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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Indifferentismus in der Literatur

jedes ein Rad von gleicher Bedeutsamkeit in dem vielfältigen Gefüge: Leben
genannt. Und Gut und Bös: treibend in gleicher Kraft, im gleichen Maß
Anerkennung heischend, in gleichem Maß existenzberechtigt.

Damals hatte der Naturalismus eines Masaccio sich selbst noch überstiegen,
die Bedeutung einer jeden Daseinsform zum Programm gestempelt und in einer
tieferen Erfassung der Kräfte den Kontrast eines dunklen und lichten Prinzips
verwaschen. Das heißt: er war zum Indifferentismus geworden.

Und ebenso ist, durch einen ähnlichen Prozeß, jener Naturalismus, der
unseren Tagen vorausging, der Naturalismus der achtziger und neunziger Jahre,
in den Händen der heutigen Generation unmerklich gewandelt worden. Eine
Anzahl jüngster Dichter kann eine moralische Frage nicht anrühren; indifferent,
wie sie schon sind, lieben sie die letzten Ausschweifungen sadistischer Lustmörder
nicht weniger als die Aufopferung der Märtyrer für eine gottumschließende
Idee. Positive und negative Faktoren haben beide für sie den gleichen Zweck:
Reibung und Kampf zu erzeugen, aus welchen allein die Bewegung, Leben
genannt, aufsprüht. Ist alles nun in dieser Welt in gleicher Weise liebenswert.
Anerkennung heischend und existenzberechtigt, so scheint es nicht mehr notwendig,
sich irgendeine Stellungnahme anzueignen; denn jede Stellungnahme wäre nur
ein Sichbelügen um diese letzte Erkenntnis. Man begnügt sich, das Einzelne
des Lebens in seinem Zusammenhang zum Ganzen zu gestalten: das Leben zu
geben, wie es ist, mit seiner kleinsten, trivialsten, verschwimmendsten Bewegung,
mit diesem niemals Stehenbleiben und mit diesem Hinrauschen über alle mora¬
lischen und weltanschaulichen Paragraphen kurzsichtiger Menschen.

Dieser Jndifferentismus, in Frankreich schon in den neunziger Jahren
gereift, ohne je, wie es seiner Natur nach verständlich ist, populär zu werden,
hat erst im letzten Jahrzehnt nach und nach die deutsche Literatur durchsetzt.
Max Brod aus Prag ist sein bewußtester, fanatischer und vielleicht auch
begabtester Vertreter. Daß dieser Vertreter des Jndifferentismus von Prag
kommt, mag Zufall sein, kann aber doch die Möglichkeit von Zusammenhängen
offen lassen. Prager Juden können als die Typen indifferenter Menschen gelten.
Zwischen Slawismus und Deutschtum auferzogen (ihre Dienstboten sind tschechische
Landmädchen und ihr geistiges Zentrum ist das deutsche Landestheater, sie
haben tschechische Geliebte und deutsche Korpsstudenten als Freunde), er¬
ringen sie sich eine Neutralität in politischer und nationaler Beziehung, die,
wie ein Funke im Stroh leicht zu Feuer wird, zu jeder anderen Beziehung
sich durchfrißt, die ganze Denk- und Gefühlsweise befruchtet und mit einem
absoluten, ein wenig melancholisch lächelnden Jndifferentismus, allzuoft mit
gänzlicher Passivität endet.

Mag es Zufall sein oder Kausalität, daß Max Brod aus Prag kommt:
es verdient, bemerkt und aufgezeichnet zu werden. Vielleicht ist es aber diese
ganze Zeit, die, ohne große Ziele und gewaltig innerliche Gesichtspunkte, Ziel
und Gesichtspunkt als Requisit einer bunteren Zeit erklären möchte. Dieses


Indifferentismus in der Literatur

jedes ein Rad von gleicher Bedeutsamkeit in dem vielfältigen Gefüge: Leben
genannt. Und Gut und Bös: treibend in gleicher Kraft, im gleichen Maß
Anerkennung heischend, in gleichem Maß existenzberechtigt.

Damals hatte der Naturalismus eines Masaccio sich selbst noch überstiegen,
die Bedeutung einer jeden Daseinsform zum Programm gestempelt und in einer
tieferen Erfassung der Kräfte den Kontrast eines dunklen und lichten Prinzips
verwaschen. Das heißt: er war zum Indifferentismus geworden.

Und ebenso ist, durch einen ähnlichen Prozeß, jener Naturalismus, der
unseren Tagen vorausging, der Naturalismus der achtziger und neunziger Jahre,
in den Händen der heutigen Generation unmerklich gewandelt worden. Eine
Anzahl jüngster Dichter kann eine moralische Frage nicht anrühren; indifferent,
wie sie schon sind, lieben sie die letzten Ausschweifungen sadistischer Lustmörder
nicht weniger als die Aufopferung der Märtyrer für eine gottumschließende
Idee. Positive und negative Faktoren haben beide für sie den gleichen Zweck:
Reibung und Kampf zu erzeugen, aus welchen allein die Bewegung, Leben
genannt, aufsprüht. Ist alles nun in dieser Welt in gleicher Weise liebenswert.
Anerkennung heischend und existenzberechtigt, so scheint es nicht mehr notwendig,
sich irgendeine Stellungnahme anzueignen; denn jede Stellungnahme wäre nur
ein Sichbelügen um diese letzte Erkenntnis. Man begnügt sich, das Einzelne
des Lebens in seinem Zusammenhang zum Ganzen zu gestalten: das Leben zu
geben, wie es ist, mit seiner kleinsten, trivialsten, verschwimmendsten Bewegung,
mit diesem niemals Stehenbleiben und mit diesem Hinrauschen über alle mora¬
lischen und weltanschaulichen Paragraphen kurzsichtiger Menschen.

Dieser Jndifferentismus, in Frankreich schon in den neunziger Jahren
gereift, ohne je, wie es seiner Natur nach verständlich ist, populär zu werden,
hat erst im letzten Jahrzehnt nach und nach die deutsche Literatur durchsetzt.
Max Brod aus Prag ist sein bewußtester, fanatischer und vielleicht auch
begabtester Vertreter. Daß dieser Vertreter des Jndifferentismus von Prag
kommt, mag Zufall sein, kann aber doch die Möglichkeit von Zusammenhängen
offen lassen. Prager Juden können als die Typen indifferenter Menschen gelten.
Zwischen Slawismus und Deutschtum auferzogen (ihre Dienstboten sind tschechische
Landmädchen und ihr geistiges Zentrum ist das deutsche Landestheater, sie
haben tschechische Geliebte und deutsche Korpsstudenten als Freunde), er¬
ringen sie sich eine Neutralität in politischer und nationaler Beziehung, die,
wie ein Funke im Stroh leicht zu Feuer wird, zu jeder anderen Beziehung
sich durchfrißt, die ganze Denk- und Gefühlsweise befruchtet und mit einem
absoluten, ein wenig melancholisch lächelnden Jndifferentismus, allzuoft mit
gänzlicher Passivität endet.

Mag es Zufall sein oder Kausalität, daß Max Brod aus Prag kommt:
es verdient, bemerkt und aufgezeichnet zu werden. Vielleicht ist es aber diese
ganze Zeit, die, ohne große Ziele und gewaltig innerliche Gesichtspunkte, Ziel
und Gesichtspunkt als Requisit einer bunteren Zeit erklären möchte. Dieses


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[0425] Indifferentismus in der Literatur jedes ein Rad von gleicher Bedeutsamkeit in dem vielfältigen Gefüge: Leben genannt. Und Gut und Bös: treibend in gleicher Kraft, im gleichen Maß Anerkennung heischend, in gleichem Maß existenzberechtigt. Damals hatte der Naturalismus eines Masaccio sich selbst noch überstiegen, die Bedeutung einer jeden Daseinsform zum Programm gestempelt und in einer tieferen Erfassung der Kräfte den Kontrast eines dunklen und lichten Prinzips verwaschen. Das heißt: er war zum Indifferentismus geworden. Und ebenso ist, durch einen ähnlichen Prozeß, jener Naturalismus, der unseren Tagen vorausging, der Naturalismus der achtziger und neunziger Jahre, in den Händen der heutigen Generation unmerklich gewandelt worden. Eine Anzahl jüngster Dichter kann eine moralische Frage nicht anrühren; indifferent, wie sie schon sind, lieben sie die letzten Ausschweifungen sadistischer Lustmörder nicht weniger als die Aufopferung der Märtyrer für eine gottumschließende Idee. Positive und negative Faktoren haben beide für sie den gleichen Zweck: Reibung und Kampf zu erzeugen, aus welchen allein die Bewegung, Leben genannt, aufsprüht. Ist alles nun in dieser Welt in gleicher Weise liebenswert. Anerkennung heischend und existenzberechtigt, so scheint es nicht mehr notwendig, sich irgendeine Stellungnahme anzueignen; denn jede Stellungnahme wäre nur ein Sichbelügen um diese letzte Erkenntnis. Man begnügt sich, das Einzelne des Lebens in seinem Zusammenhang zum Ganzen zu gestalten: das Leben zu geben, wie es ist, mit seiner kleinsten, trivialsten, verschwimmendsten Bewegung, mit diesem niemals Stehenbleiben und mit diesem Hinrauschen über alle mora¬ lischen und weltanschaulichen Paragraphen kurzsichtiger Menschen. Dieser Jndifferentismus, in Frankreich schon in den neunziger Jahren gereift, ohne je, wie es seiner Natur nach verständlich ist, populär zu werden, hat erst im letzten Jahrzehnt nach und nach die deutsche Literatur durchsetzt. Max Brod aus Prag ist sein bewußtester, fanatischer und vielleicht auch begabtester Vertreter. Daß dieser Vertreter des Jndifferentismus von Prag kommt, mag Zufall sein, kann aber doch die Möglichkeit von Zusammenhängen offen lassen. Prager Juden können als die Typen indifferenter Menschen gelten. Zwischen Slawismus und Deutschtum auferzogen (ihre Dienstboten sind tschechische Landmädchen und ihr geistiges Zentrum ist das deutsche Landestheater, sie haben tschechische Geliebte und deutsche Korpsstudenten als Freunde), er¬ ringen sie sich eine Neutralität in politischer und nationaler Beziehung, die, wie ein Funke im Stroh leicht zu Feuer wird, zu jeder anderen Beziehung sich durchfrißt, die ganze Denk- und Gefühlsweise befruchtet und mit einem absoluten, ein wenig melancholisch lächelnden Jndifferentismus, allzuoft mit gänzlicher Passivität endet. Mag es Zufall sein oder Kausalität, daß Max Brod aus Prag kommt: es verdient, bemerkt und aufgezeichnet zu werden. Vielleicht ist es aber diese ganze Zeit, die, ohne große Ziele und gewaltig innerliche Gesichtspunkte, Ziel und Gesichtspunkt als Requisit einer bunteren Zeit erklären möchte. Dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/425>, abgerufen am 22.12.2024.