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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

und lesen sich gut, ja, man wird gespannt
und ist stets der Fortführung begierig. Im
neunzehnten Jahrhundert stellt Busse sehr sein
die deutsche und die französische Literatur der
sechziger Jahre nebeneinander und zeigt aus
dem Vergleich der Dichtung des zweiten
Kaiserreichs mit der bürgerlich-realistischen
deutschen Zeitgenossenschaft, wie notwendiger¬
weise jenes Volk zum Sturz und dieses zum
Siege gelangen mußte. Busse gibt von jedem
Dichter nach Möglichkeit ein persönliches Bild
und geht dabei freilich manchmal etwas zu
weit. Er wählt nicht den Weg, daß zuerst
das Werk an sich und dann alles das kommt,
was wir durch Erinnerungen und Briefe vom
Leben des Dichters wissen, sondern das
ästhetisch Zweite wird ihm oft das Erste.
Wohlverstanden: alle Dichtung soll am Leben
gemessen werden, wie das Busse tut, aber
seine wiederholte Ausführung über die "Kerls"
die hinter dem Werk stehn, würde, so wie er
sie manchmal übersteigert, schließlich dahin
führen, nicht nur, wie er das tut, Heine,
sondern auch Geibel über Mörike zu setzen;
denn Geibel war ein ganzer Mann, der weder
Rücksichten nach oben noch nach unten kannte,
und wenn seine nationale Überzeugung in
Frage kam, ebenso wie Heyse, auf Ehrensold
und Fürstengunst unpathetisch und mit männ¬
licher Würde verzichtete. Hier liegt etwas
schiefes in Busses Auffassung, wie er Wohl
überhaupt das neunzehnte Jahrhundert als
"das der Gebundenheiten" etwas einseitig
betrachtet. Mit Befremden habe ich den
Schluß seiner Ausführungen über Wilhelm
Raabe gelesen. Nach der zum Teil vortreff¬
lichen Darstellung des Dichters erwartet man
alles andere als das Endurteil, seine Werke
würden der Vergänglichkeit rasch ihren Tribut
zahlen und keine Dauer haben. Als be¬
sonders gelungen hebe ich die Charakteristik
von Gerhart Hauptmann hervor, den Busse
mit wärmster Liebe umfaßt, und was Busse
über die Artistenkunst sagt, ist vortrefflich.
Busses Anschauung über Heine ist ein Kern¬
stück des Buches, ich teile sie ganz und gar
nicht, stelle vor allem Liliencron hoch über
Heine, aber ich leugne auch als Gegner nicht,
daß Busses ernste Auseinandersetzung Hand
und Fuß hat und sich von der vielfachen Ver-
bummelung des Dichters vernünftig fernhält.

[Spaltenumbruch]

Im ganzen ein ernsthaftes, überall an¬
regendes, vielfach wertvolle Ergebnisse bringen¬
des Werk. So wie Busse sich als Lyriker
bis zu den gehaltvollen Versen der "Heiligen
Not," als Novellist zu den ergreifenden
"Schülern von Polajewo" sin ihrer neuen
Fassung) entwickelt hat, hat er auch als Literar¬
historiker von seiner einstigen "Geschichte der
deutschen Dichtung im neunzehnten Jahr¬
hundert" bis zu diesem Werk einen Weg der
Klärung und der Arbeit, gesteigerter Schauens-
fähigkeit und Eindringlichkeit zurückgelegt,
der Achtung abnötigt und seinem Bilde ein
weit schärferes Gesicht gibt, als es vordem
für uns hatte.

Dr. Heinrich Spiero
Edgar Poch Werke.

Band 3 bis 6.
(Verlag I. C. C. Bruns, Minden i. W.; brosch.
je 4,50 M., geb. 6,50 M.)

Es sollte zu den unnötigen Aufgaben ge¬
hören, auf Edgar Man Poch Bedeutung noch
in unseren Tagen hinzuweisen. Aber noch
immer gibt es Leute, welche in ihm nur den
bekannten Erzähler spannender oder aufregen¬
der Geschehnisse erblicken und den großen, in
seiner Art unerreichten Dichter niemals er¬
kennen können. Die billigen Ausgaben seiner
Novellen beschränken sich, dank der Speku¬
lationssucht der Verleger, nur auf den Teil
seines Schaffens, der dem grobsinnigen Publi¬
kum (also der Mehrheit, die nach Sckillers
unsterblichem Worte der Unsinn ist) ange¬
nehme Schauer einflößt, etwa wie eine Mord¬
geschichte im "Kintopp"; denn das Letzte, das
Tiefste bleibt ihnen auch hier verschlossen und
fremd. -- Gewöhnlich wird Poe mit unserem
E. Th. A. Hoffmann zusammen genannt oder
verglichen. Ein verhängnisvoller Irrtum!
Gewiß: beide haben Spukgeschichten krausester
und grausigster Art geschrieben. Hoffmann,
der Fabulierer, hat mehr Freude am Phan¬
tastischen Erfinden; Poe, der Dichter, am
phantastischen Scharfsinn. Jener mehr Sprung¬
hafte Grimasse, dieser starres, nach innen
glühendes Auge. Dort oft zügelloses Sich¬
verlieren im Schauerlichen, hier bis zur Grenze
gesteigerte Möglichkeit. (Man vergleiche z. B.
Hoffmanns "Majorat" und Poch "Untergang
des Hauses Asser".) Das eben erscheint mir
das Wichtige und so Wertvolle: er ist ein

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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und lesen sich gut, ja, man wird gespannt
und ist stets der Fortführung begierig. Im
neunzehnten Jahrhundert stellt Busse sehr sein
die deutsche und die französische Literatur der
sechziger Jahre nebeneinander und zeigt aus
dem Vergleich der Dichtung des zweiten
Kaiserreichs mit der bürgerlich-realistischen
deutschen Zeitgenossenschaft, wie notwendiger¬
weise jenes Volk zum Sturz und dieses zum
Siege gelangen mußte. Busse gibt von jedem
Dichter nach Möglichkeit ein persönliches Bild
und geht dabei freilich manchmal etwas zu
weit. Er wählt nicht den Weg, daß zuerst
das Werk an sich und dann alles das kommt,
was wir durch Erinnerungen und Briefe vom
Leben des Dichters wissen, sondern das
ästhetisch Zweite wird ihm oft das Erste.
Wohlverstanden: alle Dichtung soll am Leben
gemessen werden, wie das Busse tut, aber
seine wiederholte Ausführung über die „Kerls"
die hinter dem Werk stehn, würde, so wie er
sie manchmal übersteigert, schließlich dahin
führen, nicht nur, wie er das tut, Heine,
sondern auch Geibel über Mörike zu setzen;
denn Geibel war ein ganzer Mann, der weder
Rücksichten nach oben noch nach unten kannte,
und wenn seine nationale Überzeugung in
Frage kam, ebenso wie Heyse, auf Ehrensold
und Fürstengunst unpathetisch und mit männ¬
licher Würde verzichtete. Hier liegt etwas
schiefes in Busses Auffassung, wie er Wohl
überhaupt das neunzehnte Jahrhundert als
„das der Gebundenheiten" etwas einseitig
betrachtet. Mit Befremden habe ich den
Schluß seiner Ausführungen über Wilhelm
Raabe gelesen. Nach der zum Teil vortreff¬
lichen Darstellung des Dichters erwartet man
alles andere als das Endurteil, seine Werke
würden der Vergänglichkeit rasch ihren Tribut
zahlen und keine Dauer haben. Als be¬
sonders gelungen hebe ich die Charakteristik
von Gerhart Hauptmann hervor, den Busse
mit wärmster Liebe umfaßt, und was Busse
über die Artistenkunst sagt, ist vortrefflich.
Busses Anschauung über Heine ist ein Kern¬
stück des Buches, ich teile sie ganz und gar
nicht, stelle vor allem Liliencron hoch über
Heine, aber ich leugne auch als Gegner nicht,
daß Busses ernste Auseinandersetzung Hand
und Fuß hat und sich von der vielfachen Ver-
bummelung des Dichters vernünftig fernhält.

[Spaltenumbruch]

Im ganzen ein ernsthaftes, überall an¬
regendes, vielfach wertvolle Ergebnisse bringen¬
des Werk. So wie Busse sich als Lyriker
bis zu den gehaltvollen Versen der „Heiligen
Not," als Novellist zu den ergreifenden
„Schülern von Polajewo" sin ihrer neuen
Fassung) entwickelt hat, hat er auch als Literar¬
historiker von seiner einstigen „Geschichte der
deutschen Dichtung im neunzehnten Jahr¬
hundert" bis zu diesem Werk einen Weg der
Klärung und der Arbeit, gesteigerter Schauens-
fähigkeit und Eindringlichkeit zurückgelegt,
der Achtung abnötigt und seinem Bilde ein
weit schärferes Gesicht gibt, als es vordem
für uns hatte.

Dr. Heinrich Spiero
Edgar Poch Werke.

Band 3 bis 6.
(Verlag I. C. C. Bruns, Minden i. W.; brosch.
je 4,50 M., geb. 6,50 M.)

Es sollte zu den unnötigen Aufgaben ge¬
hören, auf Edgar Man Poch Bedeutung noch
in unseren Tagen hinzuweisen. Aber noch
immer gibt es Leute, welche in ihm nur den
bekannten Erzähler spannender oder aufregen¬
der Geschehnisse erblicken und den großen, in
seiner Art unerreichten Dichter niemals er¬
kennen können. Die billigen Ausgaben seiner
Novellen beschränken sich, dank der Speku¬
lationssucht der Verleger, nur auf den Teil
seines Schaffens, der dem grobsinnigen Publi¬
kum (also der Mehrheit, die nach Sckillers
unsterblichem Worte der Unsinn ist) ange¬
nehme Schauer einflößt, etwa wie eine Mord¬
geschichte im „Kintopp"; denn das Letzte, das
Tiefste bleibt ihnen auch hier verschlossen und
fremd. — Gewöhnlich wird Poe mit unserem
E. Th. A. Hoffmann zusammen genannt oder
verglichen. Ein verhängnisvoller Irrtum!
Gewiß: beide haben Spukgeschichten krausester
und grausigster Art geschrieben. Hoffmann,
der Fabulierer, hat mehr Freude am Phan¬
tastischen Erfinden; Poe, der Dichter, am
phantastischen Scharfsinn. Jener mehr Sprung¬
hafte Grimasse, dieser starres, nach innen
glühendes Auge. Dort oft zügelloses Sich¬
verlieren im Schauerlichen, hier bis zur Grenze
gesteigerte Möglichkeit. (Man vergleiche z. B.
Hoffmanns „Majorat" und Poch „Untergang
des Hauses Asser".) Das eben erscheint mir
das Wichtige und so Wertvolle: er ist ein

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[0499] Maßgebliches und Unmaßgebliches und lesen sich gut, ja, man wird gespannt und ist stets der Fortführung begierig. Im neunzehnten Jahrhundert stellt Busse sehr sein die deutsche und die französische Literatur der sechziger Jahre nebeneinander und zeigt aus dem Vergleich der Dichtung des zweiten Kaiserreichs mit der bürgerlich-realistischen deutschen Zeitgenossenschaft, wie notwendiger¬ weise jenes Volk zum Sturz und dieses zum Siege gelangen mußte. Busse gibt von jedem Dichter nach Möglichkeit ein persönliches Bild und geht dabei freilich manchmal etwas zu weit. Er wählt nicht den Weg, daß zuerst das Werk an sich und dann alles das kommt, was wir durch Erinnerungen und Briefe vom Leben des Dichters wissen, sondern das ästhetisch Zweite wird ihm oft das Erste. Wohlverstanden: alle Dichtung soll am Leben gemessen werden, wie das Busse tut, aber seine wiederholte Ausführung über die „Kerls" die hinter dem Werk stehn, würde, so wie er sie manchmal übersteigert, schließlich dahin führen, nicht nur, wie er das tut, Heine, sondern auch Geibel über Mörike zu setzen; denn Geibel war ein ganzer Mann, der weder Rücksichten nach oben noch nach unten kannte, und wenn seine nationale Überzeugung in Frage kam, ebenso wie Heyse, auf Ehrensold und Fürstengunst unpathetisch und mit männ¬ licher Würde verzichtete. Hier liegt etwas schiefes in Busses Auffassung, wie er Wohl überhaupt das neunzehnte Jahrhundert als „das der Gebundenheiten" etwas einseitig betrachtet. Mit Befremden habe ich den Schluß seiner Ausführungen über Wilhelm Raabe gelesen. Nach der zum Teil vortreff¬ lichen Darstellung des Dichters erwartet man alles andere als das Endurteil, seine Werke würden der Vergänglichkeit rasch ihren Tribut zahlen und keine Dauer haben. Als be¬ sonders gelungen hebe ich die Charakteristik von Gerhart Hauptmann hervor, den Busse mit wärmster Liebe umfaßt, und was Busse über die Artistenkunst sagt, ist vortrefflich. Busses Anschauung über Heine ist ein Kern¬ stück des Buches, ich teile sie ganz und gar nicht, stelle vor allem Liliencron hoch über Heine, aber ich leugne auch als Gegner nicht, daß Busses ernste Auseinandersetzung Hand und Fuß hat und sich von der vielfachen Ver- bummelung des Dichters vernünftig fernhält. Im ganzen ein ernsthaftes, überall an¬ regendes, vielfach wertvolle Ergebnisse bringen¬ des Werk. So wie Busse sich als Lyriker bis zu den gehaltvollen Versen der „Heiligen Not," als Novellist zu den ergreifenden „Schülern von Polajewo" sin ihrer neuen Fassung) entwickelt hat, hat er auch als Literar¬ historiker von seiner einstigen „Geschichte der deutschen Dichtung im neunzehnten Jahr¬ hundert" bis zu diesem Werk einen Weg der Klärung und der Arbeit, gesteigerter Schauens- fähigkeit und Eindringlichkeit zurückgelegt, der Achtung abnötigt und seinem Bilde ein weit schärferes Gesicht gibt, als es vordem für uns hatte. Dr. Heinrich Spiero Edgar Poch Werke. Band 3 bis 6. (Verlag I. C. C. Bruns, Minden i. W.; brosch. je 4,50 M., geb. 6,50 M.) Es sollte zu den unnötigen Aufgaben ge¬ hören, auf Edgar Man Poch Bedeutung noch in unseren Tagen hinzuweisen. Aber noch immer gibt es Leute, welche in ihm nur den bekannten Erzähler spannender oder aufregen¬ der Geschehnisse erblicken und den großen, in seiner Art unerreichten Dichter niemals er¬ kennen können. Die billigen Ausgaben seiner Novellen beschränken sich, dank der Speku¬ lationssucht der Verleger, nur auf den Teil seines Schaffens, der dem grobsinnigen Publi¬ kum (also der Mehrheit, die nach Sckillers unsterblichem Worte der Unsinn ist) ange¬ nehme Schauer einflößt, etwa wie eine Mord¬ geschichte im „Kintopp"; denn das Letzte, das Tiefste bleibt ihnen auch hier verschlossen und fremd. — Gewöhnlich wird Poe mit unserem E. Th. A. Hoffmann zusammen genannt oder verglichen. Ein verhängnisvoller Irrtum! Gewiß: beide haben Spukgeschichten krausester und grausigster Art geschrieben. Hoffmann, der Fabulierer, hat mehr Freude am Phan¬ tastischen Erfinden; Poe, der Dichter, am phantastischen Scharfsinn. Jener mehr Sprung¬ hafte Grimasse, dieser starres, nach innen glühendes Auge. Dort oft zügelloses Sich¬ verlieren im Schauerlichen, hier bis zur Grenze gesteigerte Möglichkeit. (Man vergleiche z. B. Hoffmanns „Majorat" und Poch „Untergang des Hauses Asser".) Das eben erscheint mir das Wichtige und so Wertvolle: er ist ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/499>, abgerufen am 27.07.2024.