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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Giovanni Boccaccio

Was hilft's, nur grade zu genießen?
Die Freud' ist lange nicht so groß,
Als wenn ihr erst herauf, herum
Durch allerlei Brimborium,
Das Püppchen geknetet und zugericht't,
Wie's lehret manche welsche Geschicht'.

Neben der Obszönität mancher Erzählungen ist auch die ewig gleich gerichtete
Satire gegen Mönche, Pfaffen und Nonnen ermüdend. Die saftigsten schwanke
und pikantesten Streiche schiebt er, wohl um durch den Gegensatz von Beruf und
Handeln den Witz um so leichter zu lockern, gerade ihnen in die Schuhe. Aber
auch die anderen Stände weiß er zu treffen und im Grunde steht er mit seiner
Pritsche über allen und über allem: er schlägt und lacht und weiß zu allem
ein passendes Wort und schüttelt die Schale seines Witzes über Gerechte und
Ungerechte. "Hat Dante in der .vivina Lommeäm' den Ernst, so hat Boccaccio
den Scherz des Mittelalters in einer .LommscUa tiumAna' künstlerisch verklärt."

Nichts charakterisiert deutlicher die drei großen italienischen Dichter als die
Frauen, denen ihr Singen und Dichten gegolten. Beatrice, der göttliche Geist,
Laura, die unnahbare Jungfrau, und Fiammetta, der sinnenfrohe, liebende
Mensch.

In der literarischen Entwicklung ist der "Dekamerone" mehr als die Krone
der mittelalterlichen Schwankliteratur, er steht an der Spitze der modernen Er¬
zählungskunst. Mag man tadeln, daß Cicero für Boccaccios Prosa zu sehr das
Vorbild gewesen sei, daß seine Perioden zu lang und seine Sätze zu weitläufig
seien --, stets ist seine Sprache klar und rein und legt sich wie weißes, schmieg¬
sames Gewand' um die bunte jagende Fülle seiner Bilder und Gedanken. Und
bei aller Frische verbleibt ihr doch ein leiser Hauch von gewählter Distanz, die
es gerade ermöglicht, solch "unmögliche" Geschichten zu erzählen. Auf Boccaccios
Prosa stützt sich die gesamte weitere italienische, und nicht nur italienische, Prosa.
Er hat, und das ist sein größtes Verdienst, nach Friedrich Schlegels Worten
"die Erzählungssprache der Konversation zu einer soliden Grundlage sür die
Prosa des Romans erhoben".




34*
Giovanni Boccaccio

Was hilft's, nur grade zu genießen?
Die Freud' ist lange nicht so groß,
Als wenn ihr erst herauf, herum
Durch allerlei Brimborium,
Das Püppchen geknetet und zugericht't,
Wie's lehret manche welsche Geschicht'.

Neben der Obszönität mancher Erzählungen ist auch die ewig gleich gerichtete
Satire gegen Mönche, Pfaffen und Nonnen ermüdend. Die saftigsten schwanke
und pikantesten Streiche schiebt er, wohl um durch den Gegensatz von Beruf und
Handeln den Witz um so leichter zu lockern, gerade ihnen in die Schuhe. Aber
auch die anderen Stände weiß er zu treffen und im Grunde steht er mit seiner
Pritsche über allen und über allem: er schlägt und lacht und weiß zu allem
ein passendes Wort und schüttelt die Schale seines Witzes über Gerechte und
Ungerechte. „Hat Dante in der .vivina Lommeäm' den Ernst, so hat Boccaccio
den Scherz des Mittelalters in einer .LommscUa tiumAna' künstlerisch verklärt."

Nichts charakterisiert deutlicher die drei großen italienischen Dichter als die
Frauen, denen ihr Singen und Dichten gegolten. Beatrice, der göttliche Geist,
Laura, die unnahbare Jungfrau, und Fiammetta, der sinnenfrohe, liebende
Mensch.

In der literarischen Entwicklung ist der „Dekamerone" mehr als die Krone
der mittelalterlichen Schwankliteratur, er steht an der Spitze der modernen Er¬
zählungskunst. Mag man tadeln, daß Cicero für Boccaccios Prosa zu sehr das
Vorbild gewesen sei, daß seine Perioden zu lang und seine Sätze zu weitläufig
seien —, stets ist seine Sprache klar und rein und legt sich wie weißes, schmieg¬
sames Gewand' um die bunte jagende Fülle seiner Bilder und Gedanken. Und
bei aller Frische verbleibt ihr doch ein leiser Hauch von gewählter Distanz, die
es gerade ermöglicht, solch „unmögliche" Geschichten zu erzählen. Auf Boccaccios
Prosa stützt sich die gesamte weitere italienische, und nicht nur italienische, Prosa.
Er hat, und das ist sein größtes Verdienst, nach Friedrich Schlegels Worten
„die Erzählungssprache der Konversation zu einer soliden Grundlage sür die
Prosa des Romans erhoben".




34*
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[0535] Giovanni Boccaccio Was hilft's, nur grade zu genießen? Die Freud' ist lange nicht so groß, Als wenn ihr erst herauf, herum Durch allerlei Brimborium, Das Püppchen geknetet und zugericht't, Wie's lehret manche welsche Geschicht'. Neben der Obszönität mancher Erzählungen ist auch die ewig gleich gerichtete Satire gegen Mönche, Pfaffen und Nonnen ermüdend. Die saftigsten schwanke und pikantesten Streiche schiebt er, wohl um durch den Gegensatz von Beruf und Handeln den Witz um so leichter zu lockern, gerade ihnen in die Schuhe. Aber auch die anderen Stände weiß er zu treffen und im Grunde steht er mit seiner Pritsche über allen und über allem: er schlägt und lacht und weiß zu allem ein passendes Wort und schüttelt die Schale seines Witzes über Gerechte und Ungerechte. „Hat Dante in der .vivina Lommeäm' den Ernst, so hat Boccaccio den Scherz des Mittelalters in einer .LommscUa tiumAna' künstlerisch verklärt." Nichts charakterisiert deutlicher die drei großen italienischen Dichter als die Frauen, denen ihr Singen und Dichten gegolten. Beatrice, der göttliche Geist, Laura, die unnahbare Jungfrau, und Fiammetta, der sinnenfrohe, liebende Mensch. In der literarischen Entwicklung ist der „Dekamerone" mehr als die Krone der mittelalterlichen Schwankliteratur, er steht an der Spitze der modernen Er¬ zählungskunst. Mag man tadeln, daß Cicero für Boccaccios Prosa zu sehr das Vorbild gewesen sei, daß seine Perioden zu lang und seine Sätze zu weitläufig seien —, stets ist seine Sprache klar und rein und legt sich wie weißes, schmieg¬ sames Gewand' um die bunte jagende Fülle seiner Bilder und Gedanken. Und bei aller Frische verbleibt ihr doch ein leiser Hauch von gewählter Distanz, die es gerade ermöglicht, solch „unmögliche" Geschichten zu erzählen. Auf Boccaccios Prosa stützt sich die gesamte weitere italienische, und nicht nur italienische, Prosa. Er hat, und das ist sein größtes Verdienst, nach Friedrich Schlegels Worten „die Erzählungssprache der Konversation zu einer soliden Grundlage sür die Prosa des Romans erhoben". 34*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/535>, abgerufen am 27.07.2024.