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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche weltpolitik nach der Grientkrisis

sehen gelernt, daß die alten Pläne Peters und Katharinas der Zweiten
auf eine Ausdehnung des russischen Reiches in die Gebiete der orthodoxen
Balkanslawen nicht durchführbar sind. Außerdem aber bleibt das realste
Interesse Rußlands an der europäischen Seite dieser Frage durch die Entwick¬
lung des letzten Winters ganz unberührt: die Frage der freien Durchfahrt
durch Bosporus und Dardanellen. Da Bulgarien nicht in den Besitz Kon¬
stantinopels gekommen ist, bleibt diese Frage nach wie vor unverändert und
kann Rußland eine Gelegenheit abwarten, die ihm diese für seine Machtent¬
wicklung unbedingt notwendige Durchfahrt gewährt. Zudem aber hat der Krieg
ja auch in keiner Weise die Interessen Rußlands in Kleinasien betroffen, wo
eine möglicherweise in nicht zu ferner Zeit einsetzende Expansion Rußlands es
für jene Verschiebung schadlos halten wird.

Dagegen ist die Konsequenz aus den Entscheidungen dieses Winters für
den österreichischen Staat doch unerfreulich genug, und das muß zurück¬
wirken auf die Art, in der wir in Deutschland das ganze Problem betrachten.
Österreich hat definitiv, so weit man dieses Wort politisch überhaupt aus¬
sprechen darf, jene nach Südosteuropa gerichtete Politik aufgeben müssen, die
in früherer Zeit mit dem Namen des Prinzen Eugen verbunden wurde, die
es dann eineinhalb Jahrhundert -- seit der Aufgabe von Belgrad -- gänzlich
liegen ließ und zu der es in der Neuzeit drei Anläufe nahm: unter dem
Grafen Andrassy, unter dem Freiherrn von Aehrenthal und unter dem Grafen
Berchthold.

Uns beschäftigen naturgemäß die beiden letzten Vorstöße am nächsten. Es ist
keine Frage, daß sie mit ihrem anscheinend deutlich ausgesprochenen Willen zu
einer aktiven Orientpolitik Österreichs in Deutschland mit lebhafter Zustimmung
begleitet worden sind. Alles, was den mit uns auf das engste verbundenen
österreichischen Staat konsolidiert, -- und das tut eine energische und einheitlich
nach außen betriebene Politik immer -- mußte und muß uns hochwillkomner
sein. Und darum ist es auch für den Deutschen doch schmerzlich zu sehen, daß
diese beiden Anläufe in der Hauptsache gescheitert sind und zwar so, daß eine
Wiederaufnahme jener österreichischen Politik im früheren Sinne nicht möglich
ist. Ich glaube nicht, daß der endgültige Besitz Bosniens und der Herzegowina
die Preisgabe des Sandjak aufwiegt, und vor allem den endgültigen Verlust
von Saloniki, dessen große Bedeutung für Österreich z. B. der verstorbene Kron¬
prinz Rudolph lebhaft betonte Denn auch daß den Serben der Zugang zur
Adria verwehrt ist, daß Skutari von Montenegro geräumt wurde und die
albanische Frage im österreichischen Sinne der Lösung zugeführt werden soll,
ist dafür ebensowenig ein Äquivalent, wie die an sich und für den Dreibund
hocherfreuliche Tatsache, daß die ganze Krisis Italien und Österreich einander
näher geführt hat.

Der Reichsdeutsche vermag sich kein Urteil zu bilden über die Einzel¬
heiten der österreichischen Politik in diesem Winter und es widerstrebt uns


Deutsche weltpolitik nach der Grientkrisis

sehen gelernt, daß die alten Pläne Peters und Katharinas der Zweiten
auf eine Ausdehnung des russischen Reiches in die Gebiete der orthodoxen
Balkanslawen nicht durchführbar sind. Außerdem aber bleibt das realste
Interesse Rußlands an der europäischen Seite dieser Frage durch die Entwick¬
lung des letzten Winters ganz unberührt: die Frage der freien Durchfahrt
durch Bosporus und Dardanellen. Da Bulgarien nicht in den Besitz Kon¬
stantinopels gekommen ist, bleibt diese Frage nach wie vor unverändert und
kann Rußland eine Gelegenheit abwarten, die ihm diese für seine Machtent¬
wicklung unbedingt notwendige Durchfahrt gewährt. Zudem aber hat der Krieg
ja auch in keiner Weise die Interessen Rußlands in Kleinasien betroffen, wo
eine möglicherweise in nicht zu ferner Zeit einsetzende Expansion Rußlands es
für jene Verschiebung schadlos halten wird.

Dagegen ist die Konsequenz aus den Entscheidungen dieses Winters für
den österreichischen Staat doch unerfreulich genug, und das muß zurück¬
wirken auf die Art, in der wir in Deutschland das ganze Problem betrachten.
Österreich hat definitiv, so weit man dieses Wort politisch überhaupt aus¬
sprechen darf, jene nach Südosteuropa gerichtete Politik aufgeben müssen, die
in früherer Zeit mit dem Namen des Prinzen Eugen verbunden wurde, die
es dann eineinhalb Jahrhundert — seit der Aufgabe von Belgrad — gänzlich
liegen ließ und zu der es in der Neuzeit drei Anläufe nahm: unter dem
Grafen Andrassy, unter dem Freiherrn von Aehrenthal und unter dem Grafen
Berchthold.

Uns beschäftigen naturgemäß die beiden letzten Vorstöße am nächsten. Es ist
keine Frage, daß sie mit ihrem anscheinend deutlich ausgesprochenen Willen zu
einer aktiven Orientpolitik Österreichs in Deutschland mit lebhafter Zustimmung
begleitet worden sind. Alles, was den mit uns auf das engste verbundenen
österreichischen Staat konsolidiert, — und das tut eine energische und einheitlich
nach außen betriebene Politik immer — mußte und muß uns hochwillkomner
sein. Und darum ist es auch für den Deutschen doch schmerzlich zu sehen, daß
diese beiden Anläufe in der Hauptsache gescheitert sind und zwar so, daß eine
Wiederaufnahme jener österreichischen Politik im früheren Sinne nicht möglich
ist. Ich glaube nicht, daß der endgültige Besitz Bosniens und der Herzegowina
die Preisgabe des Sandjak aufwiegt, und vor allem den endgültigen Verlust
von Saloniki, dessen große Bedeutung für Österreich z. B. der verstorbene Kron¬
prinz Rudolph lebhaft betonte Denn auch daß den Serben der Zugang zur
Adria verwehrt ist, daß Skutari von Montenegro geräumt wurde und die
albanische Frage im österreichischen Sinne der Lösung zugeführt werden soll,
ist dafür ebensowenig ein Äquivalent, wie die an sich und für den Dreibund
hocherfreuliche Tatsache, daß die ganze Krisis Italien und Österreich einander
näher geführt hat.

Der Reichsdeutsche vermag sich kein Urteil zu bilden über die Einzel¬
heiten der österreichischen Politik in diesem Winter und es widerstrebt uns


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[0454] Deutsche weltpolitik nach der Grientkrisis sehen gelernt, daß die alten Pläne Peters und Katharinas der Zweiten auf eine Ausdehnung des russischen Reiches in die Gebiete der orthodoxen Balkanslawen nicht durchführbar sind. Außerdem aber bleibt das realste Interesse Rußlands an der europäischen Seite dieser Frage durch die Entwick¬ lung des letzten Winters ganz unberührt: die Frage der freien Durchfahrt durch Bosporus und Dardanellen. Da Bulgarien nicht in den Besitz Kon¬ stantinopels gekommen ist, bleibt diese Frage nach wie vor unverändert und kann Rußland eine Gelegenheit abwarten, die ihm diese für seine Machtent¬ wicklung unbedingt notwendige Durchfahrt gewährt. Zudem aber hat der Krieg ja auch in keiner Weise die Interessen Rußlands in Kleinasien betroffen, wo eine möglicherweise in nicht zu ferner Zeit einsetzende Expansion Rußlands es für jene Verschiebung schadlos halten wird. Dagegen ist die Konsequenz aus den Entscheidungen dieses Winters für den österreichischen Staat doch unerfreulich genug, und das muß zurück¬ wirken auf die Art, in der wir in Deutschland das ganze Problem betrachten. Österreich hat definitiv, so weit man dieses Wort politisch überhaupt aus¬ sprechen darf, jene nach Südosteuropa gerichtete Politik aufgeben müssen, die in früherer Zeit mit dem Namen des Prinzen Eugen verbunden wurde, die es dann eineinhalb Jahrhundert — seit der Aufgabe von Belgrad — gänzlich liegen ließ und zu der es in der Neuzeit drei Anläufe nahm: unter dem Grafen Andrassy, unter dem Freiherrn von Aehrenthal und unter dem Grafen Berchthold. Uns beschäftigen naturgemäß die beiden letzten Vorstöße am nächsten. Es ist keine Frage, daß sie mit ihrem anscheinend deutlich ausgesprochenen Willen zu einer aktiven Orientpolitik Österreichs in Deutschland mit lebhafter Zustimmung begleitet worden sind. Alles, was den mit uns auf das engste verbundenen österreichischen Staat konsolidiert, — und das tut eine energische und einheitlich nach außen betriebene Politik immer — mußte und muß uns hochwillkomner sein. Und darum ist es auch für den Deutschen doch schmerzlich zu sehen, daß diese beiden Anläufe in der Hauptsache gescheitert sind und zwar so, daß eine Wiederaufnahme jener österreichischen Politik im früheren Sinne nicht möglich ist. Ich glaube nicht, daß der endgültige Besitz Bosniens und der Herzegowina die Preisgabe des Sandjak aufwiegt, und vor allem den endgültigen Verlust von Saloniki, dessen große Bedeutung für Österreich z. B. der verstorbene Kron¬ prinz Rudolph lebhaft betonte Denn auch daß den Serben der Zugang zur Adria verwehrt ist, daß Skutari von Montenegro geräumt wurde und die albanische Frage im österreichischen Sinne der Lösung zugeführt werden soll, ist dafür ebensowenig ein Äquivalent, wie die an sich und für den Dreibund hocherfreuliche Tatsache, daß die ganze Krisis Italien und Österreich einander näher geführt hat. Der Reichsdeutsche vermag sich kein Urteil zu bilden über die Einzel¬ heiten der österreichischen Politik in diesem Winter und es widerstrebt uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/454>, abgerufen am 27.07.2024.