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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Vor drei Tagen war er mit dem letzten Dampfer aus Deutschland ge¬
kommen, um seine Kusine zu besuchen, die jetzt endlich des verwitweten Pastors
Tannebaum Frau geworden war. Sie hatte sich das Glück durch eine lang¬
jährige Tätigkeit als Erzieherin der sieben Kinder wohl verdient.

Traugott Madelungs wasserblaue Augen hatten an diesem Morgen scharf
nach dem Herrenhaus hinübergesehen. Die Perspektive der Dachkonstruktion
machten dem mäßig talentierten Schüler des Professors Neide in Königsberg
ziemliche Schwierigkeiten. Aber kein künstlerischer Katzenjammer quälte ihn.
Er war sehr zufrieden mit sich. Die Malerei war nicht die einzige Aufgabe,
für die er lebte. Die anderen glückten ihm entschieden besser. Er war ein
unentwegter Kämpfer gegen die Sünden, deren sich die verrottete Menschheit
mit der Zunahme der sogenannten Kultur wider die Forderungen der Natur
schuldig machte. Sein graugelbes Haar, das ihm in langen Strähnen tief in
den Nacken hing, bewies nicht nur, daß er zur freien Gilde der Kunst gehörte,
es war vor allem ein Protest gegen das Haarschneiden überhaupt. Da gehen
sie nun alle vierzehn Tage hin und überliefern sich der Scheere des Barbiers,
tragen schwere Hüte aus dichtem Filz und versagen ihrer Hirnhaut die Wohltat
der frischen Luft. Ist es ein Wunder, daß sie mit Glatzen herumlaufen --
ein Spottbild auf den Namen Mensch? Es galt, ihnen zu zeigen, welche
Schönheit einem unbeschnittenen Haupt eigen ist.

Sein Bart zeigte freilich nicht die gleiche üppige Triebkraft, wie sein
Schöpf. Aus der Oberlippe schössen ihm einige dürftige Härchen, und das
Kinn war nur gerade so viel bewachsen, um von der Hand gezupft werden zu
können, wenn sie helfen sollte, der Haltung des Malers die nötige Gedanken¬
schwere zu geben.

Auch jetzt hatte Madelung in dieser philosophischen Stellung hinter seiner
Staffelei gesessen, als er an dem östlichen Eckfenster die weiße Gestalt des
Schloßfräuleins bemerkte. Ein unklares Sehnen hatte sich dabei in sein
Asketenherz geschlichen, und für eine Weile waren alle Lebensaufgaben vergessen.

Dort drüben in dem Herrenhaus, so träumte er, dort wohnen Glück und
Reichtum. Ja -- ein herrliches Gefühl mußte es sein, solchen Besitz sein
eigen zu nennen. Nicht wie er sich kümmerlich durchschlagen müssen, von Mal¬
stunden und dem kärglichen Erlös seltener Bilderverkäufe leben, sondern Herr
sein über sein eigenes Geschick, wie über das von vielen anderen Menschen!

"Welch einen Segen würde ich mit dem vielen Gelde stiften, wenn es
mir gehörteI" dachte er, da sah er Maras rotes Haar durch die Büsche
schimmern. So flüchtig der Eindruck war, den er von der Erscheinung des
jungen Mädchens hatte, er genügte, um seinen Träumen eine bestimmte Rich¬
tung zu geben.

Der scheue ängstliche Blick Maras weckte in ihm eine sichere Überlegenheit. -
Ihre schlanke magere Gestalt entsprach ungefähr jenen, Idealbild der Frau, die
auf seine Liebe rechnen durfte. Er hatte bemerkt, daß sie Sandalen an den


Sturm

Vor drei Tagen war er mit dem letzten Dampfer aus Deutschland ge¬
kommen, um seine Kusine zu besuchen, die jetzt endlich des verwitweten Pastors
Tannebaum Frau geworden war. Sie hatte sich das Glück durch eine lang¬
jährige Tätigkeit als Erzieherin der sieben Kinder wohl verdient.

Traugott Madelungs wasserblaue Augen hatten an diesem Morgen scharf
nach dem Herrenhaus hinübergesehen. Die Perspektive der Dachkonstruktion
machten dem mäßig talentierten Schüler des Professors Neide in Königsberg
ziemliche Schwierigkeiten. Aber kein künstlerischer Katzenjammer quälte ihn.
Er war sehr zufrieden mit sich. Die Malerei war nicht die einzige Aufgabe,
für die er lebte. Die anderen glückten ihm entschieden besser. Er war ein
unentwegter Kämpfer gegen die Sünden, deren sich die verrottete Menschheit
mit der Zunahme der sogenannten Kultur wider die Forderungen der Natur
schuldig machte. Sein graugelbes Haar, das ihm in langen Strähnen tief in
den Nacken hing, bewies nicht nur, daß er zur freien Gilde der Kunst gehörte,
es war vor allem ein Protest gegen das Haarschneiden überhaupt. Da gehen
sie nun alle vierzehn Tage hin und überliefern sich der Scheere des Barbiers,
tragen schwere Hüte aus dichtem Filz und versagen ihrer Hirnhaut die Wohltat
der frischen Luft. Ist es ein Wunder, daß sie mit Glatzen herumlaufen —
ein Spottbild auf den Namen Mensch? Es galt, ihnen zu zeigen, welche
Schönheit einem unbeschnittenen Haupt eigen ist.

Sein Bart zeigte freilich nicht die gleiche üppige Triebkraft, wie sein
Schöpf. Aus der Oberlippe schössen ihm einige dürftige Härchen, und das
Kinn war nur gerade so viel bewachsen, um von der Hand gezupft werden zu
können, wenn sie helfen sollte, der Haltung des Malers die nötige Gedanken¬
schwere zu geben.

Auch jetzt hatte Madelung in dieser philosophischen Stellung hinter seiner
Staffelei gesessen, als er an dem östlichen Eckfenster die weiße Gestalt des
Schloßfräuleins bemerkte. Ein unklares Sehnen hatte sich dabei in sein
Asketenherz geschlichen, und für eine Weile waren alle Lebensaufgaben vergessen.

Dort drüben in dem Herrenhaus, so träumte er, dort wohnen Glück und
Reichtum. Ja — ein herrliches Gefühl mußte es sein, solchen Besitz sein
eigen zu nennen. Nicht wie er sich kümmerlich durchschlagen müssen, von Mal¬
stunden und dem kärglichen Erlös seltener Bilderverkäufe leben, sondern Herr
sein über sein eigenes Geschick, wie über das von vielen anderen Menschen!

„Welch einen Segen würde ich mit dem vielen Gelde stiften, wenn es
mir gehörteI" dachte er, da sah er Maras rotes Haar durch die Büsche
schimmern. So flüchtig der Eindruck war, den er von der Erscheinung des
jungen Mädchens hatte, er genügte, um seinen Träumen eine bestimmte Rich¬
tung zu geben.

Der scheue ängstliche Blick Maras weckte in ihm eine sichere Überlegenheit. -
Ihre schlanke magere Gestalt entsprach ungefähr jenen, Idealbild der Frau, die
auf seine Liebe rechnen durfte. Er hatte bemerkt, daß sie Sandalen an den


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[0383] Sturm Vor drei Tagen war er mit dem letzten Dampfer aus Deutschland ge¬ kommen, um seine Kusine zu besuchen, die jetzt endlich des verwitweten Pastors Tannebaum Frau geworden war. Sie hatte sich das Glück durch eine lang¬ jährige Tätigkeit als Erzieherin der sieben Kinder wohl verdient. Traugott Madelungs wasserblaue Augen hatten an diesem Morgen scharf nach dem Herrenhaus hinübergesehen. Die Perspektive der Dachkonstruktion machten dem mäßig talentierten Schüler des Professors Neide in Königsberg ziemliche Schwierigkeiten. Aber kein künstlerischer Katzenjammer quälte ihn. Er war sehr zufrieden mit sich. Die Malerei war nicht die einzige Aufgabe, für die er lebte. Die anderen glückten ihm entschieden besser. Er war ein unentwegter Kämpfer gegen die Sünden, deren sich die verrottete Menschheit mit der Zunahme der sogenannten Kultur wider die Forderungen der Natur schuldig machte. Sein graugelbes Haar, das ihm in langen Strähnen tief in den Nacken hing, bewies nicht nur, daß er zur freien Gilde der Kunst gehörte, es war vor allem ein Protest gegen das Haarschneiden überhaupt. Da gehen sie nun alle vierzehn Tage hin und überliefern sich der Scheere des Barbiers, tragen schwere Hüte aus dichtem Filz und versagen ihrer Hirnhaut die Wohltat der frischen Luft. Ist es ein Wunder, daß sie mit Glatzen herumlaufen — ein Spottbild auf den Namen Mensch? Es galt, ihnen zu zeigen, welche Schönheit einem unbeschnittenen Haupt eigen ist. Sein Bart zeigte freilich nicht die gleiche üppige Triebkraft, wie sein Schöpf. Aus der Oberlippe schössen ihm einige dürftige Härchen, und das Kinn war nur gerade so viel bewachsen, um von der Hand gezupft werden zu können, wenn sie helfen sollte, der Haltung des Malers die nötige Gedanken¬ schwere zu geben. Auch jetzt hatte Madelung in dieser philosophischen Stellung hinter seiner Staffelei gesessen, als er an dem östlichen Eckfenster die weiße Gestalt des Schloßfräuleins bemerkte. Ein unklares Sehnen hatte sich dabei in sein Asketenherz geschlichen, und für eine Weile waren alle Lebensaufgaben vergessen. Dort drüben in dem Herrenhaus, so träumte er, dort wohnen Glück und Reichtum. Ja — ein herrliches Gefühl mußte es sein, solchen Besitz sein eigen zu nennen. Nicht wie er sich kümmerlich durchschlagen müssen, von Mal¬ stunden und dem kärglichen Erlös seltener Bilderverkäufe leben, sondern Herr sein über sein eigenes Geschick, wie über das von vielen anderen Menschen! „Welch einen Segen würde ich mit dem vielen Gelde stiften, wenn es mir gehörteI" dachte er, da sah er Maras rotes Haar durch die Büsche schimmern. So flüchtig der Eindruck war, den er von der Erscheinung des jungen Mädchens hatte, er genügte, um seinen Träumen eine bestimmte Rich¬ tung zu geben. Der scheue ängstliche Blick Maras weckte in ihm eine sichere Überlegenheit. - Ihre schlanke magere Gestalt entsprach ungefähr jenen, Idealbild der Frau, die auf seine Liebe rechnen durfte. Er hatte bemerkt, daß sie Sandalen an den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/383>, abgerufen am 22.12.2024.