Lehre, in die Herder den jungen Goethe in Straßburg nahm,
und die sich in dem Briefwechsel der nächsten Jahre fortsetzte, bedeutete für
Goethe eine heilsame Erziehung; das „spechtische Wesen" wich einer zu¬
nehmenden Verinnerlichung. Aus Jacobys Darlegungen gewinnt man nun den
Eindruck, als habe Goethe Herders Persönlichkeit und seine Schriften mit einer
solchen Glut eingesogen, habe sich so mit Herder getränkt, daß er nicht nur in
Herders Leoensrichtung hineingezogen, nicht nur seinen Anschauungen gewonnen
worden sei, sondern daß bis in die Ausdrucksweise, bis in den sprachlichen
Rhythmus hinein Herders Wesen durch das seine hindurch sich auswirkt.

Am stärksten haben — immer als Persönlichkeitszeugnisse gefaßt — außer
den vor der Straßburger Begegnung schon erschienenen Herderschen Schriften
die der nächsten Jahre auf Goethe gewirkt: die „Älteste Urkunde". „Auch eine
Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", der Aufsatz „Über die


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[0077] Mehr Herder? sehe, von der zünftigen Kritik nicht überall glimpflich behandelt worden. Auf das in diesem Buche behandelte Problem möchte ich die Aufmerksamkeit noch lenken; ist es doch auch ein Beitrag zu der Frage: Was ist uns Herder? Im Mittelpunkt des Buches steht der bedeutsamste Vorgang, der sich in Herders Leben überhaupt abgespielt hat: seine Berührung mit dem jungen Goethe in Straßburg. Goethe, in dem tausend Keime sich regten, tausend Ansätze auf Befruchtung harrten, in der Rolle des dankbaren, selbst unterwürfigen Schülers gegenüber dem einzigartig Frühreifen, in dem sich Wissen und Schauen zu einem gewaltigen Weltbilde, beseelt von tiefdurchwaltendem Gefühle, auszu- wachsen strebte. Der persönliche Verkehr legte in Goethe den Grund zu einem viele Jahre andauernden unerhörten Ausgeschlossensein der Seele für alle Wesensäußerungen Herders. Goethe las nunmehr, was er von Herder las, mit ganzem Gemüte. Vielleicht hat kein Mensch, auch Schiller nicht aus¬ genommen, je auf Goethe so stark gewirkt, und gewiß hat keiner in einem so fruchtbaren Augenblick gewirkt wie Herder. Man wird sicher gut tun, den Nachklang Herderscher Ideen in Goethes Anschauungen, die damals zuerst zu dauernder Festigung strebten, mehr zu beachten als dies gewöhnlich geschieht. Wenn nun Jacobo den Versuch unternimmt, aus diesem Gebiet eine Kern¬ frage, die nach Herders Einwirkung auf die Konzeption des Faustdramas, zu untersuchen, so ist der Gedanke selbst nicht neu. Man hat auch früher schon bemerkt, daß sich in Faust der Geist Herders regt. Doch ist niemand bisher dem Gedanken auf den Grund gegangen. Es kam darauf an zu zeigen, wie nahe die Persönlichkeit Herders der des Goethescher Faust steht, und wie daher Goethe in ihm die lebendige Erscheinung des Aufstrebens vom Menschen zum Übermenschen, die Durchdringung von Natur und Menschenleben mit eigenem Gefühl und ihre Gestaltung und Durchfühlung als Kosmos, mithin das Nach¬ denken des göttlichen Gedankens erlebt haben müsse, hierdurch die Faustidee auf eine Höhe erhebend, die keiner der vorausgegangenen Faustdichter erreichte. Darüber wird kein Zweifel obwalten können: die für den Schüler nicht immer erquickliche Lehre, in die Herder den jungen Goethe in Straßburg nahm, und die sich in dem Briefwechsel der nächsten Jahre fortsetzte, bedeutete für Goethe eine heilsame Erziehung; das „spechtische Wesen" wich einer zu¬ nehmenden Verinnerlichung. Aus Jacobys Darlegungen gewinnt man nun den Eindruck, als habe Goethe Herders Persönlichkeit und seine Schriften mit einer solchen Glut eingesogen, habe sich so mit Herder getränkt, daß er nicht nur in Herders Leoensrichtung hineingezogen, nicht nur seinen Anschauungen gewonnen worden sei, sondern daß bis in die Ausdrucksweise, bis in den sprachlichen Rhythmus hinein Herders Wesen durch das seine hindurch sich auswirkt. Am stärksten haben — immer als Persönlichkeitszeugnisse gefaßt — außer den vor der Straßburger Begegnung schon erschienenen Herderschen Schriften die der nächsten Jahre auf Goethe gewirkt: die „Älteste Urkunde". „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", der Aufsatz „Über die Grenzboten II 191ö 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/77>, abgerufen am 22.12.2024.