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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Anträge der elsaß - lothringischen Regierung

Selbstverständlich wird in allen Bundesstaaten, in denen gefestigte Ver¬
hältnisse bestehen und für den Verkehr zwischen Regierung und Parlament klare
Traditionen geschaffen sind, die Regierung auch in reichsgesetzlichen Angelegen¬
heiten mit ihrer Volksvertretung Fühlung zu nehmen suchen, bevor sie einen
entscheidenden Schritt unternimmt. In Elsaß-Lothringen sind diese Voraus¬
setzungen einstweilen aber noch nicht gegeben. Es herrscht dort noch nicht das
für konstitutionell, aber nicht parlamentarisch regierte Staaten natürliche Be¬
streben, zwischen Regierung und Volksvertretung einen dem Lande dienlichen
Machtausgleich zu schaffen, sondern das Parlament und besonders seine Zweite
Kammer suchen von den Rechten der Regierung soviel wie irgend möglich für
sich zu usurpieren. Die Verfassungsreform von 1911 hat zunächst die Wirkung
gehabt, die Volksvertretung im wesentlichen antigouvernemental und außer¬
ordentlich geneigt zu machen, ihre eigenen Rechte auf Kosten der Regierung zu
erweitern. Darunter leiden in erster Linie diejenigen Aufgaben der Regierung,
die diese im Reichsinteresse zu erfüllen hat.

Mir ist aus der Zeit der Einführung der neuen Verfassung ein Ausspruch
eines elsässischen Politikers bekannt, der für diese Erscheinung sehr bezeichnend
ist. Dieser Herr -- eine bekannte politische Persönlichkeit -- erwiderte auf die
Klage einiger Parteifreunde, daß die neue Verfassung dem Lande doch auch
nur beschränkte Selbstverwaltungsrechte bringe: "zweifellos hat die neue Ver¬
fassung noch manche Lücken und enthält uns noch verschiedene Rechte eines
autonomen Bundesstaates vor. Aber schließlich wird sie für uns die Bedeutung
haben, die wir ihr zu geben wissen. Darum müssen wir so auftreten, als ob
sie uns alle politischen und parlamentarischen Rechte gebracht hätte." Nach
diesem Grundsatz handeln praktisch sämtliche in der Zweiten Kammer vertretenen
Parteien und gehen dabei über ihre wirkliche Zuständigkeit oft weit hinaus.

Es ist daher nicht anzunehmen, daß die elsaß-lothringische Regierung die
Mißbilligung der Zweiten Kammer allzu schwer empfinden wird. Im Falle
Grafenstaden hatte sie schon etwas ähnliches erlebt und auch die Erfahrung
gemacht, daß einzelne Abgeordnete, die wacker mit für das Mißtrauensvotum
gestimmt hatten, ihr hinterher die Versicherung gaben, eigentlich sei die Sache
gar nicht nach ihrem Wunsch gewesen.

Außerdem hat die elsaß-lothringische Regierung noch einen sehr triftigen
sachlichen Grund, die Bedeutung der Resolution der Zweiten Kammer nicht zu
überschätzen. Das Hauptargument, auf das sich die verschiedenen Fraktionen
bei der Verurteilung des Vorgehens der Regierung stützten, war die Behauptung,
ihre Parteien wollten von dem chauvinistischen Nationalismus nichts wissen,
und das Volk werde diesen aus eigener Kraft überwinden, ja habe ihm bereits
eine deutliche Absage erteilt. Diese Behauptung entspricht -- und das weiß
die Regierung ganz genau -- nicht den Tatsachen. Allerdings haben sich die
Parteien Wetterle gegenüber, als dieser seine hetzerischen Vorträge in Frankreich
gehalten hatte, einmal zu mehr oder minder kräftigen Protesten aufgeschwungen,


Die Anträge der elsaß - lothringischen Regierung

Selbstverständlich wird in allen Bundesstaaten, in denen gefestigte Ver¬
hältnisse bestehen und für den Verkehr zwischen Regierung und Parlament klare
Traditionen geschaffen sind, die Regierung auch in reichsgesetzlichen Angelegen¬
heiten mit ihrer Volksvertretung Fühlung zu nehmen suchen, bevor sie einen
entscheidenden Schritt unternimmt. In Elsaß-Lothringen sind diese Voraus¬
setzungen einstweilen aber noch nicht gegeben. Es herrscht dort noch nicht das
für konstitutionell, aber nicht parlamentarisch regierte Staaten natürliche Be¬
streben, zwischen Regierung und Volksvertretung einen dem Lande dienlichen
Machtausgleich zu schaffen, sondern das Parlament und besonders seine Zweite
Kammer suchen von den Rechten der Regierung soviel wie irgend möglich für
sich zu usurpieren. Die Verfassungsreform von 1911 hat zunächst die Wirkung
gehabt, die Volksvertretung im wesentlichen antigouvernemental und außer¬
ordentlich geneigt zu machen, ihre eigenen Rechte auf Kosten der Regierung zu
erweitern. Darunter leiden in erster Linie diejenigen Aufgaben der Regierung,
die diese im Reichsinteresse zu erfüllen hat.

Mir ist aus der Zeit der Einführung der neuen Verfassung ein Ausspruch
eines elsässischen Politikers bekannt, der für diese Erscheinung sehr bezeichnend
ist. Dieser Herr — eine bekannte politische Persönlichkeit — erwiderte auf die
Klage einiger Parteifreunde, daß die neue Verfassung dem Lande doch auch
nur beschränkte Selbstverwaltungsrechte bringe: „zweifellos hat die neue Ver¬
fassung noch manche Lücken und enthält uns noch verschiedene Rechte eines
autonomen Bundesstaates vor. Aber schließlich wird sie für uns die Bedeutung
haben, die wir ihr zu geben wissen. Darum müssen wir so auftreten, als ob
sie uns alle politischen und parlamentarischen Rechte gebracht hätte." Nach
diesem Grundsatz handeln praktisch sämtliche in der Zweiten Kammer vertretenen
Parteien und gehen dabei über ihre wirkliche Zuständigkeit oft weit hinaus.

Es ist daher nicht anzunehmen, daß die elsaß-lothringische Regierung die
Mißbilligung der Zweiten Kammer allzu schwer empfinden wird. Im Falle
Grafenstaden hatte sie schon etwas ähnliches erlebt und auch die Erfahrung
gemacht, daß einzelne Abgeordnete, die wacker mit für das Mißtrauensvotum
gestimmt hatten, ihr hinterher die Versicherung gaben, eigentlich sei die Sache
gar nicht nach ihrem Wunsch gewesen.

Außerdem hat die elsaß-lothringische Regierung noch einen sehr triftigen
sachlichen Grund, die Bedeutung der Resolution der Zweiten Kammer nicht zu
überschätzen. Das Hauptargument, auf das sich die verschiedenen Fraktionen
bei der Verurteilung des Vorgehens der Regierung stützten, war die Behauptung,
ihre Parteien wollten von dem chauvinistischen Nationalismus nichts wissen,
und das Volk werde diesen aus eigener Kraft überwinden, ja habe ihm bereits
eine deutliche Absage erteilt. Diese Behauptung entspricht — und das weiß
die Regierung ganz genau — nicht den Tatsachen. Allerdings haben sich die
Parteien Wetterle gegenüber, als dieser seine hetzerischen Vorträge in Frankreich
gehalten hatte, einmal zu mehr oder minder kräftigen Protesten aufgeschwungen,


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[0504] Die Anträge der elsaß - lothringischen Regierung Selbstverständlich wird in allen Bundesstaaten, in denen gefestigte Ver¬ hältnisse bestehen und für den Verkehr zwischen Regierung und Parlament klare Traditionen geschaffen sind, die Regierung auch in reichsgesetzlichen Angelegen¬ heiten mit ihrer Volksvertretung Fühlung zu nehmen suchen, bevor sie einen entscheidenden Schritt unternimmt. In Elsaß-Lothringen sind diese Voraus¬ setzungen einstweilen aber noch nicht gegeben. Es herrscht dort noch nicht das für konstitutionell, aber nicht parlamentarisch regierte Staaten natürliche Be¬ streben, zwischen Regierung und Volksvertretung einen dem Lande dienlichen Machtausgleich zu schaffen, sondern das Parlament und besonders seine Zweite Kammer suchen von den Rechten der Regierung soviel wie irgend möglich für sich zu usurpieren. Die Verfassungsreform von 1911 hat zunächst die Wirkung gehabt, die Volksvertretung im wesentlichen antigouvernemental und außer¬ ordentlich geneigt zu machen, ihre eigenen Rechte auf Kosten der Regierung zu erweitern. Darunter leiden in erster Linie diejenigen Aufgaben der Regierung, die diese im Reichsinteresse zu erfüllen hat. Mir ist aus der Zeit der Einführung der neuen Verfassung ein Ausspruch eines elsässischen Politikers bekannt, der für diese Erscheinung sehr bezeichnend ist. Dieser Herr — eine bekannte politische Persönlichkeit — erwiderte auf die Klage einiger Parteifreunde, daß die neue Verfassung dem Lande doch auch nur beschränkte Selbstverwaltungsrechte bringe: „zweifellos hat die neue Ver¬ fassung noch manche Lücken und enthält uns noch verschiedene Rechte eines autonomen Bundesstaates vor. Aber schließlich wird sie für uns die Bedeutung haben, die wir ihr zu geben wissen. Darum müssen wir so auftreten, als ob sie uns alle politischen und parlamentarischen Rechte gebracht hätte." Nach diesem Grundsatz handeln praktisch sämtliche in der Zweiten Kammer vertretenen Parteien und gehen dabei über ihre wirkliche Zuständigkeit oft weit hinaus. Es ist daher nicht anzunehmen, daß die elsaß-lothringische Regierung die Mißbilligung der Zweiten Kammer allzu schwer empfinden wird. Im Falle Grafenstaden hatte sie schon etwas ähnliches erlebt und auch die Erfahrung gemacht, daß einzelne Abgeordnete, die wacker mit für das Mißtrauensvotum gestimmt hatten, ihr hinterher die Versicherung gaben, eigentlich sei die Sache gar nicht nach ihrem Wunsch gewesen. Außerdem hat die elsaß-lothringische Regierung noch einen sehr triftigen sachlichen Grund, die Bedeutung der Resolution der Zweiten Kammer nicht zu überschätzen. Das Hauptargument, auf das sich die verschiedenen Fraktionen bei der Verurteilung des Vorgehens der Regierung stützten, war die Behauptung, ihre Parteien wollten von dem chauvinistischen Nationalismus nichts wissen, und das Volk werde diesen aus eigener Kraft überwinden, ja habe ihm bereits eine deutliche Absage erteilt. Diese Behauptung entspricht — und das weiß die Regierung ganz genau — nicht den Tatsachen. Allerdings haben sich die Parteien Wetterle gegenüber, als dieser seine hetzerischen Vorträge in Frankreich gehalten hatte, einmal zu mehr oder minder kräftigen Protesten aufgeschwungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/504>, abgerufen am 27.07.2024.