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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen

läuft. Vielmehr wollen wir mit Goethe "den Unwert einer überhäuften Empirie"
einsehen lernen und lehren, den Kampf gegen die "millionenfache Hydra der
Empirie" und das Sichverlieren "in die Minutien des grenzenlosen Mannig¬
faltigen" mutig aufnehmen und die höher zu bildende Jugend in der Über¬
zeugung bestärken, daß man "das Neuzuerfahrende" keineswegs "durch bloße
Erfahrung in seine Gewalt bekommen könne". Vielmehr nur durch Jdeen-
bildung wird das Gesehene geschaut und in den Busen als ein "Wirkliches"
zu dauerndem Besitz -- als "Gehalt" -- aufgesogen, vermag das "Feste",
das ist die Welt der Dinge, deren Kenntnis aller Unterricht in erster Linie
übermittelt, "zu Geist zu verrinnen" und als "Geisterzeugtes sest bewahrt"
zu werden.

Gewiß wird das alles durch verstärkte Pflege der Philosophie aus den
höheren Schulen angebahnt werden können. Nur dürfen wir hierbei eben nicht
in zwei Fehler verfallen, einmal zu einseitig Geschichte der Philosophie zu
betreiben -- eher Geschichte philosophischer Probleme -- und anderseits,
fertige, vermeintlich endgültige Lösungen als unumstößliche Wahrheiten ein¬
prägen zu wollen -- vielmehr "philosophieren" soll gelehrt werden, weniger
"Unterricht in der Philosophie" als "Philosophie im Unterricht" soll getrieben
werden, wie es auch zutreffend ausgedrückt worden ist, d. h. also sorgfältige
Pflege der in allen Unterrichtsstoffen enthaltenen philosophischen Elemente. Daß
das schon für die Heranbildung der Lehrer auf den Universitäten weiter¬
greifende Folgen haben muß, versteht sich von selbst. Die können gar nicht aus¬
bleiben, wenn nur erst die Notwendigkeit des Obigen genügend eingesehen ist.
Und notwendig ist freilich die Pflege des Sinnes für die Selbständigkeit eines
geistigen Lebensinhaltes -- man denke daran, wie die gesamte philosophische
Wirksamkeit eines Rudolf Eucken dieses Ziel verfolgt --, damit nicht jener
Typus des modernen Deutschen zu einer nationalen Gefahr sich auswachse,
den ich als den allzu zielbewußter Nichts-als-Zweck-Menschen bezeichne und
dessen Erscheinen durch die ungeahnten Erfolge unserer nationalen Industrie
und unseren gesamten volkswirtschaftlichen Aufschwung erklärlich genug ist.

Aber es handelt sich bei der Ausbildung der Fähigkeit, den aus den höheren
Schulen erworbenen Stoff der "Weltkenntnis" später zu einer "Weltanschauung"
zu formen und zu gestalten, keineswegs nur um ein Verfahren im Unterricht
selbst, der natürlich überall, z. B. durchaus auch in der Religion, wissen¬
schaftlich begründet sein muß, und dessen technische Vervollkommnung heute schon
wieder viel zu einseitig betont wird. Vielmehr ist gerade auch in den mancherlei
erzieherischen Momenten, deren Pflege neben dem wissenschaftlichen Unterricht,
neben der Vermittlung von Kenntnissen, mit Recht immer nachdrücklicher gefordert
wird, die Möglichkeit vorhanden, jene Fähigkeit zu künftiger Weltanschauung
auszubilden.

Bei der ungeheuren Bedeutung, die das Verständnis für das rechte Ver¬
hältnis von Freiheit und Notwendigkeit für jede Weltanschauung hat --


Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen

läuft. Vielmehr wollen wir mit Goethe „den Unwert einer überhäuften Empirie"
einsehen lernen und lehren, den Kampf gegen die „millionenfache Hydra der
Empirie" und das Sichverlieren „in die Minutien des grenzenlosen Mannig¬
faltigen" mutig aufnehmen und die höher zu bildende Jugend in der Über¬
zeugung bestärken, daß man „das Neuzuerfahrende" keineswegs „durch bloße
Erfahrung in seine Gewalt bekommen könne". Vielmehr nur durch Jdeen-
bildung wird das Gesehene geschaut und in den Busen als ein „Wirkliches"
zu dauerndem Besitz — als „Gehalt" — aufgesogen, vermag das „Feste",
das ist die Welt der Dinge, deren Kenntnis aller Unterricht in erster Linie
übermittelt, „zu Geist zu verrinnen" und als „Geisterzeugtes sest bewahrt"
zu werden.

Gewiß wird das alles durch verstärkte Pflege der Philosophie aus den
höheren Schulen angebahnt werden können. Nur dürfen wir hierbei eben nicht
in zwei Fehler verfallen, einmal zu einseitig Geschichte der Philosophie zu
betreiben — eher Geschichte philosophischer Probleme — und anderseits,
fertige, vermeintlich endgültige Lösungen als unumstößliche Wahrheiten ein¬
prägen zu wollen — vielmehr „philosophieren" soll gelehrt werden, weniger
„Unterricht in der Philosophie" als „Philosophie im Unterricht" soll getrieben
werden, wie es auch zutreffend ausgedrückt worden ist, d. h. also sorgfältige
Pflege der in allen Unterrichtsstoffen enthaltenen philosophischen Elemente. Daß
das schon für die Heranbildung der Lehrer auf den Universitäten weiter¬
greifende Folgen haben muß, versteht sich von selbst. Die können gar nicht aus¬
bleiben, wenn nur erst die Notwendigkeit des Obigen genügend eingesehen ist.
Und notwendig ist freilich die Pflege des Sinnes für die Selbständigkeit eines
geistigen Lebensinhaltes — man denke daran, wie die gesamte philosophische
Wirksamkeit eines Rudolf Eucken dieses Ziel verfolgt —, damit nicht jener
Typus des modernen Deutschen zu einer nationalen Gefahr sich auswachse,
den ich als den allzu zielbewußter Nichts-als-Zweck-Menschen bezeichne und
dessen Erscheinen durch die ungeahnten Erfolge unserer nationalen Industrie
und unseren gesamten volkswirtschaftlichen Aufschwung erklärlich genug ist.

Aber es handelt sich bei der Ausbildung der Fähigkeit, den aus den höheren
Schulen erworbenen Stoff der „Weltkenntnis" später zu einer „Weltanschauung"
zu formen und zu gestalten, keineswegs nur um ein Verfahren im Unterricht
selbst, der natürlich überall, z. B. durchaus auch in der Religion, wissen¬
schaftlich begründet sein muß, und dessen technische Vervollkommnung heute schon
wieder viel zu einseitig betont wird. Vielmehr ist gerade auch in den mancherlei
erzieherischen Momenten, deren Pflege neben dem wissenschaftlichen Unterricht,
neben der Vermittlung von Kenntnissen, mit Recht immer nachdrücklicher gefordert
wird, die Möglichkeit vorhanden, jene Fähigkeit zu künftiger Weltanschauung
auszubilden.

Bei der ungeheuren Bedeutung, die das Verständnis für das rechte Ver¬
hältnis von Freiheit und Notwendigkeit für jede Weltanschauung hat —


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[0378] Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen läuft. Vielmehr wollen wir mit Goethe „den Unwert einer überhäuften Empirie" einsehen lernen und lehren, den Kampf gegen die „millionenfache Hydra der Empirie" und das Sichverlieren „in die Minutien des grenzenlosen Mannig¬ faltigen" mutig aufnehmen und die höher zu bildende Jugend in der Über¬ zeugung bestärken, daß man „das Neuzuerfahrende" keineswegs „durch bloße Erfahrung in seine Gewalt bekommen könne". Vielmehr nur durch Jdeen- bildung wird das Gesehene geschaut und in den Busen als ein „Wirkliches" zu dauerndem Besitz — als „Gehalt" — aufgesogen, vermag das „Feste", das ist die Welt der Dinge, deren Kenntnis aller Unterricht in erster Linie übermittelt, „zu Geist zu verrinnen" und als „Geisterzeugtes sest bewahrt" zu werden. Gewiß wird das alles durch verstärkte Pflege der Philosophie aus den höheren Schulen angebahnt werden können. Nur dürfen wir hierbei eben nicht in zwei Fehler verfallen, einmal zu einseitig Geschichte der Philosophie zu betreiben — eher Geschichte philosophischer Probleme — und anderseits, fertige, vermeintlich endgültige Lösungen als unumstößliche Wahrheiten ein¬ prägen zu wollen — vielmehr „philosophieren" soll gelehrt werden, weniger „Unterricht in der Philosophie" als „Philosophie im Unterricht" soll getrieben werden, wie es auch zutreffend ausgedrückt worden ist, d. h. also sorgfältige Pflege der in allen Unterrichtsstoffen enthaltenen philosophischen Elemente. Daß das schon für die Heranbildung der Lehrer auf den Universitäten weiter¬ greifende Folgen haben muß, versteht sich von selbst. Die können gar nicht aus¬ bleiben, wenn nur erst die Notwendigkeit des Obigen genügend eingesehen ist. Und notwendig ist freilich die Pflege des Sinnes für die Selbständigkeit eines geistigen Lebensinhaltes — man denke daran, wie die gesamte philosophische Wirksamkeit eines Rudolf Eucken dieses Ziel verfolgt —, damit nicht jener Typus des modernen Deutschen zu einer nationalen Gefahr sich auswachse, den ich als den allzu zielbewußter Nichts-als-Zweck-Menschen bezeichne und dessen Erscheinen durch die ungeahnten Erfolge unserer nationalen Industrie und unseren gesamten volkswirtschaftlichen Aufschwung erklärlich genug ist. Aber es handelt sich bei der Ausbildung der Fähigkeit, den aus den höheren Schulen erworbenen Stoff der „Weltkenntnis" später zu einer „Weltanschauung" zu formen und zu gestalten, keineswegs nur um ein Verfahren im Unterricht selbst, der natürlich überall, z. B. durchaus auch in der Religion, wissen¬ schaftlich begründet sein muß, und dessen technische Vervollkommnung heute schon wieder viel zu einseitig betont wird. Vielmehr ist gerade auch in den mancherlei erzieherischen Momenten, deren Pflege neben dem wissenschaftlichen Unterricht, neben der Vermittlung von Kenntnissen, mit Recht immer nachdrücklicher gefordert wird, die Möglichkeit vorhanden, jene Fähigkeit zu künftiger Weltanschauung auszubilden. Bei der ungeheuren Bedeutung, die das Verständnis für das rechte Ver¬ hältnis von Freiheit und Notwendigkeit für jede Weltanschauung hat —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/378>, abgerufen am 22.12.2024.