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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Londoner Brief

an der Seerüstung des Reiches zu tragen, aber sie wollen auch Bürgschaften
haben, daß nur Lebensinteressen des britischen Gesamtreiches maßgebend für
die Politik Englands sein dürfen und keine europäischen Abenteuer des Mutter¬
landes. An das kanadische Flottengeschenk, dessen wie und wann noch heiß
umstritten ist, knüpft sich bekanntlich die Bedingung, daß ein kanadischer Minister
als ständiges Mitglied des Reichsverteidigungsausschusses in London seinen
Wohnsitz nehmen solle. Dieses Imperial Defence Committee, dem die Minister
sowie die leitenden Männer der Flotte und des Heeres angehören, hat natur¬
gemäß einen erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der englischen Auslands¬
politik. Dieser Einfluß wird sich durch die Vertretung der Dominions in dieser
Körperschaft -- es steht zu erwarten daß Australien, Südafrika und Neuseeland
dem kanadischen Beispiel folgen -- noch verstärken, aber auch mehr als bisher
in dem angedeuteten Sinn einer Loslösung von der kontinentalen Ententepolitik
Eduard des Siebenten geltend machen. Diesem Gedanken tragen heute gerade
die englischen Imperialisten durchaus Rechnung. Wollte ein britischer Staats¬
mann den weiten Gesichtspunkt einer größer-britischen Weltpolitik vergessen und
sich in eine rein europäisch-kontinentale Politik wieder hineinziehen lassen, so
würde er dadurch die Einheit des Reiches gefährden.

Aber noch andere Erwägungen zwingen England zur Zurückhaltung in
der europäischen Politik. Vor einigen Jahren hat Paul Deschanel im "Temps"
auf den Zwiespalt verwiesen, der zwischen Englands damaliger europäischer
Politik und seiner Unfähigkeit, an einem Feldzug auf dem Festlande teil¬
zunehmen, bestand. Natürlich wollte der französische Politiker diesen Wider¬
spruch dadurch gelöst wissen, daß sich England zu einer Militärmacht ersten
Ranges entwickeln solle. Der englische Premierminister, Herr Asquith, zeigte
die andere Alternative, wenn er kürzlich im englischen Unterhaus erklärte, daß
heute England durch keinerlei Abmachungen im Fall eines europäischen Krieges
gebunden ist.

Die Freundschaft mit Frankreich hat zwar dem Ententegenossen
Marokko verschafft, aber England selbst hat herzlich wenig dabei profitiert.
Immer wieder hört man Klagen englischer Kaufleute über die Schikanen, die
ihnen in französischen Kolonien in bemerkenswerten und in England keines¬
wegs unbeachteten Gegensatz zu der Handelsfreiheit in deutschen Besitzungen
zuteil werden. Das Geschäft mit Nußland endlich ist der Gegenstand einer
immer schärferen Kritik, und Persien ist im Zeichen des Abkommens mit Ru߬
land das Schmerzenskind Sir Edward Greys. Durch die Niederlage der
Türkei ist die Gefahr des russischen Vordringens im Orient noch bedeutend
gewachsen. Eine solche Entwicklung steht aber im schroffsten Widerspruch mit
den Interessen Großbritanniens. Wieder sind es außereuropäische Einflüsse,
auf die der Minister in der Downing Street hören muß. Die wachsende
Erregung im indischen Islam hat lange, vielleicht schon zu lange, in London
keine genügende Beachtung gefunden. Die englische Politik hat den Übergang


Londoner Brief

an der Seerüstung des Reiches zu tragen, aber sie wollen auch Bürgschaften
haben, daß nur Lebensinteressen des britischen Gesamtreiches maßgebend für
die Politik Englands sein dürfen und keine europäischen Abenteuer des Mutter¬
landes. An das kanadische Flottengeschenk, dessen wie und wann noch heiß
umstritten ist, knüpft sich bekanntlich die Bedingung, daß ein kanadischer Minister
als ständiges Mitglied des Reichsverteidigungsausschusses in London seinen
Wohnsitz nehmen solle. Dieses Imperial Defence Committee, dem die Minister
sowie die leitenden Männer der Flotte und des Heeres angehören, hat natur¬
gemäß einen erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der englischen Auslands¬
politik. Dieser Einfluß wird sich durch die Vertretung der Dominions in dieser
Körperschaft — es steht zu erwarten daß Australien, Südafrika und Neuseeland
dem kanadischen Beispiel folgen — noch verstärken, aber auch mehr als bisher
in dem angedeuteten Sinn einer Loslösung von der kontinentalen Ententepolitik
Eduard des Siebenten geltend machen. Diesem Gedanken tragen heute gerade
die englischen Imperialisten durchaus Rechnung. Wollte ein britischer Staats¬
mann den weiten Gesichtspunkt einer größer-britischen Weltpolitik vergessen und
sich in eine rein europäisch-kontinentale Politik wieder hineinziehen lassen, so
würde er dadurch die Einheit des Reiches gefährden.

Aber noch andere Erwägungen zwingen England zur Zurückhaltung in
der europäischen Politik. Vor einigen Jahren hat Paul Deschanel im „Temps"
auf den Zwiespalt verwiesen, der zwischen Englands damaliger europäischer
Politik und seiner Unfähigkeit, an einem Feldzug auf dem Festlande teil¬
zunehmen, bestand. Natürlich wollte der französische Politiker diesen Wider¬
spruch dadurch gelöst wissen, daß sich England zu einer Militärmacht ersten
Ranges entwickeln solle. Der englische Premierminister, Herr Asquith, zeigte
die andere Alternative, wenn er kürzlich im englischen Unterhaus erklärte, daß
heute England durch keinerlei Abmachungen im Fall eines europäischen Krieges
gebunden ist.

Die Freundschaft mit Frankreich hat zwar dem Ententegenossen
Marokko verschafft, aber England selbst hat herzlich wenig dabei profitiert.
Immer wieder hört man Klagen englischer Kaufleute über die Schikanen, die
ihnen in französischen Kolonien in bemerkenswerten und in England keines¬
wegs unbeachteten Gegensatz zu der Handelsfreiheit in deutschen Besitzungen
zuteil werden. Das Geschäft mit Nußland endlich ist der Gegenstand einer
immer schärferen Kritik, und Persien ist im Zeichen des Abkommens mit Ru߬
land das Schmerzenskind Sir Edward Greys. Durch die Niederlage der
Türkei ist die Gefahr des russischen Vordringens im Orient noch bedeutend
gewachsen. Eine solche Entwicklung steht aber im schroffsten Widerspruch mit
den Interessen Großbritanniens. Wieder sind es außereuropäische Einflüsse,
auf die der Minister in der Downing Street hören muß. Die wachsende
Erregung im indischen Islam hat lange, vielleicht schon zu lange, in London
keine genügende Beachtung gefunden. Die englische Politik hat den Übergang


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/406>, abgerufen am 27.07.2024.