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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche lveltpolitik nach der Grientkrisis

der Türkei für Rußland in immer stärkere Beleuchtung, je mehr es sich daran
gewöhnen muß, seinen Ansprüchen auf den europäischen Teil zu entsagen. Bei
jedem Engagement Deutschlands also nach dieser Richtung hin ist doppelt und
dreifach zu erwägen, ob es nicht die allgemeinen Beziehungen zu Rußland
gefährdet, die heute trotz allem im großen und ganzen gut und günstig ge¬
worden sind. An jener einen Grundtatsache unserer Lage nach außen, den
guten Beziehungen zu Rußland, darf auch die Betätigung Deutschlands im
Orient nicht rütteln.

Sie darf das um so weniger jetzt, da sich eben durch den letzten Winter
die Verhältnisse grundlegend geändert haben, da, wie nun nochmals betont sei,
eine aktive Balkanpolitik Österreichs nicht mehr möglich ist und die Erwartungen
auf eine Gesundung der Türkei in bisherigem Umfange sich nicht erfüllt haben.
Durch diese Entwicklung kommt Deutschland in die Lage, bei einem übermäßigen
Engagement im nahen Orient dieses von sich aus und zur See, d. h. dann
gewissermaßen als Mittelmeermacht, verteidigen zu müssen. Davon kann aber
gar keine Rede sein und unter diesen Gesichtspunkten kann z. B. eine beinahe
programmatische Äußerung nicht als politisch richtig und günstig bezeichnet werden,
wie sie der deutsche Botschafter in Konstantinopel am 27. Januar 1913 mit
seinem Hinweis auf die vitalen Interessen Deutschlands in Anatolien getan
hat. Niemand, der die expansiven Kräfte unseres Volkes kennt, wird gegen
ihre Betätigung in Kleinasien sein oder von der Preisgabe unserer Interessen
dort reden können. Aber ich glaube, daß eben die Ereignisse des letzten
Winters und ihre Folgen uns sehr ernsthaft veranlassen, genau zu überlegen,
wie weit dabei gegangen werden kann. Wirtschaftliche Betätigung ist schon
deshalb weiterhin nötig, weil bereits Hunderte von Millionen deutschen Kapitals
dort arbeiten. Aber Deutschland darf sich dort nicht ein System von Interessen
schaffen, das zu politischen und militärischen Engagements führen würde, weil es
dann in der ungünstigsten Situation den Kampf darum zu beginnen hätte,
die sich denken läßt. Die Grenze, die dort der Betätigung Deutschlands vom
Standpunkte seiner realen Interessen aus gezogen ist, ist ganz klar. Sie
ist wohl in der Politik des Freiherrn von Marschall, der seine bedeutende
staatsmännische Kraft für ein zweifellos großes Ziel deutscher Auslandspolitik
ganz einsetzte, überschritten worden und die Folge macht sich jetzt bemerkbar,
wo die große Umgestaltung in der orientalischen Frage in der Hauptsache perfekt ist.

Demgegenüber fordert unsere Schrift, die wir zum Ausgangspunkt dieser
Auseinandersetzung nehmen, daß Deutschland sich vielmehr mit aller Kraft
nach einer anderen Richtung seiner Expansion wende, wo jene allgemeinen
politischen Bedenken nicht vorhanden seien, nämlich nach Zentralafrika. Dort
sollen für uns die "besten und man muß hinzufügen, die einzigen Aussichten"
liegen. Das ist übertrieben und wirkt so noch stärker, weil es sich um Gebiete
handelt, die nicht mehr frei sind, sondern Portugal und Belgien gehören.
Die Schrift wendet sich auch mit vollem Recht sehr entschieden gegen eine


Deutsche lveltpolitik nach der Grientkrisis

der Türkei für Rußland in immer stärkere Beleuchtung, je mehr es sich daran
gewöhnen muß, seinen Ansprüchen auf den europäischen Teil zu entsagen. Bei
jedem Engagement Deutschlands also nach dieser Richtung hin ist doppelt und
dreifach zu erwägen, ob es nicht die allgemeinen Beziehungen zu Rußland
gefährdet, die heute trotz allem im großen und ganzen gut und günstig ge¬
worden sind. An jener einen Grundtatsache unserer Lage nach außen, den
guten Beziehungen zu Rußland, darf auch die Betätigung Deutschlands im
Orient nicht rütteln.

Sie darf das um so weniger jetzt, da sich eben durch den letzten Winter
die Verhältnisse grundlegend geändert haben, da, wie nun nochmals betont sei,
eine aktive Balkanpolitik Österreichs nicht mehr möglich ist und die Erwartungen
auf eine Gesundung der Türkei in bisherigem Umfange sich nicht erfüllt haben.
Durch diese Entwicklung kommt Deutschland in die Lage, bei einem übermäßigen
Engagement im nahen Orient dieses von sich aus und zur See, d. h. dann
gewissermaßen als Mittelmeermacht, verteidigen zu müssen. Davon kann aber
gar keine Rede sein und unter diesen Gesichtspunkten kann z. B. eine beinahe
programmatische Äußerung nicht als politisch richtig und günstig bezeichnet werden,
wie sie der deutsche Botschafter in Konstantinopel am 27. Januar 1913 mit
seinem Hinweis auf die vitalen Interessen Deutschlands in Anatolien getan
hat. Niemand, der die expansiven Kräfte unseres Volkes kennt, wird gegen
ihre Betätigung in Kleinasien sein oder von der Preisgabe unserer Interessen
dort reden können. Aber ich glaube, daß eben die Ereignisse des letzten
Winters und ihre Folgen uns sehr ernsthaft veranlassen, genau zu überlegen,
wie weit dabei gegangen werden kann. Wirtschaftliche Betätigung ist schon
deshalb weiterhin nötig, weil bereits Hunderte von Millionen deutschen Kapitals
dort arbeiten. Aber Deutschland darf sich dort nicht ein System von Interessen
schaffen, das zu politischen und militärischen Engagements führen würde, weil es
dann in der ungünstigsten Situation den Kampf darum zu beginnen hätte,
die sich denken läßt. Die Grenze, die dort der Betätigung Deutschlands vom
Standpunkte seiner realen Interessen aus gezogen ist, ist ganz klar. Sie
ist wohl in der Politik des Freiherrn von Marschall, der seine bedeutende
staatsmännische Kraft für ein zweifellos großes Ziel deutscher Auslandspolitik
ganz einsetzte, überschritten worden und die Folge macht sich jetzt bemerkbar,
wo die große Umgestaltung in der orientalischen Frage in der Hauptsache perfekt ist.

Demgegenüber fordert unsere Schrift, die wir zum Ausgangspunkt dieser
Auseinandersetzung nehmen, daß Deutschland sich vielmehr mit aller Kraft
nach einer anderen Richtung seiner Expansion wende, wo jene allgemeinen
politischen Bedenken nicht vorhanden seien, nämlich nach Zentralafrika. Dort
sollen für uns die „besten und man muß hinzufügen, die einzigen Aussichten"
liegen. Das ist übertrieben und wirkt so noch stärker, weil es sich um Gebiete
handelt, die nicht mehr frei sind, sondern Portugal und Belgien gehören.
Die Schrift wendet sich auch mit vollem Recht sehr entschieden gegen eine


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[0459] Deutsche lveltpolitik nach der Grientkrisis der Türkei für Rußland in immer stärkere Beleuchtung, je mehr es sich daran gewöhnen muß, seinen Ansprüchen auf den europäischen Teil zu entsagen. Bei jedem Engagement Deutschlands also nach dieser Richtung hin ist doppelt und dreifach zu erwägen, ob es nicht die allgemeinen Beziehungen zu Rußland gefährdet, die heute trotz allem im großen und ganzen gut und günstig ge¬ worden sind. An jener einen Grundtatsache unserer Lage nach außen, den guten Beziehungen zu Rußland, darf auch die Betätigung Deutschlands im Orient nicht rütteln. Sie darf das um so weniger jetzt, da sich eben durch den letzten Winter die Verhältnisse grundlegend geändert haben, da, wie nun nochmals betont sei, eine aktive Balkanpolitik Österreichs nicht mehr möglich ist und die Erwartungen auf eine Gesundung der Türkei in bisherigem Umfange sich nicht erfüllt haben. Durch diese Entwicklung kommt Deutschland in die Lage, bei einem übermäßigen Engagement im nahen Orient dieses von sich aus und zur See, d. h. dann gewissermaßen als Mittelmeermacht, verteidigen zu müssen. Davon kann aber gar keine Rede sein und unter diesen Gesichtspunkten kann z. B. eine beinahe programmatische Äußerung nicht als politisch richtig und günstig bezeichnet werden, wie sie der deutsche Botschafter in Konstantinopel am 27. Januar 1913 mit seinem Hinweis auf die vitalen Interessen Deutschlands in Anatolien getan hat. Niemand, der die expansiven Kräfte unseres Volkes kennt, wird gegen ihre Betätigung in Kleinasien sein oder von der Preisgabe unserer Interessen dort reden können. Aber ich glaube, daß eben die Ereignisse des letzten Winters und ihre Folgen uns sehr ernsthaft veranlassen, genau zu überlegen, wie weit dabei gegangen werden kann. Wirtschaftliche Betätigung ist schon deshalb weiterhin nötig, weil bereits Hunderte von Millionen deutschen Kapitals dort arbeiten. Aber Deutschland darf sich dort nicht ein System von Interessen schaffen, das zu politischen und militärischen Engagements führen würde, weil es dann in der ungünstigsten Situation den Kampf darum zu beginnen hätte, die sich denken läßt. Die Grenze, die dort der Betätigung Deutschlands vom Standpunkte seiner realen Interessen aus gezogen ist, ist ganz klar. Sie ist wohl in der Politik des Freiherrn von Marschall, der seine bedeutende staatsmännische Kraft für ein zweifellos großes Ziel deutscher Auslandspolitik ganz einsetzte, überschritten worden und die Folge macht sich jetzt bemerkbar, wo die große Umgestaltung in der orientalischen Frage in der Hauptsache perfekt ist. Demgegenüber fordert unsere Schrift, die wir zum Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung nehmen, daß Deutschland sich vielmehr mit aller Kraft nach einer anderen Richtung seiner Expansion wende, wo jene allgemeinen politischen Bedenken nicht vorhanden seien, nämlich nach Zentralafrika. Dort sollen für uns die „besten und man muß hinzufügen, die einzigen Aussichten" liegen. Das ist übertrieben und wirkt so noch stärker, weil es sich um Gebiete handelt, die nicht mehr frei sind, sondern Portugal und Belgien gehören. Die Schrift wendet sich auch mit vollem Recht sehr entschieden gegen eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/459>, abgerufen am 28.07.2024.