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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Flamen und Wallonen in Belgien
Franz Fromme i von n

is im Jahre 1830 der belgische Staat gebildet wurde, kannten
manche seiner Angehörigen das Wort "Belgien" nicht. Flamen
und Wallonen fanden ihre Gemeinsamkeit zunächst nur in einer
Negation: in der Abneigung gegen die protestantische holländische
Regierung, der sie durch den Wiener Kongreß 1815 unterstellt
waren. Das Positive, das sie vereinigen sollte, mußte erst gefunden werden:
ein Vaterland Belgien, eine Nationalität der Belgier und ein Herrscherhaus
dazu. Und noch lange in die dreißiger, vierziger Jahre hinein gab es in
Flandern Leute, denen es nicht recht in den Schädel wollte, daß sie nun
Belgier hießen -- da sie doch selber schon vor der Existenz Belgiens vorhanden
gewesen waren. Sie waren noch in den "österreichischen Niederlanden" zur
Welt gekommen und sprachen niederländisch; wie sollten sie Verständnis haben
für ein Wort, das die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aus vergessener
keltischer Zeit wieder ins Leben gerufen hatte und das zur germanischen Rasse
und Kultur der flämischen Landsleute kaum noch in einer Beziehung stand.

Aber so künstlich der Begriff "Belgien" sein mag -- gemeinsame Tradition
und gemeinsamer Glaube sind zwei Faktoren, die selbst bei grundverschiedenen
Rassen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ergeben. Wohl stehen die ger¬
manischen Flamen -- und unter ihnen am meisten die Friesen von West¬
flandern -- auch heute, nach so viel Vorkommnissen von Nivellierung und Rassenver¬
mischung, noch im schroffsten Gegensatz zu den keltoromanischen Wallonen; aber
mehr als zwei Jahrhunderte lang*) haben die beiden Nationen unter den Habs¬
burgischen Dynastien und unter der katholischen Kirche gemeinsam gelebt, haben
gemeinsam die Überfälle der Franzosen ertragen und machtlos zusehen müssen,
wie ihr Lgnd zum Entscheidungsschlachtfelde Europas wurde (die Namen
Oudenaarde, Malplaouet, Neerwinden, Quarre Bras, Ligny und Waterloo tragen
wohl genug Erinnerungen), haben gemeinsam die Schrecken der großen Revo-



") Die geschlossene Gemeinsamkeit des Glaubens kann man Wohl erst von 1586/87
datieren, von der endgültigen Durchführung der Gegenreformation durch Alexander von
Parma; vorher waren die meisten flämischen Städte der neuen Lehre zugetan, während die
Wallonen der Mehrheit nach wahrscheinlich (Vertrag von Utrecht I) katholisch geblieben waren.


Flamen und Wallonen in Belgien
Franz Fromme i von n

is im Jahre 1830 der belgische Staat gebildet wurde, kannten
manche seiner Angehörigen das Wort „Belgien" nicht. Flamen
und Wallonen fanden ihre Gemeinsamkeit zunächst nur in einer
Negation: in der Abneigung gegen die protestantische holländische
Regierung, der sie durch den Wiener Kongreß 1815 unterstellt
waren. Das Positive, das sie vereinigen sollte, mußte erst gefunden werden:
ein Vaterland Belgien, eine Nationalität der Belgier und ein Herrscherhaus
dazu. Und noch lange in die dreißiger, vierziger Jahre hinein gab es in
Flandern Leute, denen es nicht recht in den Schädel wollte, daß sie nun
Belgier hießen — da sie doch selber schon vor der Existenz Belgiens vorhanden
gewesen waren. Sie waren noch in den „österreichischen Niederlanden" zur
Welt gekommen und sprachen niederländisch; wie sollten sie Verständnis haben
für ein Wort, das die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aus vergessener
keltischer Zeit wieder ins Leben gerufen hatte und das zur germanischen Rasse
und Kultur der flämischen Landsleute kaum noch in einer Beziehung stand.

Aber so künstlich der Begriff „Belgien" sein mag — gemeinsame Tradition
und gemeinsamer Glaube sind zwei Faktoren, die selbst bei grundverschiedenen
Rassen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ergeben. Wohl stehen die ger¬
manischen Flamen — und unter ihnen am meisten die Friesen von West¬
flandern — auch heute, nach so viel Vorkommnissen von Nivellierung und Rassenver¬
mischung, noch im schroffsten Gegensatz zu den keltoromanischen Wallonen; aber
mehr als zwei Jahrhunderte lang*) haben die beiden Nationen unter den Habs¬
burgischen Dynastien und unter der katholischen Kirche gemeinsam gelebt, haben
gemeinsam die Überfälle der Franzosen ertragen und machtlos zusehen müssen,
wie ihr Lgnd zum Entscheidungsschlachtfelde Europas wurde (die Namen
Oudenaarde, Malplaouet, Neerwinden, Quarre Bras, Ligny und Waterloo tragen
wohl genug Erinnerungen), haben gemeinsam die Schrecken der großen Revo-



") Die geschlossene Gemeinsamkeit des Glaubens kann man Wohl erst von 1586/87
datieren, von der endgültigen Durchführung der Gegenreformation durch Alexander von
Parma; vorher waren die meisten flämischen Städte der neuen Lehre zugetan, während die
Wallonen der Mehrheit nach wahrscheinlich (Vertrag von Utrecht I) katholisch geblieben waren.
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[0563] [Abbildung] Flamen und Wallonen in Belgien Franz Fromme i von n is im Jahre 1830 der belgische Staat gebildet wurde, kannten manche seiner Angehörigen das Wort „Belgien" nicht. Flamen und Wallonen fanden ihre Gemeinsamkeit zunächst nur in einer Negation: in der Abneigung gegen die protestantische holländische Regierung, der sie durch den Wiener Kongreß 1815 unterstellt waren. Das Positive, das sie vereinigen sollte, mußte erst gefunden werden: ein Vaterland Belgien, eine Nationalität der Belgier und ein Herrscherhaus dazu. Und noch lange in die dreißiger, vierziger Jahre hinein gab es in Flandern Leute, denen es nicht recht in den Schädel wollte, daß sie nun Belgier hießen — da sie doch selber schon vor der Existenz Belgiens vorhanden gewesen waren. Sie waren noch in den „österreichischen Niederlanden" zur Welt gekommen und sprachen niederländisch; wie sollten sie Verständnis haben für ein Wort, das die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aus vergessener keltischer Zeit wieder ins Leben gerufen hatte und das zur germanischen Rasse und Kultur der flämischen Landsleute kaum noch in einer Beziehung stand. Aber so künstlich der Begriff „Belgien" sein mag — gemeinsame Tradition und gemeinsamer Glaube sind zwei Faktoren, die selbst bei grundverschiedenen Rassen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ergeben. Wohl stehen die ger¬ manischen Flamen — und unter ihnen am meisten die Friesen von West¬ flandern — auch heute, nach so viel Vorkommnissen von Nivellierung und Rassenver¬ mischung, noch im schroffsten Gegensatz zu den keltoromanischen Wallonen; aber mehr als zwei Jahrhunderte lang*) haben die beiden Nationen unter den Habs¬ burgischen Dynastien und unter der katholischen Kirche gemeinsam gelebt, haben gemeinsam die Überfälle der Franzosen ertragen und machtlos zusehen müssen, wie ihr Lgnd zum Entscheidungsschlachtfelde Europas wurde (die Namen Oudenaarde, Malplaouet, Neerwinden, Quarre Bras, Ligny und Waterloo tragen wohl genug Erinnerungen), haben gemeinsam die Schrecken der großen Revo- ") Die geschlossene Gemeinsamkeit des Glaubens kann man Wohl erst von 1586/87 datieren, von der endgültigen Durchführung der Gegenreformation durch Alexander von Parma; vorher waren die meisten flämischen Städte der neuen Lehre zugetan, während die Wallonen der Mehrheit nach wahrscheinlich (Vertrag von Utrecht I) katholisch geblieben waren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/563>, abgerufen am 30.12.2024.