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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Flamen und ZVallonen in Belgien

ludion erduldet und die Unannehmlichkeiten der protestantisch - holländischen Re¬
gierung gekostet -- Unannehmlichkeiten, die freilich die Flamen ohne die
Agitation des flämischen Klerus wohl ertragen hätten! So fand sich 1830
zusammen, was von Natur nicht zusammengehörte, sondern nur durch die Er¬
eignisse einiger Jahrhunderte und durch den Willen zweier Großmächte, Frank¬
reich und England, zusammengebracht war.

Das neunzehnte Jahrhundert kennt in Europa kaum einen zweiten Staat,
dem ein solcher Dualismus^) zugrunde liegt wie dem belgischen. Nußland,
Österreich-Ungarn und die europäische Türkei (die vor 1878) umfassen zwar
größere und zahlreichere Verschiedenheiten in nationaler Hinsicht; doch in keinem
dieser Reiche kann man von einem so ausgeprägt nationalen Dualismus sprechen,
es sei denn, man täte den Dingen Gewalt an und stellte den neun Nationen
Österreichs (Deutschen, Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Italienern,
Ladinern, Slowenen, Serbokroaten) die sechs Nationen Ungarns (Ungarn,
Deutsche, Ruthenen, Rumänen, Slowaken, Serbokroaten) gegenüber, also den
Deutschen Österreichs die Deutschen Ungarns, den Rumänen die Rumänen, den
Serbokroaten die Serbokroaten usw. Eine weitere Beweisführung, daß Belgien
mit Österreich-Ungarn oder einem anderen der vielsprachigen osteuropäischen
Reiche nicht verglichen werden kann, ist wohl überflüssig. In Westeuropa
finden wir nur ein Gegenstück zu Belgien: die Schweiz oder, genau genommen,
die vier Kantone Wallis, Freiburg, Bern und Graubünden. Die politischen
und geographischen Verhältnisse dieser kleinen Gebirgsrepubliken sind aber so
eigenartig, daß sich ein Vergleich mit dem Königreich der Belgier kaum durch¬
führen ließe.

Hier liegen die beiden Sprachgebiete -- anders als in der Schweiz --
einander geschlossen gegenüber. Die Sprachgrenze läuft vom Eintritt ins
belgische Gebiet an oft-westlich, überschneidet die französische Staatsgrenze, die
von Südosten nach Nordwesten verläuft und endet mit einer kleinen Biegung
nach Norden unweit Dünkirchen am Kanal. Nördlich dieser Linie bewohnen
die Flamen ein fast ebenes Land, südlich die Wallonen eine mehr hügelige
Landschaft. Eigentliche Sprachinseln gibt es -- mit Ausnahme der französisch
sprechenden Stadtteile Brüssels -- nicht.

Größer noch als zwischen ihren Wohnsitzen sind die Unterschiede zwischen
den beiden Völkern selbst. Gemeinsame Charakterzüge existieren so gut wie
gar nicht, trotz aller Konstruktionen der Erfinder der "Line bel^e". Der Fläme
ist schwerfällig, unzugänglich für Menschen und neue Ideen; der Wallone lebhaft,
entgegenkommend, "rerum novarum cupiäus" wie seine gallischen Vorfahren
und Vettern.

Die Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit des Flamen äußert sich auf allen
Gebieten. Seine Menschenscheu steht in Wechselwirkung mit seiner Innerlichkeit,



*) Die belgischen landsässigen Deutschen (in der Provinz Luxemburg) kommen wegen
ihrer geringen, stets abnehmenden Zahl als dritte Nation kaum noch in Betracht.
Flamen und ZVallonen in Belgien

ludion erduldet und die Unannehmlichkeiten der protestantisch - holländischen Re¬
gierung gekostet — Unannehmlichkeiten, die freilich die Flamen ohne die
Agitation des flämischen Klerus wohl ertragen hätten! So fand sich 1830
zusammen, was von Natur nicht zusammengehörte, sondern nur durch die Er¬
eignisse einiger Jahrhunderte und durch den Willen zweier Großmächte, Frank¬
reich und England, zusammengebracht war.

Das neunzehnte Jahrhundert kennt in Europa kaum einen zweiten Staat,
dem ein solcher Dualismus^) zugrunde liegt wie dem belgischen. Nußland,
Österreich-Ungarn und die europäische Türkei (die vor 1878) umfassen zwar
größere und zahlreichere Verschiedenheiten in nationaler Hinsicht; doch in keinem
dieser Reiche kann man von einem so ausgeprägt nationalen Dualismus sprechen,
es sei denn, man täte den Dingen Gewalt an und stellte den neun Nationen
Österreichs (Deutschen, Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Italienern,
Ladinern, Slowenen, Serbokroaten) die sechs Nationen Ungarns (Ungarn,
Deutsche, Ruthenen, Rumänen, Slowaken, Serbokroaten) gegenüber, also den
Deutschen Österreichs die Deutschen Ungarns, den Rumänen die Rumänen, den
Serbokroaten die Serbokroaten usw. Eine weitere Beweisführung, daß Belgien
mit Österreich-Ungarn oder einem anderen der vielsprachigen osteuropäischen
Reiche nicht verglichen werden kann, ist wohl überflüssig. In Westeuropa
finden wir nur ein Gegenstück zu Belgien: die Schweiz oder, genau genommen,
die vier Kantone Wallis, Freiburg, Bern und Graubünden. Die politischen
und geographischen Verhältnisse dieser kleinen Gebirgsrepubliken sind aber so
eigenartig, daß sich ein Vergleich mit dem Königreich der Belgier kaum durch¬
führen ließe.

Hier liegen die beiden Sprachgebiete — anders als in der Schweiz —
einander geschlossen gegenüber. Die Sprachgrenze läuft vom Eintritt ins
belgische Gebiet an oft-westlich, überschneidet die französische Staatsgrenze, die
von Südosten nach Nordwesten verläuft und endet mit einer kleinen Biegung
nach Norden unweit Dünkirchen am Kanal. Nördlich dieser Linie bewohnen
die Flamen ein fast ebenes Land, südlich die Wallonen eine mehr hügelige
Landschaft. Eigentliche Sprachinseln gibt es — mit Ausnahme der französisch
sprechenden Stadtteile Brüssels — nicht.

Größer noch als zwischen ihren Wohnsitzen sind die Unterschiede zwischen
den beiden Völkern selbst. Gemeinsame Charakterzüge existieren so gut wie
gar nicht, trotz aller Konstruktionen der Erfinder der „Line bel^e". Der Fläme
ist schwerfällig, unzugänglich für Menschen und neue Ideen; der Wallone lebhaft,
entgegenkommend, „rerum novarum cupiäus" wie seine gallischen Vorfahren
und Vettern.

Die Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit des Flamen äußert sich auf allen
Gebieten. Seine Menschenscheu steht in Wechselwirkung mit seiner Innerlichkeit,



*) Die belgischen landsässigen Deutschen (in der Provinz Luxemburg) kommen wegen
ihrer geringen, stets abnehmenden Zahl als dritte Nation kaum noch in Betracht.
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[0564] Flamen und ZVallonen in Belgien ludion erduldet und die Unannehmlichkeiten der protestantisch - holländischen Re¬ gierung gekostet — Unannehmlichkeiten, die freilich die Flamen ohne die Agitation des flämischen Klerus wohl ertragen hätten! So fand sich 1830 zusammen, was von Natur nicht zusammengehörte, sondern nur durch die Er¬ eignisse einiger Jahrhunderte und durch den Willen zweier Großmächte, Frank¬ reich und England, zusammengebracht war. Das neunzehnte Jahrhundert kennt in Europa kaum einen zweiten Staat, dem ein solcher Dualismus^) zugrunde liegt wie dem belgischen. Nußland, Österreich-Ungarn und die europäische Türkei (die vor 1878) umfassen zwar größere und zahlreichere Verschiedenheiten in nationaler Hinsicht; doch in keinem dieser Reiche kann man von einem so ausgeprägt nationalen Dualismus sprechen, es sei denn, man täte den Dingen Gewalt an und stellte den neun Nationen Österreichs (Deutschen, Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Italienern, Ladinern, Slowenen, Serbokroaten) die sechs Nationen Ungarns (Ungarn, Deutsche, Ruthenen, Rumänen, Slowaken, Serbokroaten) gegenüber, also den Deutschen Österreichs die Deutschen Ungarns, den Rumänen die Rumänen, den Serbokroaten die Serbokroaten usw. Eine weitere Beweisführung, daß Belgien mit Österreich-Ungarn oder einem anderen der vielsprachigen osteuropäischen Reiche nicht verglichen werden kann, ist wohl überflüssig. In Westeuropa finden wir nur ein Gegenstück zu Belgien: die Schweiz oder, genau genommen, die vier Kantone Wallis, Freiburg, Bern und Graubünden. Die politischen und geographischen Verhältnisse dieser kleinen Gebirgsrepubliken sind aber so eigenartig, daß sich ein Vergleich mit dem Königreich der Belgier kaum durch¬ führen ließe. Hier liegen die beiden Sprachgebiete — anders als in der Schweiz — einander geschlossen gegenüber. Die Sprachgrenze läuft vom Eintritt ins belgische Gebiet an oft-westlich, überschneidet die französische Staatsgrenze, die von Südosten nach Nordwesten verläuft und endet mit einer kleinen Biegung nach Norden unweit Dünkirchen am Kanal. Nördlich dieser Linie bewohnen die Flamen ein fast ebenes Land, südlich die Wallonen eine mehr hügelige Landschaft. Eigentliche Sprachinseln gibt es — mit Ausnahme der französisch sprechenden Stadtteile Brüssels — nicht. Größer noch als zwischen ihren Wohnsitzen sind die Unterschiede zwischen den beiden Völkern selbst. Gemeinsame Charakterzüge existieren so gut wie gar nicht, trotz aller Konstruktionen der Erfinder der „Line bel^e". Der Fläme ist schwerfällig, unzugänglich für Menschen und neue Ideen; der Wallone lebhaft, entgegenkommend, „rerum novarum cupiäus" wie seine gallischen Vorfahren und Vettern. Die Unzugänglichkeit und Schwerfälligkeit des Flamen äußert sich auf allen Gebieten. Seine Menschenscheu steht in Wechselwirkung mit seiner Innerlichkeit, *) Die belgischen landsässigen Deutschen (in der Provinz Luxemburg) kommen wegen ihrer geringen, stets abnehmenden Zahl als dritte Nation kaum noch in Betracht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/564>, abgerufen am 27.07.2024.