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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

so wenig wie deine Wäscherei. Gib mir mein Pulver her! Vielleicht komme
ich noch ein bischen zum Schlafen."

So ging es jeden Tag. Seufzend gab Mara ihren Versuch, die Mutter
zu beeinflussen, auf.

Mit aller Energie wehrte sie sich gegen diese hoffnungslose Müdigkeit, von
der sie sich auch selber oft erfaßt fühlte. Sie steckte jetzt mit ein paar Griffen
ihrer mageren Hände ihr reiches rotblondes Haar vor dem Spiegel auf und
schlüpfte in ihr Reformkleid.

Dann wollte sie selbst wenigstens den herrlichen Morgen genießen. In
durstigen Atemzügen trank sie die köstliche frische Luft, die durch das Fenster
hereinströmte und ließ ihren Blick in die duftige Ferne schweifen. Da sah sie
am Rand der Wiese hinter dem Park eine fremde Erscheinung. Anfangs hielt
sie den hellen Fleck für eine weiße Ziege, die sich im Grase sonnte. Aber dann
schien es ihr doch wieder anders. Wenn ihre kurzsichtigen Augen sie nicht
täuschten, mußte es ein Mensch sein. Wer aber hatte dort um diese Stunde
was zu suchen?

In prickelnder Neugierde suchte sie ihr Fernglas hervor und stellte es ein.
Da erkannte sie zu ihrem hellen Erstaunen, daß der weiße Fleck die Leinewand
eines Malers war, der seine Staffelei dort drüben auf der Wiese aufgestellt hatte.

Ein Maler, ein richtiger Maler -- wie mochte der hierher in diesen ab¬
gelegenen Erdenwinkel gekommen sein?

Mara pfiff ihrem Hund, einem schönen silbergrauen Barsoy, der noch
verschlafen auf seinem Kissen lag und rannte die Treppe hinunter in den Park.

Ihre Absicht war, geraden Wegs nach der Wiese zu gehen, um sich das
Wunder, das sich da in Borkülls nüchternes Milieu verirrt hatte, aus der Nähe
anzusehen. Aber die Menschenscheu, die ihr anhaftete, und die nichts war als
ein Symptom ihrer inneren Haltlosigkeit, kam wieder über sie und hemmte ihre
Schritte, je deutlicher der Maler hinter den Büschen des Parks sichtbar wurde.

Sie tat, als bemerke sie ihn nicht, schwenkte rechts in einen Seitenpfad
ein, machte einen großen Bogen und kam dann langsam auf demselben Weg
wieder zurück.

Der Maler hatte sie längst gesehen. Als er vor einer Stunde seine
Werkstatt auf diesem Wiesenabhang aufschlug, von wo aus das braunrote Dach
des Schlosses so malerisch über den goldgelben Wipfeln der Linden sichtbar
war, hatte ihn nicht nur das hübsche Motiv bestimmt, sondern auch die Absicht,
sich bemerkbar zu machen.

Frau Pastor Tannebaum hatte ihm von Mara und ihren Neigungen er¬
zählt. "Sie schwärmt für Nietzsches .Übermenschen' und geht jeden Morgen
barfuß auf dem Nasen spazieren!"

Da hatte sich Madelung, der Maler, vorgenommen, die Bekanntschaft
dieses ungewöhnlichen, ihm von vornherein sympathischen Mädchens zu machen,-
koste es, was es wolle.


Sturm

so wenig wie deine Wäscherei. Gib mir mein Pulver her! Vielleicht komme
ich noch ein bischen zum Schlafen."

So ging es jeden Tag. Seufzend gab Mara ihren Versuch, die Mutter
zu beeinflussen, auf.

Mit aller Energie wehrte sie sich gegen diese hoffnungslose Müdigkeit, von
der sie sich auch selber oft erfaßt fühlte. Sie steckte jetzt mit ein paar Griffen
ihrer mageren Hände ihr reiches rotblondes Haar vor dem Spiegel auf und
schlüpfte in ihr Reformkleid.

Dann wollte sie selbst wenigstens den herrlichen Morgen genießen. In
durstigen Atemzügen trank sie die köstliche frische Luft, die durch das Fenster
hereinströmte und ließ ihren Blick in die duftige Ferne schweifen. Da sah sie
am Rand der Wiese hinter dem Park eine fremde Erscheinung. Anfangs hielt
sie den hellen Fleck für eine weiße Ziege, die sich im Grase sonnte. Aber dann
schien es ihr doch wieder anders. Wenn ihre kurzsichtigen Augen sie nicht
täuschten, mußte es ein Mensch sein. Wer aber hatte dort um diese Stunde
was zu suchen?

In prickelnder Neugierde suchte sie ihr Fernglas hervor und stellte es ein.
Da erkannte sie zu ihrem hellen Erstaunen, daß der weiße Fleck die Leinewand
eines Malers war, der seine Staffelei dort drüben auf der Wiese aufgestellt hatte.

Ein Maler, ein richtiger Maler — wie mochte der hierher in diesen ab¬
gelegenen Erdenwinkel gekommen sein?

Mara pfiff ihrem Hund, einem schönen silbergrauen Barsoy, der noch
verschlafen auf seinem Kissen lag und rannte die Treppe hinunter in den Park.

Ihre Absicht war, geraden Wegs nach der Wiese zu gehen, um sich das
Wunder, das sich da in Borkülls nüchternes Milieu verirrt hatte, aus der Nähe
anzusehen. Aber die Menschenscheu, die ihr anhaftete, und die nichts war als
ein Symptom ihrer inneren Haltlosigkeit, kam wieder über sie und hemmte ihre
Schritte, je deutlicher der Maler hinter den Büschen des Parks sichtbar wurde.

Sie tat, als bemerke sie ihn nicht, schwenkte rechts in einen Seitenpfad
ein, machte einen großen Bogen und kam dann langsam auf demselben Weg
wieder zurück.

Der Maler hatte sie längst gesehen. Als er vor einer Stunde seine
Werkstatt auf diesem Wiesenabhang aufschlug, von wo aus das braunrote Dach
des Schlosses so malerisch über den goldgelben Wipfeln der Linden sichtbar
war, hatte ihn nicht nur das hübsche Motiv bestimmt, sondern auch die Absicht,
sich bemerkbar zu machen.

Frau Pastor Tannebaum hatte ihm von Mara und ihren Neigungen er¬
zählt. „Sie schwärmt für Nietzsches .Übermenschen' und geht jeden Morgen
barfuß auf dem Nasen spazieren!"

Da hatte sich Madelung, der Maler, vorgenommen, die Bekanntschaft
dieses ungewöhnlichen, ihm von vornherein sympathischen Mädchens zu machen,-
koste es, was es wolle.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/382>, abgerufen am 27.07.2024.