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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Politik

Kiderlen und die Marokkokrise. Im
Heidelberger Tageblatt findet sich folgende
Notiz:

"Herr von Kiderlen - Waechter, der ver¬
storbene Staatssekretär des Auswärtigen Amtes,
ist, belastet mit dem Vorwurf der Unwahrheit
und der Fälschung, ins Grab gegangen. Er
hat es nie versucht, die altdeutsche Anklage zu
widerlegen. Aber nach seinem Tode haben
sich der Berliner Journalist Cleinow und
der Stuttgarter Historiker Egelhaaf bemüht,
den Staatssekretär reinzuwaschen. Man ver¬
suchte, zu beweisen, daß Herr von Kiderlen-
Waechter nie daran gedacht habe, in Marokko
deutsches Kolonialland zu erwerben und daß
er sich auch über die Lage in der Türkei
keineswegs getäuscht habe."

Diese Notiz stützt sich auf Angaben des
Herrn Dr. Albrecht Wirth.

Welche Berechtigung die gegen Kiderlen
erhobenen Vorwürfe haben, ergibt sich u. a.
aus einem Schreiben des verstorbenen Staats¬
sekretärs, datiert Berlin, den 8. Mai 1911,
also etwa sieben Wochen vor der Entsendung
des "Panther" nach Agadir, in dem sich fol¬
gende Stelle findet:

". . . der Reichstag gönnt nur offenbar
den Urlaub nicht, während sie hier schwitzen I
Heute fragten sie bei mir an, ob nicht eine
Jnterpellation über Marokko .den deutschen
Interessen nützlich sein und unsere Politik
fordern könne'. Du kannst Dir denken, daß
ich deutlich abgewunken habet Ich sehe die

[Spaltenumbruch]

marokkanische Sache mit Ruhe heranreifen;
den Franzosen ist dabei sehr unheimlich zu
Mute und je mehr wir uns ausschweigen,
desto unheimlicher wird eS ihnen. Da wäre
es doch töricht jetzt zu sagen, daß wir wegen
Marokko nicht vom Leder ziehen, oder, wie
wir es bisher taten, uns in Drohungen zu
ergehen, die wir nachher doch nicht aus¬
führen I! Sie werden schon ohne unser Zutun
ein Haar in der marokkanischen Suppe
findenI ..."'

In einem Brief, Berlin, den 18. Juli
1911, also nach Agadir, heißt es: ". . . es
geht ziemlich lebhaft zu. Ich bekomme Stöße
von anonymen oder von Unbekannten unter¬
schriebenen Karten und Briefen mit Zustim¬
mung zu Agadir. Diese amüsieren mich
ebenso wie die begeisterten Zeitungsartikel --
nachher wird das Lamento und Geschimpfe
um so größer sein. Ich freue mich schon
darauf! Denn das fällt mir doch nicht ein,
Südmarokko zu besetzen, wo wir außer den
Franzosen auch noch die Engländer auf dem
Hals hätten und wo wir ständig eine ansehn¬
liche Truppenmacht unterhalten müßten. Da
heißt es immer, die Marokkaner empfingen
uns mit offenen Armen. Ja, jetzt, wo wir
ihnen als Popanz gegen die Franzosen
dienen; aber das wäre gleich anders, wenn
wir das Land für uns besetzen wollten, dann
hätten wir die gleichen Schwierigkeiten wie
die Franzosen und größere; denn wir sind
Weiter ab und die Berber im Süden sind viel
streitbarer als die Araber im Norden. . .

G. Li. [Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Politik

Kiderlen und die Marokkokrise. Im
Heidelberger Tageblatt findet sich folgende
Notiz:

„Herr von Kiderlen - Waechter, der ver¬
storbene Staatssekretär des Auswärtigen Amtes,
ist, belastet mit dem Vorwurf der Unwahrheit
und der Fälschung, ins Grab gegangen. Er
hat es nie versucht, die altdeutsche Anklage zu
widerlegen. Aber nach seinem Tode haben
sich der Berliner Journalist Cleinow und
der Stuttgarter Historiker Egelhaaf bemüht,
den Staatssekretär reinzuwaschen. Man ver¬
suchte, zu beweisen, daß Herr von Kiderlen-
Waechter nie daran gedacht habe, in Marokko
deutsches Kolonialland zu erwerben und daß
er sich auch über die Lage in der Türkei
keineswegs getäuscht habe."

Diese Notiz stützt sich auf Angaben des
Herrn Dr. Albrecht Wirth.

Welche Berechtigung die gegen Kiderlen
erhobenen Vorwürfe haben, ergibt sich u. a.
aus einem Schreiben des verstorbenen Staats¬
sekretärs, datiert Berlin, den 8. Mai 1911,
also etwa sieben Wochen vor der Entsendung
des „Panther" nach Agadir, in dem sich fol¬
gende Stelle findet:

„. . . der Reichstag gönnt nur offenbar
den Urlaub nicht, während sie hier schwitzen I
Heute fragten sie bei mir an, ob nicht eine
Jnterpellation über Marokko .den deutschen
Interessen nützlich sein und unsere Politik
fordern könne'. Du kannst Dir denken, daß
ich deutlich abgewunken habet Ich sehe die

[Spaltenumbruch]

marokkanische Sache mit Ruhe heranreifen;
den Franzosen ist dabei sehr unheimlich zu
Mute und je mehr wir uns ausschweigen,
desto unheimlicher wird eS ihnen. Da wäre
es doch töricht jetzt zu sagen, daß wir wegen
Marokko nicht vom Leder ziehen, oder, wie
wir es bisher taten, uns in Drohungen zu
ergehen, die wir nachher doch nicht aus¬
führen I! Sie werden schon ohne unser Zutun
ein Haar in der marokkanischen Suppe
findenI ..."'

In einem Brief, Berlin, den 18. Juli
1911, also nach Agadir, heißt es: „. . . es
geht ziemlich lebhaft zu. Ich bekomme Stöße
von anonymen oder von Unbekannten unter¬
schriebenen Karten und Briefen mit Zustim¬
mung zu Agadir. Diese amüsieren mich
ebenso wie die begeisterten Zeitungsartikel —
nachher wird das Lamento und Geschimpfe
um so größer sein. Ich freue mich schon
darauf! Denn das fällt mir doch nicht ein,
Südmarokko zu besetzen, wo wir außer den
Franzosen auch noch die Engländer auf dem
Hals hätten und wo wir ständig eine ansehn¬
liche Truppenmacht unterhalten müßten. Da
heißt es immer, die Marokkaner empfingen
uns mit offenen Armen. Ja, jetzt, wo wir
ihnen als Popanz gegen die Franzosen
dienen; aber das wäre gleich anders, wenn
wir das Land für uns besetzen wollten, dann
hätten wir die gleichen Schwierigkeiten wie
die Franzosen und größere; denn wir sind
Weiter ab und die Berber im Süden sind viel
streitbarer als die Araber im Norden. . .

G. Li. [Ende Spaltensatz]
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[0445] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Politik Kiderlen und die Marokkokrise. Im Heidelberger Tageblatt findet sich folgende Notiz: „Herr von Kiderlen - Waechter, der ver¬ storbene Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, ist, belastet mit dem Vorwurf der Unwahrheit und der Fälschung, ins Grab gegangen. Er hat es nie versucht, die altdeutsche Anklage zu widerlegen. Aber nach seinem Tode haben sich der Berliner Journalist Cleinow und der Stuttgarter Historiker Egelhaaf bemüht, den Staatssekretär reinzuwaschen. Man ver¬ suchte, zu beweisen, daß Herr von Kiderlen- Waechter nie daran gedacht habe, in Marokko deutsches Kolonialland zu erwerben und daß er sich auch über die Lage in der Türkei keineswegs getäuscht habe." Diese Notiz stützt sich auf Angaben des Herrn Dr. Albrecht Wirth. Welche Berechtigung die gegen Kiderlen erhobenen Vorwürfe haben, ergibt sich u. a. aus einem Schreiben des verstorbenen Staats¬ sekretärs, datiert Berlin, den 8. Mai 1911, also etwa sieben Wochen vor der Entsendung des „Panther" nach Agadir, in dem sich fol¬ gende Stelle findet: „. . . der Reichstag gönnt nur offenbar den Urlaub nicht, während sie hier schwitzen I Heute fragten sie bei mir an, ob nicht eine Jnterpellation über Marokko .den deutschen Interessen nützlich sein und unsere Politik fordern könne'. Du kannst Dir denken, daß ich deutlich abgewunken habet Ich sehe die marokkanische Sache mit Ruhe heranreifen; den Franzosen ist dabei sehr unheimlich zu Mute und je mehr wir uns ausschweigen, desto unheimlicher wird eS ihnen. Da wäre es doch töricht jetzt zu sagen, daß wir wegen Marokko nicht vom Leder ziehen, oder, wie wir es bisher taten, uns in Drohungen zu ergehen, die wir nachher doch nicht aus¬ führen I! Sie werden schon ohne unser Zutun ein Haar in der marokkanischen Suppe findenI ..."' In einem Brief, Berlin, den 18. Juli 1911, also nach Agadir, heißt es: „. . . es geht ziemlich lebhaft zu. Ich bekomme Stöße von anonymen oder von Unbekannten unter¬ schriebenen Karten und Briefen mit Zustim¬ mung zu Agadir. Diese amüsieren mich ebenso wie die begeisterten Zeitungsartikel — nachher wird das Lamento und Geschimpfe um so größer sein. Ich freue mich schon darauf! Denn das fällt mir doch nicht ein, Südmarokko zu besetzen, wo wir außer den Franzosen auch noch die Engländer auf dem Hals hätten und wo wir ständig eine ansehn¬ liche Truppenmacht unterhalten müßten. Da heißt es immer, die Marokkaner empfingen uns mit offenen Armen. Ja, jetzt, wo wir ihnen als Popanz gegen die Franzosen dienen; aber das wäre gleich anders, wenn wir das Land für uns besetzen wollten, dann hätten wir die gleichen Schwierigkeiten wie die Franzosen und größere; denn wir sind Weiter ab und die Berber im Süden sind viel streitbarer als die Araber im Norden. . . G. Li.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/445>, abgerufen am 30.12.2024.