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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Aus Arndts Vermächtnis

führung in Wesen und Bedeutung des einzelnen Schriftwerkes. Die wird in
der Bongschen Ausgabe durchweg in sehr erfreulicher literarischer Form und
mit oft sehr eigenem, zum Nachdenken zwingenden Urteil geboten; vielleicht wird
hier sogar das, was der Leser aus dem Lebensbild sich selbst holen oder sonst
erschließen kann, zuweilen allzu mundgerecht und wortreich noch einmal dar¬
gereicht.

Meisners Lebensbild in der Hesseschen Ausgabe (das übrigens auch ge¬
sondert in Max Hesses Volksbücherei für 20 Pfennige zu haben ist) hat seine
großen Verdienste. Er zuerst stellte Arndts Leben nach den neuen Quellen,
besonders den Briefen, die er mit Geerds herausgab, dar, und manches Problem
in Arndts Leben hat er zuerst der Lösung näher geführt. Und in seiner
schlichten pragmatischen Darstellungsweise kommt die warme Anteilnahme des
Biographen zu wohltuender Wirkung. Aber seitdem ist die Forschung erheblich
fortgeschritten: Müsebecks Entdeckung warf ein überraschendes Licht auf Arndts
Fühlungnahme mit Preußen; Meineckes Gedankengänge über Weltbürgertum
und Nationalstaat wirkten ungemein befruchtend auch auf die Arndtforschung.
Die von mir in diesen Blättern 1911 Heft 38 und 39 und von Steffens in
der Vossischen Zeitung 9. Juni 1912 veröffentliche Vergleichung der zwei Auf¬
lagen des Geistes der Zeit II von 1809 und 1813 gab neue Aufschlüsse über
Arndts Stellung zu den Anschauungen der französischen Revolution, zu Preußen
und Österreich und über seine literarische Abhängigkeit, vielmehr Unabhängigkeit
von Stein. Das alles hat seinen Niederschlag gefunden in dem Lebensbilde,
das Wilhelm Steffens für die Borghese Ausgabe geschrieben hat. Es ist eine
höchst erfreuliche kluge Leistung; es ist die beste Lebensbeschreibung Arndts auf
neuer Grundlage und wird als Ganzes nur von der berühmten, in ihrer Art
unübertrefflichen, die R. Harn 1860 für die Preußischen Jahrbücher schrieb,
überboten. -- Deutete Meisner, wohl mit Bedachtsamkeit, die Probleme meist
nur an, so führt Steffens geschickt und sicher in sie hinein und entwickelt sie.
Überall spürt man das tiefe Sichversenken und den freien weiten Blick des
echten Historikers und Psychologen. Man hat überall das wohlige Gefühl:
alles ist hier geschaut, erlebt, zu Ende gedacht und in runder Form ausgedrückt.
Im einzelnen ist die Darstellung der Jugend bei Steffens nicht nur ausführ¬
licher, sondern auch wärmer und lichtvoller geboten als bei Meisner; ferner ist
der Tod der Eltern nicht übergangen, die seltsame Entwicklung Arndts zum
Deutschen und Preußen ist in ihrer ganzen reizvollen Eigenart erfaßt und so
handgreiflich, schön und klar dargestellt worden wie bisher noch nicht. Das
Verhältnis zu Johanna Motherby, wie es in den von Meisner veröffentlichten
Briefen Amts an Johanna sich darstellt, wird mit einer erfreulich gesunden
Ungeschminktheit als das bezeichnet, was es war: nicht als eine "Freundschaft"
(Meisner), sondern als eine leidenschaftliche, romantisch überschwängliche Liebe,
in der ein übermächtiges Gefühl auch die "Zurückhaltung", von der Geerds in
seinem "Volksbuch" redet, nur sehr selten aufkommen ließ. Man kann über


Aus Arndts Vermächtnis

führung in Wesen und Bedeutung des einzelnen Schriftwerkes. Die wird in
der Bongschen Ausgabe durchweg in sehr erfreulicher literarischer Form und
mit oft sehr eigenem, zum Nachdenken zwingenden Urteil geboten; vielleicht wird
hier sogar das, was der Leser aus dem Lebensbild sich selbst holen oder sonst
erschließen kann, zuweilen allzu mundgerecht und wortreich noch einmal dar¬
gereicht.

Meisners Lebensbild in der Hesseschen Ausgabe (das übrigens auch ge¬
sondert in Max Hesses Volksbücherei für 20 Pfennige zu haben ist) hat seine
großen Verdienste. Er zuerst stellte Arndts Leben nach den neuen Quellen,
besonders den Briefen, die er mit Geerds herausgab, dar, und manches Problem
in Arndts Leben hat er zuerst der Lösung näher geführt. Und in seiner
schlichten pragmatischen Darstellungsweise kommt die warme Anteilnahme des
Biographen zu wohltuender Wirkung. Aber seitdem ist die Forschung erheblich
fortgeschritten: Müsebecks Entdeckung warf ein überraschendes Licht auf Arndts
Fühlungnahme mit Preußen; Meineckes Gedankengänge über Weltbürgertum
und Nationalstaat wirkten ungemein befruchtend auch auf die Arndtforschung.
Die von mir in diesen Blättern 1911 Heft 38 und 39 und von Steffens in
der Vossischen Zeitung 9. Juni 1912 veröffentliche Vergleichung der zwei Auf¬
lagen des Geistes der Zeit II von 1809 und 1813 gab neue Aufschlüsse über
Arndts Stellung zu den Anschauungen der französischen Revolution, zu Preußen
und Österreich und über seine literarische Abhängigkeit, vielmehr Unabhängigkeit
von Stein. Das alles hat seinen Niederschlag gefunden in dem Lebensbilde,
das Wilhelm Steffens für die Borghese Ausgabe geschrieben hat. Es ist eine
höchst erfreuliche kluge Leistung; es ist die beste Lebensbeschreibung Arndts auf
neuer Grundlage und wird als Ganzes nur von der berühmten, in ihrer Art
unübertrefflichen, die R. Harn 1860 für die Preußischen Jahrbücher schrieb,
überboten. — Deutete Meisner, wohl mit Bedachtsamkeit, die Probleme meist
nur an, so führt Steffens geschickt und sicher in sie hinein und entwickelt sie.
Überall spürt man das tiefe Sichversenken und den freien weiten Blick des
echten Historikers und Psychologen. Man hat überall das wohlige Gefühl:
alles ist hier geschaut, erlebt, zu Ende gedacht und in runder Form ausgedrückt.
Im einzelnen ist die Darstellung der Jugend bei Steffens nicht nur ausführ¬
licher, sondern auch wärmer und lichtvoller geboten als bei Meisner; ferner ist
der Tod der Eltern nicht übergangen, die seltsame Entwicklung Arndts zum
Deutschen und Preußen ist in ihrer ganzen reizvollen Eigenart erfaßt und so
handgreiflich, schön und klar dargestellt worden wie bisher noch nicht. Das
Verhältnis zu Johanna Motherby, wie es in den von Meisner veröffentlichten
Briefen Amts an Johanna sich darstellt, wird mit einer erfreulich gesunden
Ungeschminktheit als das bezeichnet, was es war: nicht als eine „Freundschaft"
(Meisner), sondern als eine leidenschaftliche, romantisch überschwängliche Liebe,
in der ein übermächtiges Gefühl auch die „Zurückhaltung", von der Geerds in
seinem „Volksbuch" redet, nur sehr selten aufkommen ließ. Man kann über


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[0420] Aus Arndts Vermächtnis führung in Wesen und Bedeutung des einzelnen Schriftwerkes. Die wird in der Bongschen Ausgabe durchweg in sehr erfreulicher literarischer Form und mit oft sehr eigenem, zum Nachdenken zwingenden Urteil geboten; vielleicht wird hier sogar das, was der Leser aus dem Lebensbild sich selbst holen oder sonst erschließen kann, zuweilen allzu mundgerecht und wortreich noch einmal dar¬ gereicht. Meisners Lebensbild in der Hesseschen Ausgabe (das übrigens auch ge¬ sondert in Max Hesses Volksbücherei für 20 Pfennige zu haben ist) hat seine großen Verdienste. Er zuerst stellte Arndts Leben nach den neuen Quellen, besonders den Briefen, die er mit Geerds herausgab, dar, und manches Problem in Arndts Leben hat er zuerst der Lösung näher geführt. Und in seiner schlichten pragmatischen Darstellungsweise kommt die warme Anteilnahme des Biographen zu wohltuender Wirkung. Aber seitdem ist die Forschung erheblich fortgeschritten: Müsebecks Entdeckung warf ein überraschendes Licht auf Arndts Fühlungnahme mit Preußen; Meineckes Gedankengänge über Weltbürgertum und Nationalstaat wirkten ungemein befruchtend auch auf die Arndtforschung. Die von mir in diesen Blättern 1911 Heft 38 und 39 und von Steffens in der Vossischen Zeitung 9. Juni 1912 veröffentliche Vergleichung der zwei Auf¬ lagen des Geistes der Zeit II von 1809 und 1813 gab neue Aufschlüsse über Arndts Stellung zu den Anschauungen der französischen Revolution, zu Preußen und Österreich und über seine literarische Abhängigkeit, vielmehr Unabhängigkeit von Stein. Das alles hat seinen Niederschlag gefunden in dem Lebensbilde, das Wilhelm Steffens für die Borghese Ausgabe geschrieben hat. Es ist eine höchst erfreuliche kluge Leistung; es ist die beste Lebensbeschreibung Arndts auf neuer Grundlage und wird als Ganzes nur von der berühmten, in ihrer Art unübertrefflichen, die R. Harn 1860 für die Preußischen Jahrbücher schrieb, überboten. — Deutete Meisner, wohl mit Bedachtsamkeit, die Probleme meist nur an, so führt Steffens geschickt und sicher in sie hinein und entwickelt sie. Überall spürt man das tiefe Sichversenken und den freien weiten Blick des echten Historikers und Psychologen. Man hat überall das wohlige Gefühl: alles ist hier geschaut, erlebt, zu Ende gedacht und in runder Form ausgedrückt. Im einzelnen ist die Darstellung der Jugend bei Steffens nicht nur ausführ¬ licher, sondern auch wärmer und lichtvoller geboten als bei Meisner; ferner ist der Tod der Eltern nicht übergangen, die seltsame Entwicklung Arndts zum Deutschen und Preußen ist in ihrer ganzen reizvollen Eigenart erfaßt und so handgreiflich, schön und klar dargestellt worden wie bisher noch nicht. Das Verhältnis zu Johanna Motherby, wie es in den von Meisner veröffentlichten Briefen Amts an Johanna sich darstellt, wird mit einer erfreulich gesunden Ungeschminktheit als das bezeichnet, was es war: nicht als eine „Freundschaft" (Meisner), sondern als eine leidenschaftliche, romantisch überschwängliche Liebe, in der ein übermächtiges Gefühl auch die „Zurückhaltung", von der Geerds in seinem „Volksbuch" redet, nur sehr selten aufkommen ließ. Man kann über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/420>, abgerufen am 28.07.2024.