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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Giovanni Boccaccio

Er ist dabei unzweifelhaft ein Schüler Frankreichs, das einen großen Teil
dieses alten Erzählungsgutes in Fnbliaux und Legenden bereits gestaltet hatte.
Der Zufall will es, daß Boccaccio von Geburt Franzose ist, Pariser. Sein
Vater, ein nicht zu begüterter, ebenso lebenskluger wie lebengenießender, ja
leichtfertiger Mensch, war im Städtchen Certaldo geboren. Bankbeamter in
Florenz, wurde er bereits in jungen Jahren nach Paris als Leiter einer Filiale
geschickt. I^Ä Aals scienLö -- wie später die Franzosen das Lebenswerk seines
Sohnes zu nennen pflegten -- nahm ihn dort lebhaft in Anspruch. Unter der
Vorspiegelung, ein nobili zu sein, begann er ein Verhältnis mit einer vor¬
nehmen, jungen Witwe, die er aber verließ, als sie ihm 1313 einen Knaben
schenkte, den später berühmten Giovanni. Wie lange der Kleine Pariser Luft
atmete, wissen wir nicht, jedenfalls kam er erst nach dem Tode seiner Mutter
zum Vater nach Florenz. Er wurde Kaufmann wie dieser, hielt es sechs Jahre
lang als Geldwechsler aus und sattelte dann mit zwanzig Jahren zum Studium
des Rechtes um; oder dessen, was er darunter verstand. Das üppige Neapel
nahm seine Sinne gefangen, in der Ostermesse 1334 verlor er sein Herz an
eine schöne junge Edelfrau, an Donna Maria, die er dann als Fiammetta
poetisch verherrlicht hat. Und als ob eine seiner Dekameronegeschichten ins
Leben gesprungen wäre: Donna Maria liebte ihn wieder. Donna Maria
d'Aquino, die eine Tochter König Roberts von Neapel war, ihn, den entlaufener
Kaufmannslehrling und kleinen Studenten des Rechts. Und nun begann eine
Zeit reichen künstlerischen Schaffens. In Strophen und Stanzen besingt er seine
Geliebte, in Hirtendichtungen, deren vielfach reizende bukolische Form auto¬
biographischen Inhalt hat, umschwärmt er sie und trägt ihr Bild in die Natur.
Damals entsteht der Filocolo, die entzückend poetische Geschichte von Flore und
Blanchefleur mit Szenen aus dem Minnehof der Fiammetta, damals in
Ottcwerimen Filostrato, die alte Geschichte von der Liebe des Troilus zu Briseis,
der Tochter des Kalchas.

Aus dem Kaufmann war ein Dichter geworden, der Jurist wandelte sich
zum gelehrten Philologen. Boccaccio studierte mit Eifer die alten Klassiker und
eignete sich die Kenntnis des Griechischen an. Wenn er in Florenz weilte, zog
es ihn doch immer wieder nach Neapel, bis Maria d'Aquino, die übrigens
längst ihren Liebhaber gewechselt hatte, 1346 an der Pest verstarb. 1348 kehrte
Boccaccio dann, nach dem Tode seines Vaters, der ihm ein größeres Vermögen
hinterlassen hatte, als er erwarten durfte, endgültig nach Florenz zurück. Fünf
Jahre lang arbeitete er nun (1348 bis 1353) an seinem "Dekamerone". All die
Lust und den Leichtsinn seiner Jugendjahre wob er hinein in dieses klassische Werk,
um dann ernster und ernster werdend sich immer mehr der reinen Wissenschaft
zu widmen. Letzte böse Liebeshandel verschulden (1355) den "Corbaccio", in
dem sich der einstige Liebling der Frauen bitter an einer einzigen rächt: ein
damals viel belachtes, sarkastisch-witziges, unfeines Buch. Und dann drängt sich
die Wissenschaft immer weiter in den Vordergrund. Homer interessierte ihn vor


Giovanni Boccaccio

Er ist dabei unzweifelhaft ein Schüler Frankreichs, das einen großen Teil
dieses alten Erzählungsgutes in Fnbliaux und Legenden bereits gestaltet hatte.
Der Zufall will es, daß Boccaccio von Geburt Franzose ist, Pariser. Sein
Vater, ein nicht zu begüterter, ebenso lebenskluger wie lebengenießender, ja
leichtfertiger Mensch, war im Städtchen Certaldo geboren. Bankbeamter in
Florenz, wurde er bereits in jungen Jahren nach Paris als Leiter einer Filiale
geschickt. I^Ä Aals scienLö — wie später die Franzosen das Lebenswerk seines
Sohnes zu nennen pflegten — nahm ihn dort lebhaft in Anspruch. Unter der
Vorspiegelung, ein nobili zu sein, begann er ein Verhältnis mit einer vor¬
nehmen, jungen Witwe, die er aber verließ, als sie ihm 1313 einen Knaben
schenkte, den später berühmten Giovanni. Wie lange der Kleine Pariser Luft
atmete, wissen wir nicht, jedenfalls kam er erst nach dem Tode seiner Mutter
zum Vater nach Florenz. Er wurde Kaufmann wie dieser, hielt es sechs Jahre
lang als Geldwechsler aus und sattelte dann mit zwanzig Jahren zum Studium
des Rechtes um; oder dessen, was er darunter verstand. Das üppige Neapel
nahm seine Sinne gefangen, in der Ostermesse 1334 verlor er sein Herz an
eine schöne junge Edelfrau, an Donna Maria, die er dann als Fiammetta
poetisch verherrlicht hat. Und als ob eine seiner Dekameronegeschichten ins
Leben gesprungen wäre: Donna Maria liebte ihn wieder. Donna Maria
d'Aquino, die eine Tochter König Roberts von Neapel war, ihn, den entlaufener
Kaufmannslehrling und kleinen Studenten des Rechts. Und nun begann eine
Zeit reichen künstlerischen Schaffens. In Strophen und Stanzen besingt er seine
Geliebte, in Hirtendichtungen, deren vielfach reizende bukolische Form auto¬
biographischen Inhalt hat, umschwärmt er sie und trägt ihr Bild in die Natur.
Damals entsteht der Filocolo, die entzückend poetische Geschichte von Flore und
Blanchefleur mit Szenen aus dem Minnehof der Fiammetta, damals in
Ottcwerimen Filostrato, die alte Geschichte von der Liebe des Troilus zu Briseis,
der Tochter des Kalchas.

Aus dem Kaufmann war ein Dichter geworden, der Jurist wandelte sich
zum gelehrten Philologen. Boccaccio studierte mit Eifer die alten Klassiker und
eignete sich die Kenntnis des Griechischen an. Wenn er in Florenz weilte, zog
es ihn doch immer wieder nach Neapel, bis Maria d'Aquino, die übrigens
längst ihren Liebhaber gewechselt hatte, 1346 an der Pest verstarb. 1348 kehrte
Boccaccio dann, nach dem Tode seines Vaters, der ihm ein größeres Vermögen
hinterlassen hatte, als er erwarten durfte, endgültig nach Florenz zurück. Fünf
Jahre lang arbeitete er nun (1348 bis 1353) an seinem „Dekamerone". All die
Lust und den Leichtsinn seiner Jugendjahre wob er hinein in dieses klassische Werk,
um dann ernster und ernster werdend sich immer mehr der reinen Wissenschaft
zu widmen. Letzte böse Liebeshandel verschulden (1355) den „Corbaccio", in
dem sich der einstige Liebling der Frauen bitter an einer einzigen rächt: ein
damals viel belachtes, sarkastisch-witziges, unfeines Buch. Und dann drängt sich
die Wissenschaft immer weiter in den Vordergrund. Homer interessierte ihn vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/532>, abgerufen am 01.09.2024.