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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Jndifferentismus in der Literatur

Wurst, Butter in dicken Stangen", die Jalousien, das Wiener Schnitzel, die
Pflastersteine, die Redaktionsbriefe: alle sind ihm Objekte dichterischer Begeiste¬
rung. Man könnte ihn den Romantiker des Allerlei nennen. Gleich Johannes
V. Imsen hat er jene Schönheit erschaut, die, einem Fluidum gleich, ein jedes
Ding durchdringt und sei es das bisher von der Allgemeinheit als häßlichstes
Verworfene. Gleich Johannes V. Imsen ist ihm der moderne Atem, das
immerwährende Einander-Übersteigen aller Empfindungen und Industrien, die
subtile Bewegtheit der Großstädte und der Zinshäuser, die Kompliziertheit unserer
Denkprozesse ein Märchenland von einer solchen Überfülle noch nicht begriffener
und noch nicht gestalteter künstlerischer Werte, daß er wie ein Betrunkener von
einem Ding zum andern taumelt, alle an sich zieht und seine Gedichte bis ins
letzte Wort mit ihnen vollpreßt. Der indifferentistische Grundzug seines Wesens,
der ihm die Fähigkeit schenkte, alles zu erkennen, hat sich, da seit dem "Schloß
Nornepygge" das Gefühl für die Glückseligkeit des Lebens und der Wille zur
Hingabe aufbrachen, zu einem ekstatischen gesteigert. Und man könnte sein ganzes
bisheriges Schaffen als Ekstase des Beseligten (auch die leiderfüllte Träne gilt ihm als
köstliches Geschenk) überschreiben oder als einen Hymnus an das Leben im Kleinen.

Vielleicht, daß sich mit Max Brod und seiner Schule, die heute schon
ziemlich weitreichend ist und erst vor kurzer Zeit in einer Lyrikanthologie "Der
Kondor" ihr Manifest niedergelegt hat, ein Kreislauf schließen will, der mit
der klassischen Sturm- und Drangzeit begonnen hat. Aus der scheinbaren Wirr¬
heit des immer Werdenden lugt in der Rückschau der rote Faden Gesetz¬
mäßigkeit stets aufs neue hervor. Den Klassikern, die einen neuen Kreislauf
mit Revolution in Bewegung setzen, folgte die Romantik, ihr der naturalistische
Realismus, dem jetzt der Jndifferentismus, als letzte Steigerung, ein Ende setzt
und damit dem ganzen Kreis. Der Gleichsetzung alles Bestehenden, der neu¬
tralen Stellungnahme zwischen positiver und negativer Lebensbetrachtung kann
nichts mehr folgen als eine neue revolutionäre Reaktion: ein neuer Klassizismus.
Auf die Gleichsetzung alles Bestehenden in seiner Vielheit wird es abermals
heißen: nur ein zweierlei besteht -- ein positives und ein negatives Prinzip. Die
Welt: Ringen polarer Mächte. Und der Kunst Aufgabe sei es, der großen
Helle zuzuführen. Der Jndifferentismus aber ist die Überkultur selbst, der
Grenzfall des nach der Subtilität sich entwickelnden Menschen, der nächste Nachbar
der Passivität, die überwunden werden wird von einer Generation, die schon
an die Türen pocht und die kraft ihrer Einseitigkeit, ihres Verblendetseins dem
Gegner gegenüber wieder die starke Bewegung bringen wird. Die Geschichte aller
Künste lehrt es: der Überkultur folgen Umwälzungen, folgt ein abermaliges Be¬
ginnen. Folgt die Aufstellung einer neuen, harten, leuchtenden Moral im höchsten
Sinn. Folgt die kämpferische Führerschaft der Kunst. In einer solchen späteren
Zeit wird Brod als der Ausdruck des Überwundenen gelten: als ihr markanter
und ekstatischer Vertreter, als der Jndifferentist in der deutschen Literatur.




Jndifferentismus in der Literatur

Wurst, Butter in dicken Stangen", die Jalousien, das Wiener Schnitzel, die
Pflastersteine, die Redaktionsbriefe: alle sind ihm Objekte dichterischer Begeiste¬
rung. Man könnte ihn den Romantiker des Allerlei nennen. Gleich Johannes
V. Imsen hat er jene Schönheit erschaut, die, einem Fluidum gleich, ein jedes
Ding durchdringt und sei es das bisher von der Allgemeinheit als häßlichstes
Verworfene. Gleich Johannes V. Imsen ist ihm der moderne Atem, das
immerwährende Einander-Übersteigen aller Empfindungen und Industrien, die
subtile Bewegtheit der Großstädte und der Zinshäuser, die Kompliziertheit unserer
Denkprozesse ein Märchenland von einer solchen Überfülle noch nicht begriffener
und noch nicht gestalteter künstlerischer Werte, daß er wie ein Betrunkener von
einem Ding zum andern taumelt, alle an sich zieht und seine Gedichte bis ins
letzte Wort mit ihnen vollpreßt. Der indifferentistische Grundzug seines Wesens,
der ihm die Fähigkeit schenkte, alles zu erkennen, hat sich, da seit dem „Schloß
Nornepygge" das Gefühl für die Glückseligkeit des Lebens und der Wille zur
Hingabe aufbrachen, zu einem ekstatischen gesteigert. Und man könnte sein ganzes
bisheriges Schaffen als Ekstase des Beseligten (auch die leiderfüllte Träne gilt ihm als
köstliches Geschenk) überschreiben oder als einen Hymnus an das Leben im Kleinen.

Vielleicht, daß sich mit Max Brod und seiner Schule, die heute schon
ziemlich weitreichend ist und erst vor kurzer Zeit in einer Lyrikanthologie „Der
Kondor" ihr Manifest niedergelegt hat, ein Kreislauf schließen will, der mit
der klassischen Sturm- und Drangzeit begonnen hat. Aus der scheinbaren Wirr¬
heit des immer Werdenden lugt in der Rückschau der rote Faden Gesetz¬
mäßigkeit stets aufs neue hervor. Den Klassikern, die einen neuen Kreislauf
mit Revolution in Bewegung setzen, folgte die Romantik, ihr der naturalistische
Realismus, dem jetzt der Jndifferentismus, als letzte Steigerung, ein Ende setzt
und damit dem ganzen Kreis. Der Gleichsetzung alles Bestehenden, der neu¬
tralen Stellungnahme zwischen positiver und negativer Lebensbetrachtung kann
nichts mehr folgen als eine neue revolutionäre Reaktion: ein neuer Klassizismus.
Auf die Gleichsetzung alles Bestehenden in seiner Vielheit wird es abermals
heißen: nur ein zweierlei besteht — ein positives und ein negatives Prinzip. Die
Welt: Ringen polarer Mächte. Und der Kunst Aufgabe sei es, der großen
Helle zuzuführen. Der Jndifferentismus aber ist die Überkultur selbst, der
Grenzfall des nach der Subtilität sich entwickelnden Menschen, der nächste Nachbar
der Passivität, die überwunden werden wird von einer Generation, die schon
an die Türen pocht und die kraft ihrer Einseitigkeit, ihres Verblendetseins dem
Gegner gegenüber wieder die starke Bewegung bringen wird. Die Geschichte aller
Künste lehrt es: der Überkultur folgen Umwälzungen, folgt ein abermaliges Be¬
ginnen. Folgt die Aufstellung einer neuen, harten, leuchtenden Moral im höchsten
Sinn. Folgt die kämpferische Führerschaft der Kunst. In einer solchen späteren
Zeit wird Brod als der Ausdruck des Überwundenen gelten: als ihr markanter
und ekstatischer Vertreter, als der Jndifferentist in der deutschen Literatur.




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[0430] Jndifferentismus in der Literatur Wurst, Butter in dicken Stangen", die Jalousien, das Wiener Schnitzel, die Pflastersteine, die Redaktionsbriefe: alle sind ihm Objekte dichterischer Begeiste¬ rung. Man könnte ihn den Romantiker des Allerlei nennen. Gleich Johannes V. Imsen hat er jene Schönheit erschaut, die, einem Fluidum gleich, ein jedes Ding durchdringt und sei es das bisher von der Allgemeinheit als häßlichstes Verworfene. Gleich Johannes V. Imsen ist ihm der moderne Atem, das immerwährende Einander-Übersteigen aller Empfindungen und Industrien, die subtile Bewegtheit der Großstädte und der Zinshäuser, die Kompliziertheit unserer Denkprozesse ein Märchenland von einer solchen Überfülle noch nicht begriffener und noch nicht gestalteter künstlerischer Werte, daß er wie ein Betrunkener von einem Ding zum andern taumelt, alle an sich zieht und seine Gedichte bis ins letzte Wort mit ihnen vollpreßt. Der indifferentistische Grundzug seines Wesens, der ihm die Fähigkeit schenkte, alles zu erkennen, hat sich, da seit dem „Schloß Nornepygge" das Gefühl für die Glückseligkeit des Lebens und der Wille zur Hingabe aufbrachen, zu einem ekstatischen gesteigert. Und man könnte sein ganzes bisheriges Schaffen als Ekstase des Beseligten (auch die leiderfüllte Träne gilt ihm als köstliches Geschenk) überschreiben oder als einen Hymnus an das Leben im Kleinen. Vielleicht, daß sich mit Max Brod und seiner Schule, die heute schon ziemlich weitreichend ist und erst vor kurzer Zeit in einer Lyrikanthologie „Der Kondor" ihr Manifest niedergelegt hat, ein Kreislauf schließen will, der mit der klassischen Sturm- und Drangzeit begonnen hat. Aus der scheinbaren Wirr¬ heit des immer Werdenden lugt in der Rückschau der rote Faden Gesetz¬ mäßigkeit stets aufs neue hervor. Den Klassikern, die einen neuen Kreislauf mit Revolution in Bewegung setzen, folgte die Romantik, ihr der naturalistische Realismus, dem jetzt der Jndifferentismus, als letzte Steigerung, ein Ende setzt und damit dem ganzen Kreis. Der Gleichsetzung alles Bestehenden, der neu¬ tralen Stellungnahme zwischen positiver und negativer Lebensbetrachtung kann nichts mehr folgen als eine neue revolutionäre Reaktion: ein neuer Klassizismus. Auf die Gleichsetzung alles Bestehenden in seiner Vielheit wird es abermals heißen: nur ein zweierlei besteht — ein positives und ein negatives Prinzip. Die Welt: Ringen polarer Mächte. Und der Kunst Aufgabe sei es, der großen Helle zuzuführen. Der Jndifferentismus aber ist die Überkultur selbst, der Grenzfall des nach der Subtilität sich entwickelnden Menschen, der nächste Nachbar der Passivität, die überwunden werden wird von einer Generation, die schon an die Türen pocht und die kraft ihrer Einseitigkeit, ihres Verblendetseins dem Gegner gegenüber wieder die starke Bewegung bringen wird. Die Geschichte aller Künste lehrt es: der Überkultur folgen Umwälzungen, folgt ein abermaliges Be¬ ginnen. Folgt die Aufstellung einer neuen, harten, leuchtenden Moral im höchsten Sinn. Folgt die kämpferische Führerschaft der Kunst. In einer solchen späteren Zeit wird Brod als der Ausdruck des Überwundenen gelten: als ihr markanter und ekstatischer Vertreter, als der Jndifferentist in der deutschen Literatur.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/430>, abgerufen am 22.12.2024.