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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Flamen und Wallonen in Belgien

lex Coremans in den flämischen Distrikten das Flämische als Gerichtssprache
eingeführt -- mit dem Vorbehalt natürlich, daß der Angeklagte den Gebrauch des
Flämischen abweisen kann. Einige Jahre vorher waren zwei Flamen unschuldig
zum Tode verurteilt und enthauptet; niemand bei Gericht hatte sie verstanden; alle
Richter, Verteidiger und Gendarmen konnten nur französisch! Ähnliche Gesetze
für die höheren Instanzen und für andere Behörden folgten in den Jahren
1878, 1890 und 1891, und 1899 wurde die Militärgerichtsbarkeit, wenn auch
ungenügend, reformiert. Zur Ehre der Wallonen sei gesagt, daß einige von
ihnen für diese Gesetze eintraten, während die Fransquillons, die französisch sein
wollenden "Gebildeten" flämischer Abstammung, dagegen waren. 1898 wurde
das Flämische als offizielle Staatssprache neben dem Französischen anerkannt.
Das sind, obwohl es sich zum großen Teil um selbstverständliche Rechte handelt,
die jede andere Kulturnation längst besitzt, doch große Errungenschaften im
Vergleich zu dem. was vorher war, und es ist erklärlich, daß darob das
nationale Bewußtsein allmählich erwachte. Die niederen und mittleren Stände,
besonders die Elemente, die in die Höhe streben, beginnen nun auch die übrigen
Rechte zu verlangen, die jeder Nation zukommen: sie wollen von allem
Wissenswerten in der Muttersprache unterrichtet werden und nicht auf dem Umweg
über das Französische, und zum Emporsteigen in höhere Gesellschaftsschichten
kommen können, ohne zum Besuch französischer Schulen gezwungen zu sein.
Selbst in den Kreisen der Gebildeten begegnet man schon der Ansicht, daß es
für einen Flamen lächerlich ist, sich als Fransquillon zu gebärden, und daß
man durchaus nicht zum Abschaum des Volkes gehört, wenn man die flämische
Sprache seiner Eltern spricht. Doch wird dies Vorurteil nicht eher fallen, als
bis die Unterrichtssprache in allen Schulen der flämischen Gebiete, auch in den
höheren, flämisch ist.

Bei solcher Erstarkung beider Nationen wird die eine ebenso wenig nach¬
geben wollen wie die andere. Eine Milderung des Gegensatzes wird erst dann
eintreten, wenn die beiden letzten Hauptförderungen der Flamen erfüllt sind:
seit 1843 verlangen sie, die mehr als die Hälfte aller Belgier ausmachen, daß
eine von den vier Hochschulen des Landes ihrer Sprache eingeräumt werde,
und zwar Gent -- ein Platz, auf den sie ethnographisch wie historisch alles
Anrecht haben. Und jdie andere, nicht weniger berechtigte Forderung bezieht
sich auf die Zulassung der flämischen Sprache in der Armee, die zu drei
Fünfteln aus Flamen besteht.

Ehe sie das aber durchgesetzt haben, können die anderen Gegensätze im
belgischen Staate sich so verschärfen, daß die Existenz dieser konstitutionellen
Monarchie ernstlich gefährdet wird.




Flamen und Wallonen in Belgien

lex Coremans in den flämischen Distrikten das Flämische als Gerichtssprache
eingeführt — mit dem Vorbehalt natürlich, daß der Angeklagte den Gebrauch des
Flämischen abweisen kann. Einige Jahre vorher waren zwei Flamen unschuldig
zum Tode verurteilt und enthauptet; niemand bei Gericht hatte sie verstanden; alle
Richter, Verteidiger und Gendarmen konnten nur französisch! Ähnliche Gesetze
für die höheren Instanzen und für andere Behörden folgten in den Jahren
1878, 1890 und 1891, und 1899 wurde die Militärgerichtsbarkeit, wenn auch
ungenügend, reformiert. Zur Ehre der Wallonen sei gesagt, daß einige von
ihnen für diese Gesetze eintraten, während die Fransquillons, die französisch sein
wollenden „Gebildeten" flämischer Abstammung, dagegen waren. 1898 wurde
das Flämische als offizielle Staatssprache neben dem Französischen anerkannt.
Das sind, obwohl es sich zum großen Teil um selbstverständliche Rechte handelt,
die jede andere Kulturnation längst besitzt, doch große Errungenschaften im
Vergleich zu dem. was vorher war, und es ist erklärlich, daß darob das
nationale Bewußtsein allmählich erwachte. Die niederen und mittleren Stände,
besonders die Elemente, die in die Höhe streben, beginnen nun auch die übrigen
Rechte zu verlangen, die jeder Nation zukommen: sie wollen von allem
Wissenswerten in der Muttersprache unterrichtet werden und nicht auf dem Umweg
über das Französische, und zum Emporsteigen in höhere Gesellschaftsschichten
kommen können, ohne zum Besuch französischer Schulen gezwungen zu sein.
Selbst in den Kreisen der Gebildeten begegnet man schon der Ansicht, daß es
für einen Flamen lächerlich ist, sich als Fransquillon zu gebärden, und daß
man durchaus nicht zum Abschaum des Volkes gehört, wenn man die flämische
Sprache seiner Eltern spricht. Doch wird dies Vorurteil nicht eher fallen, als
bis die Unterrichtssprache in allen Schulen der flämischen Gebiete, auch in den
höheren, flämisch ist.

Bei solcher Erstarkung beider Nationen wird die eine ebenso wenig nach¬
geben wollen wie die andere. Eine Milderung des Gegensatzes wird erst dann
eintreten, wenn die beiden letzten Hauptförderungen der Flamen erfüllt sind:
seit 1843 verlangen sie, die mehr als die Hälfte aller Belgier ausmachen, daß
eine von den vier Hochschulen des Landes ihrer Sprache eingeräumt werde,
und zwar Gent — ein Platz, auf den sie ethnographisch wie historisch alles
Anrecht haben. Und jdie andere, nicht weniger berechtigte Forderung bezieht
sich auf die Zulassung der flämischen Sprache in der Armee, die zu drei
Fünfteln aus Flamen besteht.

Ehe sie das aber durchgesetzt haben, können die anderen Gegensätze im
belgischen Staate sich so verschärfen, daß die Existenz dieser konstitutionellen
Monarchie ernstlich gefährdet wird.




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[0569] Flamen und Wallonen in Belgien lex Coremans in den flämischen Distrikten das Flämische als Gerichtssprache eingeführt — mit dem Vorbehalt natürlich, daß der Angeklagte den Gebrauch des Flämischen abweisen kann. Einige Jahre vorher waren zwei Flamen unschuldig zum Tode verurteilt und enthauptet; niemand bei Gericht hatte sie verstanden; alle Richter, Verteidiger und Gendarmen konnten nur französisch! Ähnliche Gesetze für die höheren Instanzen und für andere Behörden folgten in den Jahren 1878, 1890 und 1891, und 1899 wurde die Militärgerichtsbarkeit, wenn auch ungenügend, reformiert. Zur Ehre der Wallonen sei gesagt, daß einige von ihnen für diese Gesetze eintraten, während die Fransquillons, die französisch sein wollenden „Gebildeten" flämischer Abstammung, dagegen waren. 1898 wurde das Flämische als offizielle Staatssprache neben dem Französischen anerkannt. Das sind, obwohl es sich zum großen Teil um selbstverständliche Rechte handelt, die jede andere Kulturnation längst besitzt, doch große Errungenschaften im Vergleich zu dem. was vorher war, und es ist erklärlich, daß darob das nationale Bewußtsein allmählich erwachte. Die niederen und mittleren Stände, besonders die Elemente, die in die Höhe streben, beginnen nun auch die übrigen Rechte zu verlangen, die jeder Nation zukommen: sie wollen von allem Wissenswerten in der Muttersprache unterrichtet werden und nicht auf dem Umweg über das Französische, und zum Emporsteigen in höhere Gesellschaftsschichten kommen können, ohne zum Besuch französischer Schulen gezwungen zu sein. Selbst in den Kreisen der Gebildeten begegnet man schon der Ansicht, daß es für einen Flamen lächerlich ist, sich als Fransquillon zu gebärden, und daß man durchaus nicht zum Abschaum des Volkes gehört, wenn man die flämische Sprache seiner Eltern spricht. Doch wird dies Vorurteil nicht eher fallen, als bis die Unterrichtssprache in allen Schulen der flämischen Gebiete, auch in den höheren, flämisch ist. Bei solcher Erstarkung beider Nationen wird die eine ebenso wenig nach¬ geben wollen wie die andere. Eine Milderung des Gegensatzes wird erst dann eintreten, wenn die beiden letzten Hauptförderungen der Flamen erfüllt sind: seit 1843 verlangen sie, die mehr als die Hälfte aller Belgier ausmachen, daß eine von den vier Hochschulen des Landes ihrer Sprache eingeräumt werde, und zwar Gent — ein Platz, auf den sie ethnographisch wie historisch alles Anrecht haben. Und jdie andere, nicht weniger berechtigte Forderung bezieht sich auf die Zulassung der flämischen Sprache in der Armee, die zu drei Fünfteln aus Flamen besteht. Ehe sie das aber durchgesetzt haben, können die anderen Gegensätze im belgischen Staate sich so verschärfen, daß die Existenz dieser konstitutionellen Monarchie ernstlich gefährdet wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/569>, abgerufen am 27.07.2024.