Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Adolf Matthias und das höhere Schulwesen

Es kann nicht anders sein, als daß ein Mann von solcher Seelenverfassung
für Freiheit in der Erziehung und als Ziel der Erziehung eintritt und daß
sein freudiger Optimismus sich vor allem der Jugend gegenüber betätigt.
"Bildung selbständiger und freier Charaktere," so lautet die Überschrift des
letzten und für die allgemeine Seite des Buches wichtigsten Kapitels. Auf
Willenserziehung und Charakterbildung legt auch Matthias das Hauptgewicht,
ein stärkeres als auf alles Wissen und intellektuelle Können. Dieser Zug vor
allem verbindet ihn mit den pädagogischen Führern unserer Zeit, mit Männern,
die, von anderen Ausgangspunkten ausgehend und nach anderen Seiten des
Volksbildungswesens orientiert, zu der gleichen Forderung gekommen sind: wie
G. Kerschensteiner und Fr. W. Förster. Und hier trübt ihm auch sein natür¬
licher Optimismus und die Liebe zur Jugend nicht das Urteil über die Tat¬
sachen. Mit scharfer Kritik erkennt er die Mängel unseres heutigen Erziehungs¬
wesens, ihren Ursprung im Charakter des jetzigen Geschlechts und ihre ver¬
hängnisvollen Folgen für die künftige Generation. "Daß wir in Deutschland
in unserer Zeit viel feste Charaktere, viel starken Willen, viel Zielbewußtsein in
unseren sogenannten .besseren Kreisen' hätten, wird selbst der kühnste Optimist
nicht behaupten können. Freiheit von den äußerlichen Werten des Lebens,
Einheit und Geschlossenheit des ganzen Denkens und Wollens, Widerstandskraft
gegen Schwäche und Weichlichkeit der Gesinnung ist verhältnismäßig wenig vor¬
handen. Es fehlt den führenden Ständen im geistigen und im politischen
Leben an Freiheits- und Selbstgefühl und an dem Maße von Selbstverant-
wortung, das wir von jedem Führer im Leben verlangen müssen." Und daher
geht denn auch "der Charakter unserer Jugend, das Hinarbeiten aus männ¬
liches Selbstgefühl und männliche zielbewußte Tatkraft, lediglich um der Sache
willen, vielfach in die Brüche. Wir erziehen in unseren Schulen wohl ein mehr
oder weniger kenntnisreiches, pslichtgetreues und gehorsames Geschlecht; aber
dieses Geschlecht ist nicht selten gedrückt, mißmutig, seines Lebens und seiner
Arbeit nicht recht froh, es ist zu abhängig von äußerem Lernzwang und zu
sehr gebunden durch des Gesetzes strenge Fessel." Eben deshalb verlangt
Matthias in erster Reihe Erziehung zu Freiheit und Selbstgefühl. "Die Schule
muß die falsche Meinung aufgeben, als ob Zucht und Freiheit, Disziplin und
Menschenwürde, Gehorsam und Selbstgefühl Widersprüche seien." Aber in dieser
Begründung schon spricht sich zugleich der starke Abstand aus, der ihn von
den pädagogischen Schwarmgeistern unserer Zeit trennt. Die Freiheit, die er
verlangt, ist nichts weniger als die Anarchie, welche jene anstreben; und die Ver¬
urteilung, die er ausspricht, entspringt keiner unkritischen und ungerechten
Gegnerschaft. Er ist ebensoweit davon entfernt, die Schuld an den Mängeln
der deutschen Erziehung, die unsere ganze Nation oder doch ihre führenden
Klassen in ihrer Gesamtheit tragen, dem Geiste der Lehrerschaft und dem Zu¬
stande der Schulen allein zuzuschreiben, wie davon, das Große und Gute, das
die bisherige Entwicklung gebracht und gefördert hat, zu verkennen. Davor


Adolf Matthias und das höhere Schulwesen

Es kann nicht anders sein, als daß ein Mann von solcher Seelenverfassung
für Freiheit in der Erziehung und als Ziel der Erziehung eintritt und daß
sein freudiger Optimismus sich vor allem der Jugend gegenüber betätigt.
„Bildung selbständiger und freier Charaktere," so lautet die Überschrift des
letzten und für die allgemeine Seite des Buches wichtigsten Kapitels. Auf
Willenserziehung und Charakterbildung legt auch Matthias das Hauptgewicht,
ein stärkeres als auf alles Wissen und intellektuelle Können. Dieser Zug vor
allem verbindet ihn mit den pädagogischen Führern unserer Zeit, mit Männern,
die, von anderen Ausgangspunkten ausgehend und nach anderen Seiten des
Volksbildungswesens orientiert, zu der gleichen Forderung gekommen sind: wie
G. Kerschensteiner und Fr. W. Förster. Und hier trübt ihm auch sein natür¬
licher Optimismus und die Liebe zur Jugend nicht das Urteil über die Tat¬
sachen. Mit scharfer Kritik erkennt er die Mängel unseres heutigen Erziehungs¬
wesens, ihren Ursprung im Charakter des jetzigen Geschlechts und ihre ver¬
hängnisvollen Folgen für die künftige Generation. „Daß wir in Deutschland
in unserer Zeit viel feste Charaktere, viel starken Willen, viel Zielbewußtsein in
unseren sogenannten .besseren Kreisen' hätten, wird selbst der kühnste Optimist
nicht behaupten können. Freiheit von den äußerlichen Werten des Lebens,
Einheit und Geschlossenheit des ganzen Denkens und Wollens, Widerstandskraft
gegen Schwäche und Weichlichkeit der Gesinnung ist verhältnismäßig wenig vor¬
handen. Es fehlt den führenden Ständen im geistigen und im politischen
Leben an Freiheits- und Selbstgefühl und an dem Maße von Selbstverant-
wortung, das wir von jedem Führer im Leben verlangen müssen." Und daher
geht denn auch „der Charakter unserer Jugend, das Hinarbeiten aus männ¬
liches Selbstgefühl und männliche zielbewußte Tatkraft, lediglich um der Sache
willen, vielfach in die Brüche. Wir erziehen in unseren Schulen wohl ein mehr
oder weniger kenntnisreiches, pslichtgetreues und gehorsames Geschlecht; aber
dieses Geschlecht ist nicht selten gedrückt, mißmutig, seines Lebens und seiner
Arbeit nicht recht froh, es ist zu abhängig von äußerem Lernzwang und zu
sehr gebunden durch des Gesetzes strenge Fessel." Eben deshalb verlangt
Matthias in erster Reihe Erziehung zu Freiheit und Selbstgefühl. „Die Schule
muß die falsche Meinung aufgeben, als ob Zucht und Freiheit, Disziplin und
Menschenwürde, Gehorsam und Selbstgefühl Widersprüche seien." Aber in dieser
Begründung schon spricht sich zugleich der starke Abstand aus, der ihn von
den pädagogischen Schwarmgeistern unserer Zeit trennt. Die Freiheit, die er
verlangt, ist nichts weniger als die Anarchie, welche jene anstreben; und die Ver¬
urteilung, die er ausspricht, entspringt keiner unkritischen und ungerechten
Gegnerschaft. Er ist ebensoweit davon entfernt, die Schuld an den Mängeln
der deutschen Erziehung, die unsere ganze Nation oder doch ihre führenden
Klassen in ihrer Gesamtheit tragen, dem Geiste der Lehrerschaft und dem Zu¬
stande der Schulen allein zuzuschreiben, wie davon, das Große und Gute, das
die bisherige Entwicklung gebracht und gefördert hat, zu verkennen. Davor


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0516" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326036"/>
          <fw type="header" place="top"> Adolf Matthias und das höhere Schulwesen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2378" next="#ID_2379"> Es kann nicht anders sein, als daß ein Mann von solcher Seelenverfassung<lb/>
für Freiheit in der Erziehung und als Ziel der Erziehung eintritt und daß<lb/>
sein freudiger Optimismus sich vor allem der Jugend gegenüber betätigt.<lb/>
&#x201E;Bildung selbständiger und freier Charaktere," so lautet die Überschrift des<lb/>
letzten und für die allgemeine Seite des Buches wichtigsten Kapitels. Auf<lb/>
Willenserziehung und Charakterbildung legt auch Matthias das Hauptgewicht,<lb/>
ein stärkeres als auf alles Wissen und intellektuelle Können. Dieser Zug vor<lb/>
allem verbindet ihn mit den pädagogischen Führern unserer Zeit, mit Männern,<lb/>
die, von anderen Ausgangspunkten ausgehend und nach anderen Seiten des<lb/>
Volksbildungswesens orientiert, zu der gleichen Forderung gekommen sind: wie<lb/>
G. Kerschensteiner und Fr. W. Förster. Und hier trübt ihm auch sein natür¬<lb/>
licher Optimismus und die Liebe zur Jugend nicht das Urteil über die Tat¬<lb/>
sachen. Mit scharfer Kritik erkennt er die Mängel unseres heutigen Erziehungs¬<lb/>
wesens, ihren Ursprung im Charakter des jetzigen Geschlechts und ihre ver¬<lb/>
hängnisvollen Folgen für die künftige Generation. &#x201E;Daß wir in Deutschland<lb/>
in unserer Zeit viel feste Charaktere, viel starken Willen, viel Zielbewußtsein in<lb/>
unseren sogenannten .besseren Kreisen' hätten, wird selbst der kühnste Optimist<lb/>
nicht behaupten können. Freiheit von den äußerlichen Werten des Lebens,<lb/>
Einheit und Geschlossenheit des ganzen Denkens und Wollens, Widerstandskraft<lb/>
gegen Schwäche und Weichlichkeit der Gesinnung ist verhältnismäßig wenig vor¬<lb/>
handen. Es fehlt den führenden Ständen im geistigen und im politischen<lb/>
Leben an Freiheits- und Selbstgefühl und an dem Maße von Selbstverant-<lb/>
wortung, das wir von jedem Führer im Leben verlangen müssen." Und daher<lb/>
geht denn auch &#x201E;der Charakter unserer Jugend, das Hinarbeiten aus männ¬<lb/>
liches Selbstgefühl und männliche zielbewußte Tatkraft, lediglich um der Sache<lb/>
willen, vielfach in die Brüche. Wir erziehen in unseren Schulen wohl ein mehr<lb/>
oder weniger kenntnisreiches, pslichtgetreues und gehorsames Geschlecht; aber<lb/>
dieses Geschlecht ist nicht selten gedrückt, mißmutig, seines Lebens und seiner<lb/>
Arbeit nicht recht froh, es ist zu abhängig von äußerem Lernzwang und zu<lb/>
sehr gebunden durch des Gesetzes strenge Fessel." Eben deshalb verlangt<lb/>
Matthias in erster Reihe Erziehung zu Freiheit und Selbstgefühl. &#x201E;Die Schule<lb/>
muß die falsche Meinung aufgeben, als ob Zucht und Freiheit, Disziplin und<lb/>
Menschenwürde, Gehorsam und Selbstgefühl Widersprüche seien." Aber in dieser<lb/>
Begründung schon spricht sich zugleich der starke Abstand aus, der ihn von<lb/>
den pädagogischen Schwarmgeistern unserer Zeit trennt. Die Freiheit, die er<lb/>
verlangt, ist nichts weniger als die Anarchie, welche jene anstreben; und die Ver¬<lb/>
urteilung, die er ausspricht, entspringt keiner unkritischen und ungerechten<lb/>
Gegnerschaft. Er ist ebensoweit davon entfernt, die Schuld an den Mängeln<lb/>
der deutschen Erziehung, die unsere ganze Nation oder doch ihre führenden<lb/>
Klassen in ihrer Gesamtheit tragen, dem Geiste der Lehrerschaft und dem Zu¬<lb/>
stande der Schulen allein zuzuschreiben, wie davon, das Große und Gute, das<lb/>
die bisherige Entwicklung gebracht und gefördert hat, zu verkennen. Davor</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0516] Adolf Matthias und das höhere Schulwesen Es kann nicht anders sein, als daß ein Mann von solcher Seelenverfassung für Freiheit in der Erziehung und als Ziel der Erziehung eintritt und daß sein freudiger Optimismus sich vor allem der Jugend gegenüber betätigt. „Bildung selbständiger und freier Charaktere," so lautet die Überschrift des letzten und für die allgemeine Seite des Buches wichtigsten Kapitels. Auf Willenserziehung und Charakterbildung legt auch Matthias das Hauptgewicht, ein stärkeres als auf alles Wissen und intellektuelle Können. Dieser Zug vor allem verbindet ihn mit den pädagogischen Führern unserer Zeit, mit Männern, die, von anderen Ausgangspunkten ausgehend und nach anderen Seiten des Volksbildungswesens orientiert, zu der gleichen Forderung gekommen sind: wie G. Kerschensteiner und Fr. W. Förster. Und hier trübt ihm auch sein natür¬ licher Optimismus und die Liebe zur Jugend nicht das Urteil über die Tat¬ sachen. Mit scharfer Kritik erkennt er die Mängel unseres heutigen Erziehungs¬ wesens, ihren Ursprung im Charakter des jetzigen Geschlechts und ihre ver¬ hängnisvollen Folgen für die künftige Generation. „Daß wir in Deutschland in unserer Zeit viel feste Charaktere, viel starken Willen, viel Zielbewußtsein in unseren sogenannten .besseren Kreisen' hätten, wird selbst der kühnste Optimist nicht behaupten können. Freiheit von den äußerlichen Werten des Lebens, Einheit und Geschlossenheit des ganzen Denkens und Wollens, Widerstandskraft gegen Schwäche und Weichlichkeit der Gesinnung ist verhältnismäßig wenig vor¬ handen. Es fehlt den führenden Ständen im geistigen und im politischen Leben an Freiheits- und Selbstgefühl und an dem Maße von Selbstverant- wortung, das wir von jedem Führer im Leben verlangen müssen." Und daher geht denn auch „der Charakter unserer Jugend, das Hinarbeiten aus männ¬ liches Selbstgefühl und männliche zielbewußte Tatkraft, lediglich um der Sache willen, vielfach in die Brüche. Wir erziehen in unseren Schulen wohl ein mehr oder weniger kenntnisreiches, pslichtgetreues und gehorsames Geschlecht; aber dieses Geschlecht ist nicht selten gedrückt, mißmutig, seines Lebens und seiner Arbeit nicht recht froh, es ist zu abhängig von äußerem Lernzwang und zu sehr gebunden durch des Gesetzes strenge Fessel." Eben deshalb verlangt Matthias in erster Reihe Erziehung zu Freiheit und Selbstgefühl. „Die Schule muß die falsche Meinung aufgeben, als ob Zucht und Freiheit, Disziplin und Menschenwürde, Gehorsam und Selbstgefühl Widersprüche seien." Aber in dieser Begründung schon spricht sich zugleich der starke Abstand aus, der ihn von den pädagogischen Schwarmgeistern unserer Zeit trennt. Die Freiheit, die er verlangt, ist nichts weniger als die Anarchie, welche jene anstreben; und die Ver¬ urteilung, die er ausspricht, entspringt keiner unkritischen und ungerechten Gegnerschaft. Er ist ebensoweit davon entfernt, die Schuld an den Mängeln der deutschen Erziehung, die unsere ganze Nation oder doch ihre führenden Klassen in ihrer Gesamtheit tragen, dem Geiste der Lehrerschaft und dem Zu¬ stande der Schulen allein zuzuschreiben, wie davon, das Große und Gute, das die bisherige Entwicklung gebracht und gefördert hat, zu verkennen. Davor

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/516
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/516>, abgerufen am 28.07.2024.