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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Indifferentismus in der Literatur

Ich habe aus der Beschäftigung mit den neuesten Arndtbüchern immer
wieder die Überzeugung gewonnen, daß Arndt so vieles bringt, daß er jedem
Deutschen mindestens etwas bringen kann; möchte er ihm das Größte wieder¬
bringen helfen, die Fähigkeit, "das ganze Leben dreinzusetzen", "die große Sache
und nichts anderes zu denken und zu träumen", "ganz in einem zu leben ver¬
stehen" und sagen zu können wie er: "das Vaterland hat mich, die Sorge für
mein Volk und für unsere Kinder, und wird mich haben bis ans Ende; ich
fühle es, an Arbeit wird es mir nie fehlen, so drängt ein Entwurf den anderen
und eine Hoffnung die andere, und so wird es sein, bis die kühle Erde viele
Sorgen und auch viele Liebe kühlt." Arndt war der Besten einer unseres
Volkes: Nichts Menschliches war ihm fremd: das machte ihn milde und nach¬
sichtig, wo strebende Menschen irrten. Nichts tat er aus Eigenliebe. Er
wählte im Widerstreit zweier Pflichten immer die schwerere, er war unerbittlich
gegen sich selbst.

Wieder einmal gilt es, N. M. Meyers Worte den Deutschen in die Seele
zu hämmern: "Besäße eine andere Nation ein Buch wie den .Geist der Zeit'.
-- es stände auf dem Bücherbrett jedes Patrioten, es fehlte nirgends, wo man
die Kraft der Rede ehrt. Wir schwärmen heute für Carlyle: hier könnten wir
Deutsche mehr haben als an Carlyle."




Indifferentismus in der Literatur
Max Brod) Gelo Zoff vonin

uf den Bildern der ausgehenden Frührenaissance (Gozzoli, Ghir-
landajo und andere sind ihre Schöpfer) kann man ein merkwürdiges
Moment beobachten: die Gleichheit aller Gestalten in bezug auf
die Darstellung. Die drei Könige, welche das Christuskind an¬
beten, das Christuskind selbst, Maria und der Nährvater Josef
sind in Komposition und Durchführung des betreffenden Gemäldes nicht stärker
betont als irgendein Knappe aus dem Gefolge, als irgendein Hirte, als
irgendein Windhund oder Roß, die das Bild bis zum Rande hin füllen.
Es mag dem Betrachter des öfteren geschehen, daß jener stupid vor sich hin¬
glotzende Bursche, der das Pferd hält oder dieses Pferd selbst mit dem seiden¬
weich aufleuchtenden Fell seine Aufmerksamkeit stärker festhalten als die Haupt¬
gestalten der Handlung.

Vor der mehr technischen als inspiratorischen Inbrunst jener Meister galten
alle Gestalten als einander Gleichwertiges. Der Einzelne und das Einzelne:


Indifferentismus in der Literatur

Ich habe aus der Beschäftigung mit den neuesten Arndtbüchern immer
wieder die Überzeugung gewonnen, daß Arndt so vieles bringt, daß er jedem
Deutschen mindestens etwas bringen kann; möchte er ihm das Größte wieder¬
bringen helfen, die Fähigkeit, „das ganze Leben dreinzusetzen", „die große Sache
und nichts anderes zu denken und zu träumen", „ganz in einem zu leben ver¬
stehen" und sagen zu können wie er: „das Vaterland hat mich, die Sorge für
mein Volk und für unsere Kinder, und wird mich haben bis ans Ende; ich
fühle es, an Arbeit wird es mir nie fehlen, so drängt ein Entwurf den anderen
und eine Hoffnung die andere, und so wird es sein, bis die kühle Erde viele
Sorgen und auch viele Liebe kühlt." Arndt war der Besten einer unseres
Volkes: Nichts Menschliches war ihm fremd: das machte ihn milde und nach¬
sichtig, wo strebende Menschen irrten. Nichts tat er aus Eigenliebe. Er
wählte im Widerstreit zweier Pflichten immer die schwerere, er war unerbittlich
gegen sich selbst.

Wieder einmal gilt es, N. M. Meyers Worte den Deutschen in die Seele
zu hämmern: „Besäße eine andere Nation ein Buch wie den .Geist der Zeit'.
— es stände auf dem Bücherbrett jedes Patrioten, es fehlte nirgends, wo man
die Kraft der Rede ehrt. Wir schwärmen heute für Carlyle: hier könnten wir
Deutsche mehr haben als an Carlyle."




Indifferentismus in der Literatur
Max Brod) Gelo Zoff vonin

uf den Bildern der ausgehenden Frührenaissance (Gozzoli, Ghir-
landajo und andere sind ihre Schöpfer) kann man ein merkwürdiges
Moment beobachten: die Gleichheit aller Gestalten in bezug auf
die Darstellung. Die drei Könige, welche das Christuskind an¬
beten, das Christuskind selbst, Maria und der Nährvater Josef
sind in Komposition und Durchführung des betreffenden Gemäldes nicht stärker
betont als irgendein Knappe aus dem Gefolge, als irgendein Hirte, als
irgendein Windhund oder Roß, die das Bild bis zum Rande hin füllen.
Es mag dem Betrachter des öfteren geschehen, daß jener stupid vor sich hin¬
glotzende Bursche, der das Pferd hält oder dieses Pferd selbst mit dem seiden¬
weich aufleuchtenden Fell seine Aufmerksamkeit stärker festhalten als die Haupt¬
gestalten der Handlung.

Vor der mehr technischen als inspiratorischen Inbrunst jener Meister galten
alle Gestalten als einander Gleichwertiges. Der Einzelne und das Einzelne:


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[0424] Indifferentismus in der Literatur Ich habe aus der Beschäftigung mit den neuesten Arndtbüchern immer wieder die Überzeugung gewonnen, daß Arndt so vieles bringt, daß er jedem Deutschen mindestens etwas bringen kann; möchte er ihm das Größte wieder¬ bringen helfen, die Fähigkeit, „das ganze Leben dreinzusetzen", „die große Sache und nichts anderes zu denken und zu träumen", „ganz in einem zu leben ver¬ stehen" und sagen zu können wie er: „das Vaterland hat mich, die Sorge für mein Volk und für unsere Kinder, und wird mich haben bis ans Ende; ich fühle es, an Arbeit wird es mir nie fehlen, so drängt ein Entwurf den anderen und eine Hoffnung die andere, und so wird es sein, bis die kühle Erde viele Sorgen und auch viele Liebe kühlt." Arndt war der Besten einer unseres Volkes: Nichts Menschliches war ihm fremd: das machte ihn milde und nach¬ sichtig, wo strebende Menschen irrten. Nichts tat er aus Eigenliebe. Er wählte im Widerstreit zweier Pflichten immer die schwerere, er war unerbittlich gegen sich selbst. Wieder einmal gilt es, N. M. Meyers Worte den Deutschen in die Seele zu hämmern: „Besäße eine andere Nation ein Buch wie den .Geist der Zeit'. — es stände auf dem Bücherbrett jedes Patrioten, es fehlte nirgends, wo man die Kraft der Rede ehrt. Wir schwärmen heute für Carlyle: hier könnten wir Deutsche mehr haben als an Carlyle." Indifferentismus in der Literatur Max Brod) Gelo Zoff vonin uf den Bildern der ausgehenden Frührenaissance (Gozzoli, Ghir- landajo und andere sind ihre Schöpfer) kann man ein merkwürdiges Moment beobachten: die Gleichheit aller Gestalten in bezug auf die Darstellung. Die drei Könige, welche das Christuskind an¬ beten, das Christuskind selbst, Maria und der Nährvater Josef sind in Komposition und Durchführung des betreffenden Gemäldes nicht stärker betont als irgendein Knappe aus dem Gefolge, als irgendein Hirte, als irgendein Windhund oder Roß, die das Bild bis zum Rande hin füllen. Es mag dem Betrachter des öfteren geschehen, daß jener stupid vor sich hin¬ glotzende Bursche, der das Pferd hält oder dieses Pferd selbst mit dem seiden¬ weich aufleuchtenden Fell seine Aufmerksamkeit stärker festhalten als die Haupt¬ gestalten der Handlung. Vor der mehr technischen als inspiratorischen Inbrunst jener Meister galten alle Gestalten als einander Gleichwertiges. Der Einzelne und das Einzelne:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/424>, abgerufen am 30.12.2024.