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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Mehr Herder?

Konzentration auf das zur Leistung ausersehene Gebiet. Dieser Gefahr ist
unsere Zeit in besonders starkem Maße ausgesetzt, und die Besten von uns am
meisten, weil die Masse der Eindrücke unerhört groß ist. und zwar die Auf¬
nahmefähigkeit, aber nicht die innere Bewältigung sich dem Andrange anpaßt.
Für die entsprechende Wesensseite Herders ist z. B. das Reisejournal von 1769
mit seiner Fülle von klugen Einfällen bezeichnend. Schon geringe Anlässe be¬
wirken ein unabsehbares Ablaufen von Ideen, deren jede einen schöpferischen
Keim in sich trägt, aber im Gedränge nicht zur Auswirkung gelangt. Hier
fehlt Herder schon in äußerlich ungestörtesten Verhältnissen das, was unserer
Zeit überhaupt fehlt, die Sammlung, die innere Ruhe. Statt deren eine bis
ans Krankhafte gehende Jdeenflucht. Gewiß, alles, was in Herder aufging,
nahm Leben an, denn es stellte sich von selbst unter das obwaltende Gefühl,
es wurde von ihm getragen und so mit dem übrigen verbunden. Aber es ist
nur wie mit dem Lichte eines Scheinwerfers beleuchtet: der Lichtkegel irrt von
Gegenstand zu Gegenstand, ohne den Zusammenhang des blitzartig Erschauten
innerlich auch begrifflich erfassen zu lassen. Und so hat Herder nicht geleistet,
was ihn zum Führer in unserer zerfahrenen Zeit machen würde, die Durch¬
dringung alles einzelnen mit seinein Wesen zur Gestaltung eines persönlich-
sachlichen Ganzen. Was er geschaffen hat, sind fast immer nur Teile, oft
winzige Fragmente, Skizzen voll Tiefblick, voll von "hellseherischen Ahnungs¬
vermögen", für das es in Raum und Zeit keine Hindernisse gibt. Keineswegs
kleinlich: gerade in den Plänen zu künftigen Werken, wie zu jenem "Buch zur
menschlichen und christlichen Bildung" liegt ein großer Wurf; auch sonst tritt
er als Reformator der Gesamtwissenschaft auf, sein Blick umfaßt stets das Ganze
der Völker und Zeiten. Aber wenn der Leser in den Einzelergebnissen die
Spuren des Löwen erblickt, so ergreift ihn eine gewisse Beängstigung bei der
Frage, ob der Verfasser wirklich so groß und so klein zugleich sein kann, ob er
der seltene Mensch ist. der nicht nur ahnungsweise und gefühlsmäßig, sondern
wirklich das Weltall in sich aufbaut. So wird es wohl bei der klassischen
Äußerung Chamberlains sein Bewenden haben: "Herders Genialität übertrifft
bei weitem sein Talent, das ist sein Verhängnis, das hindert ihn. wahre
Meisterwerke zu vollenden. Die Welt aber fragt nicht viel nach dem Wesen
eines Mannes, sondern fast einzig nach seinen Taten; und als Tat läßt sie
nur das gelten, was sich ihr mit Gewalt aufzwingt."

Hinzu nehme man die Schwäche seiner Willensseite, wie sie in mehr als
einem wichtigen Moment seines Lebens als Entschlußunfähigkeit sich geltend
macht, und man versteht, wie ein solcher Geist, reizbar im höchsten Grade, nach
allen Seiten'gleichzeitig emporgezogen, nicht leicht den festen Boden findet, von
dem aus er den Aufbau seiner Anschauungen und seines Lehens beginnen kann.
Können wir diese Unsicherheit nicht auch um uns herum täglich bemerken? Und
die Untersuchung des Verhältnisses von Ich und Leben bei Herder führt nicht
minder in ein modernes Problem.


Mehr Herder?

Konzentration auf das zur Leistung ausersehene Gebiet. Dieser Gefahr ist
unsere Zeit in besonders starkem Maße ausgesetzt, und die Besten von uns am
meisten, weil die Masse der Eindrücke unerhört groß ist. und zwar die Auf¬
nahmefähigkeit, aber nicht die innere Bewältigung sich dem Andrange anpaßt.
Für die entsprechende Wesensseite Herders ist z. B. das Reisejournal von 1769
mit seiner Fülle von klugen Einfällen bezeichnend. Schon geringe Anlässe be¬
wirken ein unabsehbares Ablaufen von Ideen, deren jede einen schöpferischen
Keim in sich trägt, aber im Gedränge nicht zur Auswirkung gelangt. Hier
fehlt Herder schon in äußerlich ungestörtesten Verhältnissen das, was unserer
Zeit überhaupt fehlt, die Sammlung, die innere Ruhe. Statt deren eine bis
ans Krankhafte gehende Jdeenflucht. Gewiß, alles, was in Herder aufging,
nahm Leben an, denn es stellte sich von selbst unter das obwaltende Gefühl,
es wurde von ihm getragen und so mit dem übrigen verbunden. Aber es ist
nur wie mit dem Lichte eines Scheinwerfers beleuchtet: der Lichtkegel irrt von
Gegenstand zu Gegenstand, ohne den Zusammenhang des blitzartig Erschauten
innerlich auch begrifflich erfassen zu lassen. Und so hat Herder nicht geleistet,
was ihn zum Führer in unserer zerfahrenen Zeit machen würde, die Durch¬
dringung alles einzelnen mit seinein Wesen zur Gestaltung eines persönlich-
sachlichen Ganzen. Was er geschaffen hat, sind fast immer nur Teile, oft
winzige Fragmente, Skizzen voll Tiefblick, voll von „hellseherischen Ahnungs¬
vermögen", für das es in Raum und Zeit keine Hindernisse gibt. Keineswegs
kleinlich: gerade in den Plänen zu künftigen Werken, wie zu jenem „Buch zur
menschlichen und christlichen Bildung" liegt ein großer Wurf; auch sonst tritt
er als Reformator der Gesamtwissenschaft auf, sein Blick umfaßt stets das Ganze
der Völker und Zeiten. Aber wenn der Leser in den Einzelergebnissen die
Spuren des Löwen erblickt, so ergreift ihn eine gewisse Beängstigung bei der
Frage, ob der Verfasser wirklich so groß und so klein zugleich sein kann, ob er
der seltene Mensch ist. der nicht nur ahnungsweise und gefühlsmäßig, sondern
wirklich das Weltall in sich aufbaut. So wird es wohl bei der klassischen
Äußerung Chamberlains sein Bewenden haben: „Herders Genialität übertrifft
bei weitem sein Talent, das ist sein Verhängnis, das hindert ihn. wahre
Meisterwerke zu vollenden. Die Welt aber fragt nicht viel nach dem Wesen
eines Mannes, sondern fast einzig nach seinen Taten; und als Tat läßt sie
nur das gelten, was sich ihr mit Gewalt aufzwingt."

Hinzu nehme man die Schwäche seiner Willensseite, wie sie in mehr als
einem wichtigen Moment seines Lebens als Entschlußunfähigkeit sich geltend
macht, und man versteht, wie ein solcher Geist, reizbar im höchsten Grade, nach
allen Seiten'gleichzeitig emporgezogen, nicht leicht den festen Boden findet, von
dem aus er den Aufbau seiner Anschauungen und seines Lehens beginnen kann.
Können wir diese Unsicherheit nicht auch um uns herum täglich bemerken? Und
die Untersuchung des Verhältnisses von Ich und Leben bei Herder führt nicht
minder in ein modernes Problem.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/74>, abgerufen am 27.07.2024.