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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Flamen und Wallonen in Belgien

mit seiner tiefen Mystik. Einmal dem spanisch-katholischen Einfluß jahrhunderte¬
lang unterworfen, kommt er nicht mehr davon los; nirgends feiert heute der
Geist mittelalterlicher Religiosität solche Triumphe wie in den Kirchen und
Klöstern Flanderns: ekstatische Verzückung, kirchlicher Prunk, fanatische Askese,
und als Reaktion darauf wieder die gröbsten Orgien der Lebensfreude -- alle
diese seltsamen Kontraste des Mittelalters finden wir in ihm vereint, am deutlichsten
wohl in dem Friesen Westflanderns und dem Niederfranken von Ostflandern,
aber auch in dem Flamen ripuarischer Herkunft, der den Osten bewohnt.

Seine Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit äußert sich feindlich gegen alles
Fremde und Ungewohnte; er weigert sich in Landwirtschaft und Gartenbau neue
Methoden anzunehmen; er ist mißtrauisch nicht nur gegen den weit Herkommenden,
sondern oft auch gegen seinen Nächsten.

Bei so beständigen Abneigungen und Zuneigungen, bei solchem Hange zu
sinnfällig-überirdischer Mystik und solcher Verschlossenheit gegen seine Mitmenschen
bleibt er natürlich lebenslang im Bann der katholischen Kirche; hier kann sie
alles wagen und alles durchsetzen, und gegen die Macht ihrer Geistlichkeit hilft
keine weltliche Macht, weder staatliche Obrigkeit noch freie Presse; sie kann
sogar die Muttersprache, an der im übrigen der Landbewohner mit flämischer
Beharrlichkeit festhält, seiner konservativen Zähigkeit abringen, wenn es in ihre
Politik paßt. Maeterlinck und G. Rodenbach würden wohl kaum französisch
schreiben, wenn ihre Jesuitenschule es nicht gewollt hätte, wenn es nicht von
der Kirche ausgegangen wäre.

Demgegenüber gelten die Wallonen -- soweit sie nicht flämischen oder
deutschen Einschlag haben -- für Skeptiker und für irreligiös. Es ist nur
eine Behauptung, aber doch eine, für die viele Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen,
daß die Ideen der französischen Aufklärung darum so fest bei ihnen Wurzel
gefaßt haben, weil sie den Franzosen so nahe verwandt sind. Und es ist
bezeichnend, daß die liberale Partei, die in Flandern nur wenige Städte halten
konnte, von ihnen ausgegangen ist. Noch größer ist die Zahl der Sozialisten --
wobei man freilich den überwiegend industriellen Charakter der wallonischen
Provinzen berücksichtigen muß.

Man begegnet daher in Belgien vielfach der Meinung, die flämischen Pro¬
vinzen seien die Hauptstützen der gegenwärtigen Ordnung, ohne sie wäre das
Königtum längst abgeschafft, da die Majorität der Wallonen antimonarchisch
sei. Wenn man das Verhalten der Vlaamen und Waalen bei Aufständen und
Aufständen betrachtet, erscheinen in der Tat die wallonischen Distrikte als
weniger zuverlässige Stützen der Monarchie. Sie waren es, von denen die
belgische Revolution ausging, sie sind es, die weitaus das größte Kontingent
zu den Streikziffern stellen. Hier finden, durch die Nähe der Grenze und die
gleiche Sprache begünstigt, die republikanischen und revolutionären Ideen fran¬
zösischer Herkunft am leichtesten Eingang. Die Flamen sind hingegen, infolge
ihrer angeborenen Unzugänglichkeit, ihres konservativen Sinnes und ihrer ganz


Grenzboten II 1913 SS
Flamen und Wallonen in Belgien

mit seiner tiefen Mystik. Einmal dem spanisch-katholischen Einfluß jahrhunderte¬
lang unterworfen, kommt er nicht mehr davon los; nirgends feiert heute der
Geist mittelalterlicher Religiosität solche Triumphe wie in den Kirchen und
Klöstern Flanderns: ekstatische Verzückung, kirchlicher Prunk, fanatische Askese,
und als Reaktion darauf wieder die gröbsten Orgien der Lebensfreude — alle
diese seltsamen Kontraste des Mittelalters finden wir in ihm vereint, am deutlichsten
wohl in dem Friesen Westflanderns und dem Niederfranken von Ostflandern,
aber auch in dem Flamen ripuarischer Herkunft, der den Osten bewohnt.

Seine Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit äußert sich feindlich gegen alles
Fremde und Ungewohnte; er weigert sich in Landwirtschaft und Gartenbau neue
Methoden anzunehmen; er ist mißtrauisch nicht nur gegen den weit Herkommenden,
sondern oft auch gegen seinen Nächsten.

Bei so beständigen Abneigungen und Zuneigungen, bei solchem Hange zu
sinnfällig-überirdischer Mystik und solcher Verschlossenheit gegen seine Mitmenschen
bleibt er natürlich lebenslang im Bann der katholischen Kirche; hier kann sie
alles wagen und alles durchsetzen, und gegen die Macht ihrer Geistlichkeit hilft
keine weltliche Macht, weder staatliche Obrigkeit noch freie Presse; sie kann
sogar die Muttersprache, an der im übrigen der Landbewohner mit flämischer
Beharrlichkeit festhält, seiner konservativen Zähigkeit abringen, wenn es in ihre
Politik paßt. Maeterlinck und G. Rodenbach würden wohl kaum französisch
schreiben, wenn ihre Jesuitenschule es nicht gewollt hätte, wenn es nicht von
der Kirche ausgegangen wäre.

Demgegenüber gelten die Wallonen — soweit sie nicht flämischen oder
deutschen Einschlag haben — für Skeptiker und für irreligiös. Es ist nur
eine Behauptung, aber doch eine, für die viele Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen,
daß die Ideen der französischen Aufklärung darum so fest bei ihnen Wurzel
gefaßt haben, weil sie den Franzosen so nahe verwandt sind. Und es ist
bezeichnend, daß die liberale Partei, die in Flandern nur wenige Städte halten
konnte, von ihnen ausgegangen ist. Noch größer ist die Zahl der Sozialisten —
wobei man freilich den überwiegend industriellen Charakter der wallonischen
Provinzen berücksichtigen muß.

Man begegnet daher in Belgien vielfach der Meinung, die flämischen Pro¬
vinzen seien die Hauptstützen der gegenwärtigen Ordnung, ohne sie wäre das
Königtum längst abgeschafft, da die Majorität der Wallonen antimonarchisch
sei. Wenn man das Verhalten der Vlaamen und Waalen bei Aufständen und
Aufständen betrachtet, erscheinen in der Tat die wallonischen Distrikte als
weniger zuverlässige Stützen der Monarchie. Sie waren es, von denen die
belgische Revolution ausging, sie sind es, die weitaus das größte Kontingent
zu den Streikziffern stellen. Hier finden, durch die Nähe der Grenze und die
gleiche Sprache begünstigt, die republikanischen und revolutionären Ideen fran¬
zösischer Herkunft am leichtesten Eingang. Die Flamen sind hingegen, infolge
ihrer angeborenen Unzugänglichkeit, ihres konservativen Sinnes und ihrer ganz


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[0565] Flamen und Wallonen in Belgien mit seiner tiefen Mystik. Einmal dem spanisch-katholischen Einfluß jahrhunderte¬ lang unterworfen, kommt er nicht mehr davon los; nirgends feiert heute der Geist mittelalterlicher Religiosität solche Triumphe wie in den Kirchen und Klöstern Flanderns: ekstatische Verzückung, kirchlicher Prunk, fanatische Askese, und als Reaktion darauf wieder die gröbsten Orgien der Lebensfreude — alle diese seltsamen Kontraste des Mittelalters finden wir in ihm vereint, am deutlichsten wohl in dem Friesen Westflanderns und dem Niederfranken von Ostflandern, aber auch in dem Flamen ripuarischer Herkunft, der den Osten bewohnt. Seine Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit äußert sich feindlich gegen alles Fremde und Ungewohnte; er weigert sich in Landwirtschaft und Gartenbau neue Methoden anzunehmen; er ist mißtrauisch nicht nur gegen den weit Herkommenden, sondern oft auch gegen seinen Nächsten. Bei so beständigen Abneigungen und Zuneigungen, bei solchem Hange zu sinnfällig-überirdischer Mystik und solcher Verschlossenheit gegen seine Mitmenschen bleibt er natürlich lebenslang im Bann der katholischen Kirche; hier kann sie alles wagen und alles durchsetzen, und gegen die Macht ihrer Geistlichkeit hilft keine weltliche Macht, weder staatliche Obrigkeit noch freie Presse; sie kann sogar die Muttersprache, an der im übrigen der Landbewohner mit flämischer Beharrlichkeit festhält, seiner konservativen Zähigkeit abringen, wenn es in ihre Politik paßt. Maeterlinck und G. Rodenbach würden wohl kaum französisch schreiben, wenn ihre Jesuitenschule es nicht gewollt hätte, wenn es nicht von der Kirche ausgegangen wäre. Demgegenüber gelten die Wallonen — soweit sie nicht flämischen oder deutschen Einschlag haben — für Skeptiker und für irreligiös. Es ist nur eine Behauptung, aber doch eine, für die viele Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen, daß die Ideen der französischen Aufklärung darum so fest bei ihnen Wurzel gefaßt haben, weil sie den Franzosen so nahe verwandt sind. Und es ist bezeichnend, daß die liberale Partei, die in Flandern nur wenige Städte halten konnte, von ihnen ausgegangen ist. Noch größer ist die Zahl der Sozialisten — wobei man freilich den überwiegend industriellen Charakter der wallonischen Provinzen berücksichtigen muß. Man begegnet daher in Belgien vielfach der Meinung, die flämischen Pro¬ vinzen seien die Hauptstützen der gegenwärtigen Ordnung, ohne sie wäre das Königtum längst abgeschafft, da die Majorität der Wallonen antimonarchisch sei. Wenn man das Verhalten der Vlaamen und Waalen bei Aufständen und Aufständen betrachtet, erscheinen in der Tat die wallonischen Distrikte als weniger zuverlässige Stützen der Monarchie. Sie waren es, von denen die belgische Revolution ausging, sie sind es, die weitaus das größte Kontingent zu den Streikziffern stellen. Hier finden, durch die Nähe der Grenze und die gleiche Sprache begünstigt, die republikanischen und revolutionären Ideen fran¬ zösischer Herkunft am leichtesten Eingang. Die Flamen sind hingegen, infolge ihrer angeborenen Unzugänglichkeit, ihres konservativen Sinnes und ihrer ganz Grenzboten II 1913 SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/565>, abgerufen am 22.12.2024.