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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Gute Kameraden waren sie gewesen und es trotz der räumlichen Entfernung
voneinander geblieben. Aber eine Bemerkung in Ediths letztem Brief hatte
einen leichten Schatten auf dieses schöne Verhältnis geworfen.

Er hatte ihr von Angölique und seinen häufigen Besuchen in der romantisch
gelegenen einsamen Buvette erzählt. War sein Brief wirklich so schwärmerisch
ausgefallen, daß Edles ein Recht hatte, ihn zu verspotten?

"Nun, können wir es uns erklären, weshalb Sie nicht einmal im Sommer
mehr den Weg in die Heimat finden . . ." hatte sie geschrieben und die kränkenden
Worte hinzugesetzt: "Auch sie sind also ein echter Borke!"

Ein echter Borke -- das sollte nichts anderes heißen, als daß nun auch
in seinem Leben das weibliche Geschlecht jene Rolle spielte, die den Borkes so
oft zum Verhängnis geworden war.

Lächerlich! Die Bekanntschaft mit Angölique und ihrem schattigen Felsennest
stammte erst aus dem Frühling und war nur eine angenehme Zugabe zu den
Momenten, die ihn bestimmt hatten, die Riviera auch im letzten heißen Sommer
nicht zu verlassen.

Wenn Villefranche in Sonnengluten brütete, so wehte da oben immer ein
frischer Wind. Und wenn sich Paul von der Einsamkeit bedrückt fühlte, die in
seiner Arbeitstätte herrschte, weil die Kollegen alle in kühlere Regionen geflohen
waren, dann fand er in den Plauderstunden mit dem aufgeweckten Mädchen
leicht wieder den notwendigen Zusammenhang mit dem Leben, den er -- was
er gern zugab -- bei der steten Beschäftigung mit den abstrakten Theorien seiner
Wissenschaft häufig genug verlor.

Aber wie tat die Ruhe wohl! Bei den unerquicklichen Zuständen im
Vaterhause bedeutete eine Reise nach Borküll für seine Nerven eine Strapaze,
von der er noch jedesmal bedrückt und unfroh zurückgekehrt war. Wußte denn
das Edles nicht? Wenn er sich auch noch niemals darüber ausgesprochen hatte,
so erwartete er doch von ihrem Feingefühl, daß sie sich seine Entfremdung von
der Heimat richtig deutete. Ja -- wenn er auf Sternburg hätte wohnen dürfen,
wo der alte Wenkendorff mit seinen drei Töchtern ein Leben voll fröhlicher,
erfolgreicher Arbeit führte! --

Mein Gott -- hatte er in seinem Alter nicht Anspruch auf Freude und
Jugend? Und das war es, was er da oben fand. Deshalb vergaß er die
alte Freundschaft noch lange nicht!

Was für ein Gefühl hinderte ihn heute, wo er den kurzen Besuch seines Freundes
mit einer Einkehr bei der alten Farina verbunden hatte, Ediths Brief zu lesen?

Als er vorhin Angölique von Wassiljews Kennerblick geschätzt und bewundert
sah, hatte er dieses flüchtige Gefühl gehabt, daß er auch dieser Gabe des Lebens
gegenüber, wie bisher immer, der Theoretiker geblieben war. Zum erstenmal
wollte ihm als ein Mangel erscheinen, was ihm als pflichtmäßige Erfüllung
eines Grundsatzes galt: die Bekämpfung jeder Impulsivität, deren gefährliche
Wirkung er in seiner Familie genugsam erfahren hatte.


Sturm

Gute Kameraden waren sie gewesen und es trotz der räumlichen Entfernung
voneinander geblieben. Aber eine Bemerkung in Ediths letztem Brief hatte
einen leichten Schatten auf dieses schöne Verhältnis geworfen.

Er hatte ihr von Angölique und seinen häufigen Besuchen in der romantisch
gelegenen einsamen Buvette erzählt. War sein Brief wirklich so schwärmerisch
ausgefallen, daß Edles ein Recht hatte, ihn zu verspotten?

„Nun, können wir es uns erklären, weshalb Sie nicht einmal im Sommer
mehr den Weg in die Heimat finden . . ." hatte sie geschrieben und die kränkenden
Worte hinzugesetzt: „Auch sie sind also ein echter Borke!"

Ein echter Borke — das sollte nichts anderes heißen, als daß nun auch
in seinem Leben das weibliche Geschlecht jene Rolle spielte, die den Borkes so
oft zum Verhängnis geworden war.

Lächerlich! Die Bekanntschaft mit Angölique und ihrem schattigen Felsennest
stammte erst aus dem Frühling und war nur eine angenehme Zugabe zu den
Momenten, die ihn bestimmt hatten, die Riviera auch im letzten heißen Sommer
nicht zu verlassen.

Wenn Villefranche in Sonnengluten brütete, so wehte da oben immer ein
frischer Wind. Und wenn sich Paul von der Einsamkeit bedrückt fühlte, die in
seiner Arbeitstätte herrschte, weil die Kollegen alle in kühlere Regionen geflohen
waren, dann fand er in den Plauderstunden mit dem aufgeweckten Mädchen
leicht wieder den notwendigen Zusammenhang mit dem Leben, den er — was
er gern zugab — bei der steten Beschäftigung mit den abstrakten Theorien seiner
Wissenschaft häufig genug verlor.

Aber wie tat die Ruhe wohl! Bei den unerquicklichen Zuständen im
Vaterhause bedeutete eine Reise nach Borküll für seine Nerven eine Strapaze,
von der er noch jedesmal bedrückt und unfroh zurückgekehrt war. Wußte denn
das Edles nicht? Wenn er sich auch noch niemals darüber ausgesprochen hatte,
so erwartete er doch von ihrem Feingefühl, daß sie sich seine Entfremdung von
der Heimat richtig deutete. Ja — wenn er auf Sternburg hätte wohnen dürfen,
wo der alte Wenkendorff mit seinen drei Töchtern ein Leben voll fröhlicher,
erfolgreicher Arbeit führte! —

Mein Gott — hatte er in seinem Alter nicht Anspruch auf Freude und
Jugend? Und das war es, was er da oben fand. Deshalb vergaß er die
alte Freundschaft noch lange nicht!

Was für ein Gefühl hinderte ihn heute, wo er den kurzen Besuch seines Freundes
mit einer Einkehr bei der alten Farina verbunden hatte, Ediths Brief zu lesen?

Als er vorhin Angölique von Wassiljews Kennerblick geschätzt und bewundert
sah, hatte er dieses flüchtige Gefühl gehabt, daß er auch dieser Gabe des Lebens
gegenüber, wie bisher immer, der Theoretiker geblieben war. Zum erstenmal
wollte ihm als ein Mangel erscheinen, was ihm als pflichtmäßige Erfüllung
eines Grundsatzes galt: die Bekämpfung jeder Impulsivität, deren gefährliche
Wirkung er in seiner Familie genugsam erfahren hatte.


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[0491] Sturm Gute Kameraden waren sie gewesen und es trotz der räumlichen Entfernung voneinander geblieben. Aber eine Bemerkung in Ediths letztem Brief hatte einen leichten Schatten auf dieses schöne Verhältnis geworfen. Er hatte ihr von Angölique und seinen häufigen Besuchen in der romantisch gelegenen einsamen Buvette erzählt. War sein Brief wirklich so schwärmerisch ausgefallen, daß Edles ein Recht hatte, ihn zu verspotten? „Nun, können wir es uns erklären, weshalb Sie nicht einmal im Sommer mehr den Weg in die Heimat finden . . ." hatte sie geschrieben und die kränkenden Worte hinzugesetzt: „Auch sie sind also ein echter Borke!" Ein echter Borke — das sollte nichts anderes heißen, als daß nun auch in seinem Leben das weibliche Geschlecht jene Rolle spielte, die den Borkes so oft zum Verhängnis geworden war. Lächerlich! Die Bekanntschaft mit Angölique und ihrem schattigen Felsennest stammte erst aus dem Frühling und war nur eine angenehme Zugabe zu den Momenten, die ihn bestimmt hatten, die Riviera auch im letzten heißen Sommer nicht zu verlassen. Wenn Villefranche in Sonnengluten brütete, so wehte da oben immer ein frischer Wind. Und wenn sich Paul von der Einsamkeit bedrückt fühlte, die in seiner Arbeitstätte herrschte, weil die Kollegen alle in kühlere Regionen geflohen waren, dann fand er in den Plauderstunden mit dem aufgeweckten Mädchen leicht wieder den notwendigen Zusammenhang mit dem Leben, den er — was er gern zugab — bei der steten Beschäftigung mit den abstrakten Theorien seiner Wissenschaft häufig genug verlor. Aber wie tat die Ruhe wohl! Bei den unerquicklichen Zuständen im Vaterhause bedeutete eine Reise nach Borküll für seine Nerven eine Strapaze, von der er noch jedesmal bedrückt und unfroh zurückgekehrt war. Wußte denn das Edles nicht? Wenn er sich auch noch niemals darüber ausgesprochen hatte, so erwartete er doch von ihrem Feingefühl, daß sie sich seine Entfremdung von der Heimat richtig deutete. Ja — wenn er auf Sternburg hätte wohnen dürfen, wo der alte Wenkendorff mit seinen drei Töchtern ein Leben voll fröhlicher, erfolgreicher Arbeit führte! — Mein Gott — hatte er in seinem Alter nicht Anspruch auf Freude und Jugend? Und das war es, was er da oben fand. Deshalb vergaß er die alte Freundschaft noch lange nicht! Was für ein Gefühl hinderte ihn heute, wo er den kurzen Besuch seines Freundes mit einer Einkehr bei der alten Farina verbunden hatte, Ediths Brief zu lesen? Als er vorhin Angölique von Wassiljews Kennerblick geschätzt und bewundert sah, hatte er dieses flüchtige Gefühl gehabt, daß er auch dieser Gabe des Lebens gegenüber, wie bisher immer, der Theoretiker geblieben war. Zum erstenmal wollte ihm als ein Mangel erscheinen, was ihm als pflichtmäßige Erfüllung eines Grundsatzes galt: die Bekämpfung jeder Impulsivität, deren gefährliche Wirkung er in seiner Familie genugsam erfahren hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/491>, abgerufen am 28.07.2024.