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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Weltpolitik nach der Grientkrisis

Die deutsche Expansion hat sich, seit Deutschland überhaupt in diesem Sinne
Weltpolitik betreibt, ohne besonderen Zusammenhang, ja in ziemlicher Zersplitterung
vollzogen. Wir haben uns zur gleichen Zeit in drei Kontinenten engagiert. Wir
setzten uns in Kiautschau fest, erwarben die spanischen Inseln des sullen
Ozeans, begannen die Bagdadbahn und schlössen mit England ein Geheimab¬
kommen über gewisse afrikanische Gebiete. Wir können die Gründe für diese
Zersplitterung der Politik ebenso auf sich beruhen lassen, wie die für die
Unsicherheit unserer öffentlichen Meinung über die Richtungen, in denen sich
unsere Expansion bewegen soll. Wünschenswert ist unter allen Umständen, daß
sich beides mehr klare und daß sich in unserer öffentlichen Meinung vor
allem, das Chaos expansionspolitischer Ideen, die wir seit Mitte der
neunziger Jahre hin und herbewegt haben, etwas setze. Es hat wohl bisher
nicht anders sein können; Deutschland kam, wie so oft gesagt worden ist, als
letzter in diese Weltpolitik hinein und mußte zugreifen, wo sich etwas bot,
mußte auch, was gegenüber dem Tadel daran in dieser Schrift hervorgehoben
sei, erst einmal überhaupt weltpolitische Erfahrungen machen, überhaupt erst in
größerem Maßstabe aufs hohe Meer und über See hinaus gezogen werden. Aber
nach ziemlich zwei Jahrzehnten solcher weltpolitischen Betätigung und Stimmung
ist es allerdings erwünscht, daß wenige, aber klare Ziele und Richtungen sich
herausarbeiten und mit voller Konzentration verfolgt werden. Denn darin liegt
doch ein grundsätzlicher Unterschied, der auch bleiben wird, zwischen der englischen
und deutschen Weltpolitik, daß die englische als die Politik einer überragenden
Seemacht sich nach allen oder wenigstens vielen Richtungen erfolgreich betätigen
kann, der deutschen aber bei der geographischen Lage dieser ausgesprochenen
Landmacht das nur in wenigen oder nur in einer Richtung erfolgreich möglich
ist. Unsere Schrift legt nun allen Nachdruck darauf, daß dies nur in einer
Richtung möglich sei, und sucht als solche die Betätigung in Mittelafrika zu er¬
weisen, anderseits die im nahen Orient als nicht nützlich und gefährlich
darzustellen. Sie verlangt mit anderen Worten eine völlige Revidierung der
Anschauung über Deutschlands Interessen im nahen Orient, die sich gerade
in den letzten Jahren erst mehr zu verbreiten begann, und eine ausschließliche
Konzentration deutscher Betätigung auf Zentralafrika.

Es kommt nun darauf an, was man unter "Betätigung" versteht. Meint
man damit lediglich die Schaffung wirtschaftlicher Interessen. Kapital- und
Wareneinfuhr, Abgabe von Intelligenz in fremde Gebiete, fo ist nicht einzu¬
sehen, warum Deutschland mit seiner Kapitalkraft und seinem Überschuß an
Intelligenz nicht in beiden Richtungen tätig sein könne, warum es nicht das
eine tun und das andere nicht lassen solle. Versteht man aber unter solcher
Betätigung die Schaffung einer mehr oder minder ausschließlich für Deutschland
reservierten Interessensphäre, die gegebenenfalls auch politisch und militärisch
zu verteidigen sei, so liegen die Dinge anders, und diese Schrift erwirbt sich
im gegenwärtigen Augenblick ganz zweifellos ein Verdienst, wenn sie zu erneutem


Deutsche Weltpolitik nach der Grientkrisis

Die deutsche Expansion hat sich, seit Deutschland überhaupt in diesem Sinne
Weltpolitik betreibt, ohne besonderen Zusammenhang, ja in ziemlicher Zersplitterung
vollzogen. Wir haben uns zur gleichen Zeit in drei Kontinenten engagiert. Wir
setzten uns in Kiautschau fest, erwarben die spanischen Inseln des sullen
Ozeans, begannen die Bagdadbahn und schlössen mit England ein Geheimab¬
kommen über gewisse afrikanische Gebiete. Wir können die Gründe für diese
Zersplitterung der Politik ebenso auf sich beruhen lassen, wie die für die
Unsicherheit unserer öffentlichen Meinung über die Richtungen, in denen sich
unsere Expansion bewegen soll. Wünschenswert ist unter allen Umständen, daß
sich beides mehr klare und daß sich in unserer öffentlichen Meinung vor
allem, das Chaos expansionspolitischer Ideen, die wir seit Mitte der
neunziger Jahre hin und herbewegt haben, etwas setze. Es hat wohl bisher
nicht anders sein können; Deutschland kam, wie so oft gesagt worden ist, als
letzter in diese Weltpolitik hinein und mußte zugreifen, wo sich etwas bot,
mußte auch, was gegenüber dem Tadel daran in dieser Schrift hervorgehoben
sei, erst einmal überhaupt weltpolitische Erfahrungen machen, überhaupt erst in
größerem Maßstabe aufs hohe Meer und über See hinaus gezogen werden. Aber
nach ziemlich zwei Jahrzehnten solcher weltpolitischen Betätigung und Stimmung
ist es allerdings erwünscht, daß wenige, aber klare Ziele und Richtungen sich
herausarbeiten und mit voller Konzentration verfolgt werden. Denn darin liegt
doch ein grundsätzlicher Unterschied, der auch bleiben wird, zwischen der englischen
und deutschen Weltpolitik, daß die englische als die Politik einer überragenden
Seemacht sich nach allen oder wenigstens vielen Richtungen erfolgreich betätigen
kann, der deutschen aber bei der geographischen Lage dieser ausgesprochenen
Landmacht das nur in wenigen oder nur in einer Richtung erfolgreich möglich
ist. Unsere Schrift legt nun allen Nachdruck darauf, daß dies nur in einer
Richtung möglich sei, und sucht als solche die Betätigung in Mittelafrika zu er¬
weisen, anderseits die im nahen Orient als nicht nützlich und gefährlich
darzustellen. Sie verlangt mit anderen Worten eine völlige Revidierung der
Anschauung über Deutschlands Interessen im nahen Orient, die sich gerade
in den letzten Jahren erst mehr zu verbreiten begann, und eine ausschließliche
Konzentration deutscher Betätigung auf Zentralafrika.

Es kommt nun darauf an, was man unter „Betätigung" versteht. Meint
man damit lediglich die Schaffung wirtschaftlicher Interessen. Kapital- und
Wareneinfuhr, Abgabe von Intelligenz in fremde Gebiete, fo ist nicht einzu¬
sehen, warum Deutschland mit seiner Kapitalkraft und seinem Überschuß an
Intelligenz nicht in beiden Richtungen tätig sein könne, warum es nicht das
eine tun und das andere nicht lassen solle. Versteht man aber unter solcher
Betätigung die Schaffung einer mehr oder minder ausschließlich für Deutschland
reservierten Interessensphäre, die gegebenenfalls auch politisch und militärisch
zu verteidigen sei, so liegen die Dinge anders, und diese Schrift erwirbt sich
im gegenwärtigen Augenblick ganz zweifellos ein Verdienst, wenn sie zu erneutem


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[0457] Deutsche Weltpolitik nach der Grientkrisis Die deutsche Expansion hat sich, seit Deutschland überhaupt in diesem Sinne Weltpolitik betreibt, ohne besonderen Zusammenhang, ja in ziemlicher Zersplitterung vollzogen. Wir haben uns zur gleichen Zeit in drei Kontinenten engagiert. Wir setzten uns in Kiautschau fest, erwarben die spanischen Inseln des sullen Ozeans, begannen die Bagdadbahn und schlössen mit England ein Geheimab¬ kommen über gewisse afrikanische Gebiete. Wir können die Gründe für diese Zersplitterung der Politik ebenso auf sich beruhen lassen, wie die für die Unsicherheit unserer öffentlichen Meinung über die Richtungen, in denen sich unsere Expansion bewegen soll. Wünschenswert ist unter allen Umständen, daß sich beides mehr klare und daß sich in unserer öffentlichen Meinung vor allem, das Chaos expansionspolitischer Ideen, die wir seit Mitte der neunziger Jahre hin und herbewegt haben, etwas setze. Es hat wohl bisher nicht anders sein können; Deutschland kam, wie so oft gesagt worden ist, als letzter in diese Weltpolitik hinein und mußte zugreifen, wo sich etwas bot, mußte auch, was gegenüber dem Tadel daran in dieser Schrift hervorgehoben sei, erst einmal überhaupt weltpolitische Erfahrungen machen, überhaupt erst in größerem Maßstabe aufs hohe Meer und über See hinaus gezogen werden. Aber nach ziemlich zwei Jahrzehnten solcher weltpolitischen Betätigung und Stimmung ist es allerdings erwünscht, daß wenige, aber klare Ziele und Richtungen sich herausarbeiten und mit voller Konzentration verfolgt werden. Denn darin liegt doch ein grundsätzlicher Unterschied, der auch bleiben wird, zwischen der englischen und deutschen Weltpolitik, daß die englische als die Politik einer überragenden Seemacht sich nach allen oder wenigstens vielen Richtungen erfolgreich betätigen kann, der deutschen aber bei der geographischen Lage dieser ausgesprochenen Landmacht das nur in wenigen oder nur in einer Richtung erfolgreich möglich ist. Unsere Schrift legt nun allen Nachdruck darauf, daß dies nur in einer Richtung möglich sei, und sucht als solche die Betätigung in Mittelafrika zu er¬ weisen, anderseits die im nahen Orient als nicht nützlich und gefährlich darzustellen. Sie verlangt mit anderen Worten eine völlige Revidierung der Anschauung über Deutschlands Interessen im nahen Orient, die sich gerade in den letzten Jahren erst mehr zu verbreiten begann, und eine ausschließliche Konzentration deutscher Betätigung auf Zentralafrika. Es kommt nun darauf an, was man unter „Betätigung" versteht. Meint man damit lediglich die Schaffung wirtschaftlicher Interessen. Kapital- und Wareneinfuhr, Abgabe von Intelligenz in fremde Gebiete, fo ist nicht einzu¬ sehen, warum Deutschland mit seiner Kapitalkraft und seinem Überschuß an Intelligenz nicht in beiden Richtungen tätig sein könne, warum es nicht das eine tun und das andere nicht lassen solle. Versteht man aber unter solcher Betätigung die Schaffung einer mehr oder minder ausschließlich für Deutschland reservierten Interessensphäre, die gegebenenfalls auch politisch und militärisch zu verteidigen sei, so liegen die Dinge anders, und diese Schrift erwirbt sich im gegenwärtigen Augenblick ganz zweifellos ein Verdienst, wenn sie zu erneutem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/457>, abgerufen am 28.07.2024.