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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Kunst" des Lichtspieltheaters

Martyrien, Stierkämpfe, explodierende oder einen Abhang herunterstürzende
Kraftwagen und was dergleichen schöne Dinge mehr sind, die auch ohne
Worte, rein durch das Geschehnis als solches erschreckend, ängstigend und
schaudererregend wirken. Und nachdem man sich das alles und die Art der
Vorführung recht lebhaft vergegenwärtigt hat, frage man sich, ob das über¬
haupt noch als Kunst bezeichnet werden kann! Ich glaube, wenn man durch
Zusammentragen lauter unkünstlerischer Elemente zeigen wollte, was nicht
Kunst ist, so könnte man nichts besseres tun, als einfach ein solches Lichtspiel¬
drama nennen!

Man stelle sich nur, um den Unterschied zwischen Kunst und Unkunst zu
verstehen, vor, wie etwa ein Dichter den Selbstmord schildern würde und wie er
im Kino dargestellt wird. Der Dichter motiviert den furchtbaren Entschluß des
Helden, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu machen, in psychologischer Weise.
Er zeigt, wie er ganz allmählich, durch die Macht der Ereignisse, durch seine
eigene innere Entwicklung zu dem letzten Schritte gedrängt wird. Dadurch
erhält die tragische Handlung etwas, ich will nicht sagen Versöhnendes, aber doch
wenigstens Verständliches. Man sieht, daß es nur ganz besonders schwere Er¬
eignisse, geradezu unentrinnbare Schicksale sind, die dazu führen konnten, und das
allein ist es eben, was den Anblick solcher Ereignisse auf der Bühne erträglich
macht. Der Dichter kann so etwas allmählich vorbereiten, psychologisch be¬
gründen, als notwendig erscheinen lassen, weil er das Wort als Kunstmittel
zur Verfügung hat, und mit dem Worte den Gedanken, den Gefühlsausdruck,
den Zweifel, die Abwägung des Für und Wider. Gerade das ist aber bei
einem Drama die Kunst.

Wo bleibt diese nun im Kino? Ihm ist das Wort versagt. Er greift
folglich aus der ganzen Reihe von Handlungen, die erst in ihrer Gesamtheit
die Handlung ausmachen, nur die äußerlichen Bewegungsvorgänge heraus. Für
ihn ist der Selbstmord identisch mit dem Zucker eines Dolches oder dem Los¬
drücken eines Revolvers. Wir sehen das mit an, so wie wir es im Leben mit
ansehen würden, d. h. von Angst und Schrecken erfüllt, ganz niedergeschmettert
von dem Unglück, das wir nicht verhindern können. Ich brauche nach dem
Gesagten nicht zu betonen, daß so etwas das reine Gegenteil von künstlerischer
Wirkung ist.

Daraus erklärt es sich nun auch, daß die Kritiker des Kinematographen
fast einstimmig der Überzeugung sind, daß viele dieser Dramen eine verrohende
zum Verbrechen anreizende Wirkung ausüben, daß insbesondere Kinder durch
den fortwährenden Anblick von Verbrechen, die noch dazu als etwas ganz Ge¬
wöhnliches und Alltägliches erscheinen, selbst auf den Weg des Verbrechens
gedrängt werden. Hellwig freilich möchte das bezweifeln oder jedenfalls die
Beweise, die dafür vorliegen, in ihrer Tragweite abschwächen: ebenfalls ein
sehr bedauerliches Bemühen und eine durchaus irreführende Kritik. Die Tat-
sachen, die hier vorliegen, reden wahrlich eine deutliche Sprache. Es ist auch


Die „Kunst" des Lichtspieltheaters

Martyrien, Stierkämpfe, explodierende oder einen Abhang herunterstürzende
Kraftwagen und was dergleichen schöne Dinge mehr sind, die auch ohne
Worte, rein durch das Geschehnis als solches erschreckend, ängstigend und
schaudererregend wirken. Und nachdem man sich das alles und die Art der
Vorführung recht lebhaft vergegenwärtigt hat, frage man sich, ob das über¬
haupt noch als Kunst bezeichnet werden kann! Ich glaube, wenn man durch
Zusammentragen lauter unkünstlerischer Elemente zeigen wollte, was nicht
Kunst ist, so könnte man nichts besseres tun, als einfach ein solches Lichtspiel¬
drama nennen!

Man stelle sich nur, um den Unterschied zwischen Kunst und Unkunst zu
verstehen, vor, wie etwa ein Dichter den Selbstmord schildern würde und wie er
im Kino dargestellt wird. Der Dichter motiviert den furchtbaren Entschluß des
Helden, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu machen, in psychologischer Weise.
Er zeigt, wie er ganz allmählich, durch die Macht der Ereignisse, durch seine
eigene innere Entwicklung zu dem letzten Schritte gedrängt wird. Dadurch
erhält die tragische Handlung etwas, ich will nicht sagen Versöhnendes, aber doch
wenigstens Verständliches. Man sieht, daß es nur ganz besonders schwere Er¬
eignisse, geradezu unentrinnbare Schicksale sind, die dazu führen konnten, und das
allein ist es eben, was den Anblick solcher Ereignisse auf der Bühne erträglich
macht. Der Dichter kann so etwas allmählich vorbereiten, psychologisch be¬
gründen, als notwendig erscheinen lassen, weil er das Wort als Kunstmittel
zur Verfügung hat, und mit dem Worte den Gedanken, den Gefühlsausdruck,
den Zweifel, die Abwägung des Für und Wider. Gerade das ist aber bei
einem Drama die Kunst.

Wo bleibt diese nun im Kino? Ihm ist das Wort versagt. Er greift
folglich aus der ganzen Reihe von Handlungen, die erst in ihrer Gesamtheit
die Handlung ausmachen, nur die äußerlichen Bewegungsvorgänge heraus. Für
ihn ist der Selbstmord identisch mit dem Zucker eines Dolches oder dem Los¬
drücken eines Revolvers. Wir sehen das mit an, so wie wir es im Leben mit
ansehen würden, d. h. von Angst und Schrecken erfüllt, ganz niedergeschmettert
von dem Unglück, das wir nicht verhindern können. Ich brauche nach dem
Gesagten nicht zu betonen, daß so etwas das reine Gegenteil von künstlerischer
Wirkung ist.

Daraus erklärt es sich nun auch, daß die Kritiker des Kinematographen
fast einstimmig der Überzeugung sind, daß viele dieser Dramen eine verrohende
zum Verbrechen anreizende Wirkung ausüben, daß insbesondere Kinder durch
den fortwährenden Anblick von Verbrechen, die noch dazu als etwas ganz Ge¬
wöhnliches und Alltägliches erscheinen, selbst auf den Weg des Verbrechens
gedrängt werden. Hellwig freilich möchte das bezweifeln oder jedenfalls die
Beweise, die dafür vorliegen, in ihrer Tragweite abschwächen: ebenfalls ein
sehr bedauerliches Bemühen und eine durchaus irreführende Kritik. Die Tat-
sachen, die hier vorliegen, reden wahrlich eine deutliche Sprache. Es ist auch


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[0527] Die „Kunst" des Lichtspieltheaters Martyrien, Stierkämpfe, explodierende oder einen Abhang herunterstürzende Kraftwagen und was dergleichen schöne Dinge mehr sind, die auch ohne Worte, rein durch das Geschehnis als solches erschreckend, ängstigend und schaudererregend wirken. Und nachdem man sich das alles und die Art der Vorführung recht lebhaft vergegenwärtigt hat, frage man sich, ob das über¬ haupt noch als Kunst bezeichnet werden kann! Ich glaube, wenn man durch Zusammentragen lauter unkünstlerischer Elemente zeigen wollte, was nicht Kunst ist, so könnte man nichts besseres tun, als einfach ein solches Lichtspiel¬ drama nennen! Man stelle sich nur, um den Unterschied zwischen Kunst und Unkunst zu verstehen, vor, wie etwa ein Dichter den Selbstmord schildern würde und wie er im Kino dargestellt wird. Der Dichter motiviert den furchtbaren Entschluß des Helden, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu machen, in psychologischer Weise. Er zeigt, wie er ganz allmählich, durch die Macht der Ereignisse, durch seine eigene innere Entwicklung zu dem letzten Schritte gedrängt wird. Dadurch erhält die tragische Handlung etwas, ich will nicht sagen Versöhnendes, aber doch wenigstens Verständliches. Man sieht, daß es nur ganz besonders schwere Er¬ eignisse, geradezu unentrinnbare Schicksale sind, die dazu führen konnten, und das allein ist es eben, was den Anblick solcher Ereignisse auf der Bühne erträglich macht. Der Dichter kann so etwas allmählich vorbereiten, psychologisch be¬ gründen, als notwendig erscheinen lassen, weil er das Wort als Kunstmittel zur Verfügung hat, und mit dem Worte den Gedanken, den Gefühlsausdruck, den Zweifel, die Abwägung des Für und Wider. Gerade das ist aber bei einem Drama die Kunst. Wo bleibt diese nun im Kino? Ihm ist das Wort versagt. Er greift folglich aus der ganzen Reihe von Handlungen, die erst in ihrer Gesamtheit die Handlung ausmachen, nur die äußerlichen Bewegungsvorgänge heraus. Für ihn ist der Selbstmord identisch mit dem Zucker eines Dolches oder dem Los¬ drücken eines Revolvers. Wir sehen das mit an, so wie wir es im Leben mit ansehen würden, d. h. von Angst und Schrecken erfüllt, ganz niedergeschmettert von dem Unglück, das wir nicht verhindern können. Ich brauche nach dem Gesagten nicht zu betonen, daß so etwas das reine Gegenteil von künstlerischer Wirkung ist. Daraus erklärt es sich nun auch, daß die Kritiker des Kinematographen fast einstimmig der Überzeugung sind, daß viele dieser Dramen eine verrohende zum Verbrechen anreizende Wirkung ausüben, daß insbesondere Kinder durch den fortwährenden Anblick von Verbrechen, die noch dazu als etwas ganz Ge¬ wöhnliches und Alltägliches erscheinen, selbst auf den Weg des Verbrechens gedrängt werden. Hellwig freilich möchte das bezweifeln oder jedenfalls die Beweise, die dafür vorliegen, in ihrer Tragweite abschwächen: ebenfalls ein sehr bedauerliches Bemühen und eine durchaus irreführende Kritik. Die Tat- sachen, die hier vorliegen, reden wahrlich eine deutliche Sprache. Es ist auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/527>, abgerufen am 28.07.2024.