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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Erguß sich ausströmenden Dichterkraft ver¬
mitteln können.

Die Trümmer dieser Selbstoffenbarung
reizen, ja sie zwingen geradezu, ihre Lücken
auszufüllen und einen einleuchtenden Zu¬
sammenhang zwischen ihnen herzustellen.
Diese Ausgabe hat Wilhelm Schäfer ange¬
zogen, und so hat er es unternommen, "Karl
Stauffers Lebensgang", ebenfalls beiG. Müller
in München erschienen, in einer ausgerun¬
deten Gesamtdarstellung zu erzählen. Auch
er gibt seinen biographischen Versuch als
Eigenbericht, als eine umfassende Schlu߬
beichte aus Staussers letzten Lebenstagen. Er
sührt also eben das aus, was Staufser einst
selber noch im Sinne gehabt hat.

HätteStauffers eigene Hand diese Bekennt¬
nisse noch niederschreiben können, so wären
sie Wohl ein erschütterndes Seelenzeugnis ge¬
worden, durchbebt von dem Ungestüm eines
lräftereichen Wollens und durchtränkt mit den
Bitternissen dunkelster Schicksale. Wer will
sich zutrauen, solch einen Ausbruch in seiner
vollen Gewalt nachzuschaffen? Ein Dichter
vielleicht, der in eigener Glut das fremde
Edelmetall zu einem neuen, einheitlich starken
Guß zusammenzuschmelzen vermöchte. Aber
auch dafür scheint die Stunde heute noch nicht
gekommen. Das Tatsächliche aus Stauffers
Leben ist uns noch zu nah unter den Augen,
das Geschlecht, das mit ihm lebte, wandelt
noch zu leibhaftig auf Erden, als daß wir
einer dichterischen Darstellung dieses Künstler-
lebens mit freier Unbefangenheit folgen
könnten. Die künstlerische Gestaltung löst sich
nicht rein genug ab von dem unmittelbaren
Bewußtsein einer noch gegenwärtigen Wirk¬
lichkeit. Die bedenklichste Gefahr ist aber für
diesen besonderen Fall das Vorhandensein
einer Fülle echter Selbstzeugnisse. In ihnen
allein steckt das wahre, volle Ich Stauffers, sie
allein sprechen seine Sprache. Und nach ihnen
zu schließen, hätte Stauffer auch in den Tagen
schmerzlichster Ermattung doch kaum mit der
immer gleichen, nachdenklich müden Gelassen¬
heit sein ganzes Leben überprüft und vor
sich hingestellt. Diese Gedämpftheit des Ge¬
samttones und das immer wiederkehrende
Umlenken in die Endtonart beeinträchtigt am
stärksten die volle Unmittelbarkeit der Dar¬
stellung des Menschen Stauffer. Es erwächst

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aus ihr keine durch und durch zwingende
Vergegenwärtigung der Persönlichkeit, die
herausgehobenen Lebensmomente empfangen
nicht einer um den andern ihre Wahrheit
allein aus sich selber, sondern sie begeben
sich von Anfang an unter dem schweren
Himmel der letzten Tage und stehen im
gleichen getrübten Licht. Man steht darum
den Stauffer, der sein Schicksal erzählt,
immer wieder so vor sich, als käme er nach
einer langen Krankheit in Kleidern daher,
die ihm viel zu weit geworden sind. Und
diese Gestalt steht einer voll überzeugenden
Vergegenwärtigung des Jünglings und des
Mannes im Licht.

Über das Wesen des Menschen Stauffer
werden also nach wie vor nur seine eigenen
Äußerungen eine völlig befriedigende Aus¬
kunft geben. Wohl aber hat Schäfer es ver¬
mocht, die Kräfte offenbar werden zu lassen,
die Stauffers künstlerisches Wollen und Voll¬
bringen geleitet und bestimmt haben. Ein
klares Wissen um die sachlichen Erfordernisse
der einzelnen Kunstgattungen schafft der Dar¬
stellung ihre sichere Grundlage, feinsinnige
Einfühlung in die Technik zeigt die Ziele
des Schaffenden, lehrt seine Wege und Um¬
wege verstehen, und liebevolles Miterleben
läßt durch all die Nöte und Schmerzen des
künstlerischen Werdeprozesses hindurch schließlich
den mächtigen, einheitlichen Zug innerer Ent¬
wicklung erkennen. Künstlerisches und dichte¬
risches Verständnis haben hier zusammen¬
gewirkt, und so wächst aus eindringender
Betrachtung der Werke die lebendige Veran¬
schaulichung der gespannten Schaffenserregung,
die sie eines ums andere hervorgetrieben hat.

In dieser überzeugenden Darstellung des
Strebens und Ringens eines der begabtesten
und selbständigsten Künstler der letzten Jahr¬
zehnte liegt der eigentliche Wert des Schäfer-
schen Buches. In den Kreisen uni Stauffers
nächste Verwandtschaft will man freilich auch
das nicht gelten lassen. Man hat eS ins¬
besondere bemängelt, daß Schäfers Stauffer
zuletzt seine Lebensarbeit und ihren Ertrag
an der schöpferischen Leistung Adolf Hilde-
brandS mißt, den er neben sich eine Fülle
harmonischer Gebilde zu klarer Vollendung
gestalten sieht. Aber gerade diese Gegen¬
überstellung zeigt mit einleuchtender Deutlich-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Erguß sich ausströmenden Dichterkraft ver¬
mitteln können.

Die Trümmer dieser Selbstoffenbarung
reizen, ja sie zwingen geradezu, ihre Lücken
auszufüllen und einen einleuchtenden Zu¬
sammenhang zwischen ihnen herzustellen.
Diese Ausgabe hat Wilhelm Schäfer ange¬
zogen, und so hat er es unternommen, „Karl
Stauffers Lebensgang", ebenfalls beiG. Müller
in München erschienen, in einer ausgerun¬
deten Gesamtdarstellung zu erzählen. Auch
er gibt seinen biographischen Versuch als
Eigenbericht, als eine umfassende Schlu߬
beichte aus Staussers letzten Lebenstagen. Er
sührt also eben das aus, was Staufser einst
selber noch im Sinne gehabt hat.

HätteStauffers eigene Hand diese Bekennt¬
nisse noch niederschreiben können, so wären
sie Wohl ein erschütterndes Seelenzeugnis ge¬
worden, durchbebt von dem Ungestüm eines
lräftereichen Wollens und durchtränkt mit den
Bitternissen dunkelster Schicksale. Wer will
sich zutrauen, solch einen Ausbruch in seiner
vollen Gewalt nachzuschaffen? Ein Dichter
vielleicht, der in eigener Glut das fremde
Edelmetall zu einem neuen, einheitlich starken
Guß zusammenzuschmelzen vermöchte. Aber
auch dafür scheint die Stunde heute noch nicht
gekommen. Das Tatsächliche aus Stauffers
Leben ist uns noch zu nah unter den Augen,
das Geschlecht, das mit ihm lebte, wandelt
noch zu leibhaftig auf Erden, als daß wir
einer dichterischen Darstellung dieses Künstler-
lebens mit freier Unbefangenheit folgen
könnten. Die künstlerische Gestaltung löst sich
nicht rein genug ab von dem unmittelbaren
Bewußtsein einer noch gegenwärtigen Wirk¬
lichkeit. Die bedenklichste Gefahr ist aber für
diesen besonderen Fall das Vorhandensein
einer Fülle echter Selbstzeugnisse. In ihnen
allein steckt das wahre, volle Ich Stauffers, sie
allein sprechen seine Sprache. Und nach ihnen
zu schließen, hätte Stauffer auch in den Tagen
schmerzlichster Ermattung doch kaum mit der
immer gleichen, nachdenklich müden Gelassen¬
heit sein ganzes Leben überprüft und vor
sich hingestellt. Diese Gedämpftheit des Ge¬
samttones und das immer wiederkehrende
Umlenken in die Endtonart beeinträchtigt am
stärksten die volle Unmittelbarkeit der Dar¬
stellung des Menschen Stauffer. Es erwächst

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aus ihr keine durch und durch zwingende
Vergegenwärtigung der Persönlichkeit, die
herausgehobenen Lebensmomente empfangen
nicht einer um den andern ihre Wahrheit
allein aus sich selber, sondern sie begeben
sich von Anfang an unter dem schweren
Himmel der letzten Tage und stehen im
gleichen getrübten Licht. Man steht darum
den Stauffer, der sein Schicksal erzählt,
immer wieder so vor sich, als käme er nach
einer langen Krankheit in Kleidern daher,
die ihm viel zu weit geworden sind. Und
diese Gestalt steht einer voll überzeugenden
Vergegenwärtigung des Jünglings und des
Mannes im Licht.

Über das Wesen des Menschen Stauffer
werden also nach wie vor nur seine eigenen
Äußerungen eine völlig befriedigende Aus¬
kunft geben. Wohl aber hat Schäfer es ver¬
mocht, die Kräfte offenbar werden zu lassen,
die Stauffers künstlerisches Wollen und Voll¬
bringen geleitet und bestimmt haben. Ein
klares Wissen um die sachlichen Erfordernisse
der einzelnen Kunstgattungen schafft der Dar¬
stellung ihre sichere Grundlage, feinsinnige
Einfühlung in die Technik zeigt die Ziele
des Schaffenden, lehrt seine Wege und Um¬
wege verstehen, und liebevolles Miterleben
läßt durch all die Nöte und Schmerzen des
künstlerischen Werdeprozesses hindurch schließlich
den mächtigen, einheitlichen Zug innerer Ent¬
wicklung erkennen. Künstlerisches und dichte¬
risches Verständnis haben hier zusammen¬
gewirkt, und so wächst aus eindringender
Betrachtung der Werke die lebendige Veran¬
schaulichung der gespannten Schaffenserregung,
die sie eines ums andere hervorgetrieben hat.

In dieser überzeugenden Darstellung des
Strebens und Ringens eines der begabtesten
und selbständigsten Künstler der letzten Jahr¬
zehnte liegt der eigentliche Wert des Schäfer-
schen Buches. In den Kreisen uni Stauffers
nächste Verwandtschaft will man freilich auch
das nicht gelten lassen. Man hat eS ins¬
besondere bemängelt, daß Schäfers Stauffer
zuletzt seine Lebensarbeit und ihren Ertrag
an der schöpferischen Leistung Adolf Hilde-
brandS mißt, den er neben sich eine Fülle
harmonischer Gebilde zu klarer Vollendung
gestalten sieht. Aber gerade diese Gegen¬
überstellung zeigt mit einleuchtender Deutlich-

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[0496] Maßgebliches und Unmaßgebliches Erguß sich ausströmenden Dichterkraft ver¬ mitteln können. Die Trümmer dieser Selbstoffenbarung reizen, ja sie zwingen geradezu, ihre Lücken auszufüllen und einen einleuchtenden Zu¬ sammenhang zwischen ihnen herzustellen. Diese Ausgabe hat Wilhelm Schäfer ange¬ zogen, und so hat er es unternommen, „Karl Stauffers Lebensgang", ebenfalls beiG. Müller in München erschienen, in einer ausgerun¬ deten Gesamtdarstellung zu erzählen. Auch er gibt seinen biographischen Versuch als Eigenbericht, als eine umfassende Schlu߬ beichte aus Staussers letzten Lebenstagen. Er sührt also eben das aus, was Staufser einst selber noch im Sinne gehabt hat. HätteStauffers eigene Hand diese Bekennt¬ nisse noch niederschreiben können, so wären sie Wohl ein erschütterndes Seelenzeugnis ge¬ worden, durchbebt von dem Ungestüm eines lräftereichen Wollens und durchtränkt mit den Bitternissen dunkelster Schicksale. Wer will sich zutrauen, solch einen Ausbruch in seiner vollen Gewalt nachzuschaffen? Ein Dichter vielleicht, der in eigener Glut das fremde Edelmetall zu einem neuen, einheitlich starken Guß zusammenzuschmelzen vermöchte. Aber auch dafür scheint die Stunde heute noch nicht gekommen. Das Tatsächliche aus Stauffers Leben ist uns noch zu nah unter den Augen, das Geschlecht, das mit ihm lebte, wandelt noch zu leibhaftig auf Erden, als daß wir einer dichterischen Darstellung dieses Künstler- lebens mit freier Unbefangenheit folgen könnten. Die künstlerische Gestaltung löst sich nicht rein genug ab von dem unmittelbaren Bewußtsein einer noch gegenwärtigen Wirk¬ lichkeit. Die bedenklichste Gefahr ist aber für diesen besonderen Fall das Vorhandensein einer Fülle echter Selbstzeugnisse. In ihnen allein steckt das wahre, volle Ich Stauffers, sie allein sprechen seine Sprache. Und nach ihnen zu schließen, hätte Stauffer auch in den Tagen schmerzlichster Ermattung doch kaum mit der immer gleichen, nachdenklich müden Gelassen¬ heit sein ganzes Leben überprüft und vor sich hingestellt. Diese Gedämpftheit des Ge¬ samttones und das immer wiederkehrende Umlenken in die Endtonart beeinträchtigt am stärksten die volle Unmittelbarkeit der Dar¬ stellung des Menschen Stauffer. Es erwächst aus ihr keine durch und durch zwingende Vergegenwärtigung der Persönlichkeit, die herausgehobenen Lebensmomente empfangen nicht einer um den andern ihre Wahrheit allein aus sich selber, sondern sie begeben sich von Anfang an unter dem schweren Himmel der letzten Tage und stehen im gleichen getrübten Licht. Man steht darum den Stauffer, der sein Schicksal erzählt, immer wieder so vor sich, als käme er nach einer langen Krankheit in Kleidern daher, die ihm viel zu weit geworden sind. Und diese Gestalt steht einer voll überzeugenden Vergegenwärtigung des Jünglings und des Mannes im Licht. Über das Wesen des Menschen Stauffer werden also nach wie vor nur seine eigenen Äußerungen eine völlig befriedigende Aus¬ kunft geben. Wohl aber hat Schäfer es ver¬ mocht, die Kräfte offenbar werden zu lassen, die Stauffers künstlerisches Wollen und Voll¬ bringen geleitet und bestimmt haben. Ein klares Wissen um die sachlichen Erfordernisse der einzelnen Kunstgattungen schafft der Dar¬ stellung ihre sichere Grundlage, feinsinnige Einfühlung in die Technik zeigt die Ziele des Schaffenden, lehrt seine Wege und Um¬ wege verstehen, und liebevolles Miterleben läßt durch all die Nöte und Schmerzen des künstlerischen Werdeprozesses hindurch schließlich den mächtigen, einheitlichen Zug innerer Ent¬ wicklung erkennen. Künstlerisches und dichte¬ risches Verständnis haben hier zusammen¬ gewirkt, und so wächst aus eindringender Betrachtung der Werke die lebendige Veran¬ schaulichung der gespannten Schaffenserregung, die sie eines ums andere hervorgetrieben hat. In dieser überzeugenden Darstellung des Strebens und Ringens eines der begabtesten und selbständigsten Künstler der letzten Jahr¬ zehnte liegt der eigentliche Wert des Schäfer- schen Buches. In den Kreisen uni Stauffers nächste Verwandtschaft will man freilich auch das nicht gelten lassen. Man hat eS ins¬ besondere bemängelt, daß Schäfers Stauffer zuletzt seine Lebensarbeit und ihren Ertrag an der schöpferischen Leistung Adolf Hilde- brandS mißt, den er neben sich eine Fülle harmonischer Gebilde zu klarer Vollendung gestalten sieht. Aber gerade diese Gegen¬ überstellung zeigt mit einleuchtender Deutlich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/496>, abgerufen am 27.07.2024.