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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Jndifferentismus in der Literatur

legöre Sich - Gehn - Lassen, ein wenig Träumen, Sinnen, Betrachten, ein
Ästhetentum an die Form hingegeben, willen- und tatenlos, das die Jugend
von heute gerne trägt, -- ob es nun Veranlagung oder verliebte Pose ist -- es ist
in den Büchern Brods gestaltet. Er selbst schreibt irgendeinmal von sich, er
habe immer nur "nachdenkliche Jünglinge" gezeichnet; aber sie sind nicht nur
nachdenklich, sie sind ebenso untätig, spielerisch und an das Tausenderlei hin¬
gegeben. Jener Carus seiner ersten Novellenbücher*) ist der von seinen un¬
wichtigen, spielerischen Launen Eingenommene: heute Mitglied eines Knabenklubs,
um ein Mädchen aus gutem Haus zur Dirne zu erziehen, morgen mit der
sentimentalen Ruschanka für einen Sommer ein Verhältnis eingehend, um es,
sobald es Kampf kosten würde, melancholisch zu lösen, übermorgen hält er
in irgendeinem Seebad vor der unbedingten Stupidität einer zusammen¬
gewürfelten Gesellschaft Vorträge über Wien, Gustav Mahler und Pavillon¬
architektur. Diese ersten Bücher: ein krampfhaftes Bemühen, die Viel¬
gestaltigkeit des Lebens zu fassen, das Ringelspiel immer wiederkehrender und
doch erfreulicher Abwechslungen zu beweisen -- aber ein Bemühen, das scheitern
muß an der noch unreifen, oft kindischen Gestaltung, an der Sucht nach Origi¬
nalität um jeden Preis. Dem Erinnern bleibt aus diesen Büchern nur das
Verschwimmende einer Gesellschaft, die aus Dekadenz immer das Letzte will, die
langweilige Herzlosigkeit von Experimenten am Menschendasein und das Zersetzt¬
sein jeder Lebensbewegung. Und nichts anderes bedeuten sie, als Tastversuche,
den Jndifferentismus auf einzelnen Tendenzen, sei es Eleganz oder Liebe oder
Erotik, zu erproben.

In "Schloß Nornepygge", dem Roman des Indifferenten, erscheint nun
alles zusammengefaßt: nicht nach einer bestimmten, vereinzelten Richtung hin
versucht der Held, seinen Jndifferentismus geltend zu machen, nein, er ist
der Indifferente selbst, der Haltlose, der Stillose, der alles Begreifende. Und
vor allen:: er ist der unersättliche Freiheitsdurstige. Der Mensch wäre nur
frei, wenn er alles sein könnte. Der Mensch mit Prinzipien und Stil ist der
freiwillig Unfreie. In seinen Charakter, in seinen Beruf, in seine Neigungen,
in seine Weltanschauung eingezwängt, fehlt ihm alle Möglichkeit, anders zu sein.
Freilich ist die große wirkliche Freiheit nur das imaginäre Ziel. Aber der
Indifferente, tausend Daseinsmöglichkeiten verstehend, von einer positiven Be¬
jahung der Welt ebenso weit entfernt wie von einer negativen, steht dieser
Freiheit näher als der Mensch mit einem ausgesprochenen persönlichen Stil.
Er erreicht die größtmöglichste Ungebundenheit.

Soweit wäre alles dazu angetan, die Glückseligkeit des indifferentistischen
Daseins zu beweisen. Ergäbe sich nur nicht die letzte Folgerung. Wälder, der
Held des Buches, muß durch den bis ins letzte durchgeführten Jndifferentismus
zur Passivität gelangen. Durch und hinter die Dinge schauend, erkennt er die



*) "Tod den TotenI" "Experimente," (1907.) "Die Erziehung zur Hetäre." Sind
wie alle Bücher BrodS bei Axel Juncker, Berlin-Charlottenburg, erschienen.
Jndifferentismus in der Literatur

legöre Sich - Gehn - Lassen, ein wenig Träumen, Sinnen, Betrachten, ein
Ästhetentum an die Form hingegeben, willen- und tatenlos, das die Jugend
von heute gerne trägt, — ob es nun Veranlagung oder verliebte Pose ist — es ist
in den Büchern Brods gestaltet. Er selbst schreibt irgendeinmal von sich, er
habe immer nur „nachdenkliche Jünglinge" gezeichnet; aber sie sind nicht nur
nachdenklich, sie sind ebenso untätig, spielerisch und an das Tausenderlei hin¬
gegeben. Jener Carus seiner ersten Novellenbücher*) ist der von seinen un¬
wichtigen, spielerischen Launen Eingenommene: heute Mitglied eines Knabenklubs,
um ein Mädchen aus gutem Haus zur Dirne zu erziehen, morgen mit der
sentimentalen Ruschanka für einen Sommer ein Verhältnis eingehend, um es,
sobald es Kampf kosten würde, melancholisch zu lösen, übermorgen hält er
in irgendeinem Seebad vor der unbedingten Stupidität einer zusammen¬
gewürfelten Gesellschaft Vorträge über Wien, Gustav Mahler und Pavillon¬
architektur. Diese ersten Bücher: ein krampfhaftes Bemühen, die Viel¬
gestaltigkeit des Lebens zu fassen, das Ringelspiel immer wiederkehrender und
doch erfreulicher Abwechslungen zu beweisen — aber ein Bemühen, das scheitern
muß an der noch unreifen, oft kindischen Gestaltung, an der Sucht nach Origi¬
nalität um jeden Preis. Dem Erinnern bleibt aus diesen Büchern nur das
Verschwimmende einer Gesellschaft, die aus Dekadenz immer das Letzte will, die
langweilige Herzlosigkeit von Experimenten am Menschendasein und das Zersetzt¬
sein jeder Lebensbewegung. Und nichts anderes bedeuten sie, als Tastversuche,
den Jndifferentismus auf einzelnen Tendenzen, sei es Eleganz oder Liebe oder
Erotik, zu erproben.

In „Schloß Nornepygge", dem Roman des Indifferenten, erscheint nun
alles zusammengefaßt: nicht nach einer bestimmten, vereinzelten Richtung hin
versucht der Held, seinen Jndifferentismus geltend zu machen, nein, er ist
der Indifferente selbst, der Haltlose, der Stillose, der alles Begreifende. Und
vor allen:: er ist der unersättliche Freiheitsdurstige. Der Mensch wäre nur
frei, wenn er alles sein könnte. Der Mensch mit Prinzipien und Stil ist der
freiwillig Unfreie. In seinen Charakter, in seinen Beruf, in seine Neigungen,
in seine Weltanschauung eingezwängt, fehlt ihm alle Möglichkeit, anders zu sein.
Freilich ist die große wirkliche Freiheit nur das imaginäre Ziel. Aber der
Indifferente, tausend Daseinsmöglichkeiten verstehend, von einer positiven Be¬
jahung der Welt ebenso weit entfernt wie von einer negativen, steht dieser
Freiheit näher als der Mensch mit einem ausgesprochenen persönlichen Stil.
Er erreicht die größtmöglichste Ungebundenheit.

Soweit wäre alles dazu angetan, die Glückseligkeit des indifferentistischen
Daseins zu beweisen. Ergäbe sich nur nicht die letzte Folgerung. Wälder, der
Held des Buches, muß durch den bis ins letzte durchgeführten Jndifferentismus
zur Passivität gelangen. Durch und hinter die Dinge schauend, erkennt er die



*) „Tod den TotenI" „Experimente," (1907.) „Die Erziehung zur Hetäre." Sind
wie alle Bücher BrodS bei Axel Juncker, Berlin-Charlottenburg, erschienen.
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[0426] Jndifferentismus in der Literatur legöre Sich - Gehn - Lassen, ein wenig Träumen, Sinnen, Betrachten, ein Ästhetentum an die Form hingegeben, willen- und tatenlos, das die Jugend von heute gerne trägt, — ob es nun Veranlagung oder verliebte Pose ist — es ist in den Büchern Brods gestaltet. Er selbst schreibt irgendeinmal von sich, er habe immer nur „nachdenkliche Jünglinge" gezeichnet; aber sie sind nicht nur nachdenklich, sie sind ebenso untätig, spielerisch und an das Tausenderlei hin¬ gegeben. Jener Carus seiner ersten Novellenbücher*) ist der von seinen un¬ wichtigen, spielerischen Launen Eingenommene: heute Mitglied eines Knabenklubs, um ein Mädchen aus gutem Haus zur Dirne zu erziehen, morgen mit der sentimentalen Ruschanka für einen Sommer ein Verhältnis eingehend, um es, sobald es Kampf kosten würde, melancholisch zu lösen, übermorgen hält er in irgendeinem Seebad vor der unbedingten Stupidität einer zusammen¬ gewürfelten Gesellschaft Vorträge über Wien, Gustav Mahler und Pavillon¬ architektur. Diese ersten Bücher: ein krampfhaftes Bemühen, die Viel¬ gestaltigkeit des Lebens zu fassen, das Ringelspiel immer wiederkehrender und doch erfreulicher Abwechslungen zu beweisen — aber ein Bemühen, das scheitern muß an der noch unreifen, oft kindischen Gestaltung, an der Sucht nach Origi¬ nalität um jeden Preis. Dem Erinnern bleibt aus diesen Büchern nur das Verschwimmende einer Gesellschaft, die aus Dekadenz immer das Letzte will, die langweilige Herzlosigkeit von Experimenten am Menschendasein und das Zersetzt¬ sein jeder Lebensbewegung. Und nichts anderes bedeuten sie, als Tastversuche, den Jndifferentismus auf einzelnen Tendenzen, sei es Eleganz oder Liebe oder Erotik, zu erproben. In „Schloß Nornepygge", dem Roman des Indifferenten, erscheint nun alles zusammengefaßt: nicht nach einer bestimmten, vereinzelten Richtung hin versucht der Held, seinen Jndifferentismus geltend zu machen, nein, er ist der Indifferente selbst, der Haltlose, der Stillose, der alles Begreifende. Und vor allen:: er ist der unersättliche Freiheitsdurstige. Der Mensch wäre nur frei, wenn er alles sein könnte. Der Mensch mit Prinzipien und Stil ist der freiwillig Unfreie. In seinen Charakter, in seinen Beruf, in seine Neigungen, in seine Weltanschauung eingezwängt, fehlt ihm alle Möglichkeit, anders zu sein. Freilich ist die große wirkliche Freiheit nur das imaginäre Ziel. Aber der Indifferente, tausend Daseinsmöglichkeiten verstehend, von einer positiven Be¬ jahung der Welt ebenso weit entfernt wie von einer negativen, steht dieser Freiheit näher als der Mensch mit einem ausgesprochenen persönlichen Stil. Er erreicht die größtmöglichste Ungebundenheit. Soweit wäre alles dazu angetan, die Glückseligkeit des indifferentistischen Daseins zu beweisen. Ergäbe sich nur nicht die letzte Folgerung. Wälder, der Held des Buches, muß durch den bis ins letzte durchgeführten Jndifferentismus zur Passivität gelangen. Durch und hinter die Dinge schauend, erkennt er die *) „Tod den TotenI" „Experimente," (1907.) „Die Erziehung zur Hetäre." Sind wie alle Bücher BrodS bei Axel Juncker, Berlin-Charlottenburg, erschienen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/426>, abgerufen am 22.12.2024.