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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Weltpolitik nach der Grientkrisis
Prof. Dr. Gelo Hoetzsch i vonn

le Balkankrisis, die monatelang Europa in Atem und in manch¬
mal täglicher Erwartung des Kriegsausbruches gehalten hat, darf
als beendigt gelten, wenigstens insoweit, als die Beziehungen
und Interessen der großen Mächte dabei in Frage kommen. In
Rußland ist die besonnene und nur vom realen Interesse des
eigenen Reiches geleitete Staatskunst der Minister Sasonow und Kokowzow
siegreich geblieben gegenüber einer zwar kleinen, aber einflußreichen und sehr
viel Lärm machenden Gruppe. Wenn nun auch die Liquidation und das
Verhältnis der Balkanstaaten zueinander noch manche Schwierigkeiten machen
werden, so darf doch mit einer gewissen Sicherheit damit gerechnet werden,
daß in der nächsten Zeit aus diesem alten Hexenkessel keine internationalen
Verwicklungen hervorgehen werden.

Dafür haben sich die Großmächte nun mit der neuen Lage abzufinden.

Das wesentlichste daran ist zunächst doch, daß sich der Jahrhunderte alte
und dadurch historisch gewordene Gegensatz Österreichs und Rußlands in dieser
orientalischen Frage nun allmählich lösen muß. Zwischen beiden stehen die
emporgekommenen Balkanstaaten, namentlich Bulgarien, und schließen nach
menschlichem Ermessen territoriale Ausdehnung jener beiden in der orientalischen
Frage rivalisierenden Großmächte nunmehr aus. Das ist für den Frieden
Europas und für das europäische Konzert zweifellos ein Gewinn, weil die
damit sich anbahnende Friedlichkeit zwischen Rußland und Österreich naturgemäß
auf die Kriegsstimmung Frankreichs gegen Deutschland niederdrückend wirken muß.

Vom Standpunkt der beiden Großmächte ist dieser Ausgang freilich nicht
so erwünscht.

Rußland kann sich allerdings damit abfinden: seine ruhigen Politiker
haben schon seit dem Krimkrieg und dem Kriege von 1877 auf 1878 ein-


Grenzboten II 1913 29


Deutsche Weltpolitik nach der Grientkrisis
Prof. Dr. Gelo Hoetzsch i vonn

le Balkankrisis, die monatelang Europa in Atem und in manch¬
mal täglicher Erwartung des Kriegsausbruches gehalten hat, darf
als beendigt gelten, wenigstens insoweit, als die Beziehungen
und Interessen der großen Mächte dabei in Frage kommen. In
Rußland ist die besonnene und nur vom realen Interesse des
eigenen Reiches geleitete Staatskunst der Minister Sasonow und Kokowzow
siegreich geblieben gegenüber einer zwar kleinen, aber einflußreichen und sehr
viel Lärm machenden Gruppe. Wenn nun auch die Liquidation und das
Verhältnis der Balkanstaaten zueinander noch manche Schwierigkeiten machen
werden, so darf doch mit einer gewissen Sicherheit damit gerechnet werden,
daß in der nächsten Zeit aus diesem alten Hexenkessel keine internationalen
Verwicklungen hervorgehen werden.

Dafür haben sich die Großmächte nun mit der neuen Lage abzufinden.

Das wesentlichste daran ist zunächst doch, daß sich der Jahrhunderte alte
und dadurch historisch gewordene Gegensatz Österreichs und Rußlands in dieser
orientalischen Frage nun allmählich lösen muß. Zwischen beiden stehen die
emporgekommenen Balkanstaaten, namentlich Bulgarien, und schließen nach
menschlichem Ermessen territoriale Ausdehnung jener beiden in der orientalischen
Frage rivalisierenden Großmächte nunmehr aus. Das ist für den Frieden
Europas und für das europäische Konzert zweifellos ein Gewinn, weil die
damit sich anbahnende Friedlichkeit zwischen Rußland und Österreich naturgemäß
auf die Kriegsstimmung Frankreichs gegen Deutschland niederdrückend wirken muß.

Vom Standpunkt der beiden Großmächte ist dieser Ausgang freilich nicht
so erwünscht.

Rußland kann sich allerdings damit abfinden: seine ruhigen Politiker
haben schon seit dem Krimkrieg und dem Kriege von 1877 auf 1878 ein-


Grenzboten II 1913 29
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[0453] [Abbildung] Deutsche Weltpolitik nach der Grientkrisis Prof. Dr. Gelo Hoetzsch i vonn le Balkankrisis, die monatelang Europa in Atem und in manch¬ mal täglicher Erwartung des Kriegsausbruches gehalten hat, darf als beendigt gelten, wenigstens insoweit, als die Beziehungen und Interessen der großen Mächte dabei in Frage kommen. In Rußland ist die besonnene und nur vom realen Interesse des eigenen Reiches geleitete Staatskunst der Minister Sasonow und Kokowzow siegreich geblieben gegenüber einer zwar kleinen, aber einflußreichen und sehr viel Lärm machenden Gruppe. Wenn nun auch die Liquidation und das Verhältnis der Balkanstaaten zueinander noch manche Schwierigkeiten machen werden, so darf doch mit einer gewissen Sicherheit damit gerechnet werden, daß in der nächsten Zeit aus diesem alten Hexenkessel keine internationalen Verwicklungen hervorgehen werden. Dafür haben sich die Großmächte nun mit der neuen Lage abzufinden. Das wesentlichste daran ist zunächst doch, daß sich der Jahrhunderte alte und dadurch historisch gewordene Gegensatz Österreichs und Rußlands in dieser orientalischen Frage nun allmählich lösen muß. Zwischen beiden stehen die emporgekommenen Balkanstaaten, namentlich Bulgarien, und schließen nach menschlichem Ermessen territoriale Ausdehnung jener beiden in der orientalischen Frage rivalisierenden Großmächte nunmehr aus. Das ist für den Frieden Europas und für das europäische Konzert zweifellos ein Gewinn, weil die damit sich anbahnende Friedlichkeit zwischen Rußland und Österreich naturgemäß auf die Kriegsstimmung Frankreichs gegen Deutschland niederdrückend wirken muß. Vom Standpunkt der beiden Großmächte ist dieser Ausgang freilich nicht so erwünscht. Rußland kann sich allerdings damit abfinden: seine ruhigen Politiker haben schon seit dem Krimkrieg und dem Kriege von 1877 auf 1878 ein- Grenzboten II 1913 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/453>, abgerufen am 27.07.2024.