Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Roman und Epos

säßigen Troern eingestellt. Jeder Romanschriftsteller hätte hierin das ganze
Werk verankert, aus dieser Grundverschiedenheit der Lebensbedingungen alle
Probleme erstehen lassen -- und mit gutem Fug. Anders der Epiker.
Seine größte Sorge war diese Verschiedenheit aufzuheben, um das Ganze in
Bewegung zu setzen. Wohl Hausen die Troer in festen Mauern hinter dem
Mischen Tore, wohl geht Hektor ins wohlgebaute Haus. Aber über Ilion ist
das Todesurteil gesprochen und das Bewußtsein der Troer ist durchtränkt von
dem unabwendbaren Verhängnis. Die Ordnung, die Behaglichkeit des fried¬
lichen, gefestigten Zustandes ist auch in Troja bloß Vergangenheit; gegenwärtig
aber ist Auflösung, Lockerung, Einsturz, Kopfüber-kopfunter. Bei den Achaiern
wieder erscheinen die behaglich und breitausgesponnenen Erinnerungen an das
"liebe Land der Vater" als ausgleichendes Gegengewicht, das ihr Abenteuerer¬
dasein unter dem Zelte dem Zustand der Stätigkeit näher bringt. So ist hüben
und drüben mit viel Kunst und weitverzweigter Absichtlichkeit der Wesensunter-
schied zwischen dem stäten und dem Ausladen aufgehoben und das zugunsten
einer alles umfassenden, aber gemäßigten Gesamtbewegung. Hie Bewegung
des Anstürmenden -- da Bewegung des Einstürzenden, aber hüben und drüben
der außerordentliche, aufgelöste Zustand: M'ol" ?zr. In Hermann und Dorothea
dagegen stehen sich die beiden Welten, das Stäte und das Unstcite in einer Schnitt¬
fläche kraß gegenüber. Die bodenständige, heimische, wurzelnde Menschheit steht
plötzlich der flüchtigen gegenüber, und das in der Gegenwart des Geschehens!
Darin liegt aber auch der wunde Punkt des hohen Werkes; sein stellenweises
Hinneigen zum Roman unter dem einheitlich eposhaften Kleid rührt von der
Gegenwärtigkeit einer unbewegten, verharrenden Welt her. Überall fällt Goethe
ins romanhaft Idyllische, wo der Löwenwirt und sein Besitz, sein Kreis uns
beschäftigt, das Großepische kosmischer Erinnerungsferne erreicht seine Dichtung
nur im Findender, in der vorbeifegenden Sturzwelle der Entwurzelten. Der
Geist des Epos spricht aus dem Munde der Vertriebenen:


--; denn alles bewegt sich
Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen.
Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten.
Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer,
Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe.


Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden;
Mehr ein Fremdling als jemals ist nun ein jeder geworden.
Uns gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze;
Gold und Silber schmilzt-aus den alten heiligen Formen;
Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts
Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten."

Die bisher äußerlich und rein empirisch beobachteten Stileigentümlichkeiten
des Epos werden sich nun mit Hilfe der Idee der epischen Erinnerungsferne
und seiner Folgen einem System einfügen. Solcher Eigenheiten kann man ja
'


24
Roman und Epos

säßigen Troern eingestellt. Jeder Romanschriftsteller hätte hierin das ganze
Werk verankert, aus dieser Grundverschiedenheit der Lebensbedingungen alle
Probleme erstehen lassen — und mit gutem Fug. Anders der Epiker.
Seine größte Sorge war diese Verschiedenheit aufzuheben, um das Ganze in
Bewegung zu setzen. Wohl Hausen die Troer in festen Mauern hinter dem
Mischen Tore, wohl geht Hektor ins wohlgebaute Haus. Aber über Ilion ist
das Todesurteil gesprochen und das Bewußtsein der Troer ist durchtränkt von
dem unabwendbaren Verhängnis. Die Ordnung, die Behaglichkeit des fried¬
lichen, gefestigten Zustandes ist auch in Troja bloß Vergangenheit; gegenwärtig
aber ist Auflösung, Lockerung, Einsturz, Kopfüber-kopfunter. Bei den Achaiern
wieder erscheinen die behaglich und breitausgesponnenen Erinnerungen an das
„liebe Land der Vater" als ausgleichendes Gegengewicht, das ihr Abenteuerer¬
dasein unter dem Zelte dem Zustand der Stätigkeit näher bringt. So ist hüben
und drüben mit viel Kunst und weitverzweigter Absichtlichkeit der Wesensunter-
schied zwischen dem stäten und dem Ausladen aufgehoben und das zugunsten
einer alles umfassenden, aber gemäßigten Gesamtbewegung. Hie Bewegung
des Anstürmenden — da Bewegung des Einstürzenden, aber hüben und drüben
der außerordentliche, aufgelöste Zustand: M'ol« ?zr. In Hermann und Dorothea
dagegen stehen sich die beiden Welten, das Stäte und das Unstcite in einer Schnitt¬
fläche kraß gegenüber. Die bodenständige, heimische, wurzelnde Menschheit steht
plötzlich der flüchtigen gegenüber, und das in der Gegenwart des Geschehens!
Darin liegt aber auch der wunde Punkt des hohen Werkes; sein stellenweises
Hinneigen zum Roman unter dem einheitlich eposhaften Kleid rührt von der
Gegenwärtigkeit einer unbewegten, verharrenden Welt her. Überall fällt Goethe
ins romanhaft Idyllische, wo der Löwenwirt und sein Besitz, sein Kreis uns
beschäftigt, das Großepische kosmischer Erinnerungsferne erreicht seine Dichtung
nur im Findender, in der vorbeifegenden Sturzwelle der Entwurzelten. Der
Geist des Epos spricht aus dem Munde der Vertriebenen:


—; denn alles bewegt sich
Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen.
Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten.
Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer,
Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe.


Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden;
Mehr ein Fremdling als jemals ist nun ein jeder geworden.
Uns gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze;
Gold und Silber schmilzt-aus den alten heiligen Formen;
Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts
Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten."

Die bisher äußerlich und rein empirisch beobachteten Stileigentümlichkeiten
des Epos werden sich nun mit Hilfe der Idee der epischen Erinnerungsferne
und seiner Folgen einem System einfügen. Solcher Eigenheiten kann man ja
'


24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0375" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325895"/>
          <fw type="header" place="top"> Roman und Epos</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1489" prev="#ID_1488"> säßigen Troern eingestellt. Jeder Romanschriftsteller hätte hierin das ganze<lb/>
Werk verankert, aus dieser Grundverschiedenheit der Lebensbedingungen alle<lb/>
Probleme erstehen lassen &#x2014; und mit gutem Fug. Anders der Epiker.<lb/>
Seine größte Sorge war diese Verschiedenheit aufzuheben, um das Ganze in<lb/>
Bewegung zu setzen. Wohl Hausen die Troer in festen Mauern hinter dem<lb/>
Mischen Tore, wohl geht Hektor ins wohlgebaute Haus. Aber über Ilion ist<lb/>
das Todesurteil gesprochen und das Bewußtsein der Troer ist durchtränkt von<lb/>
dem unabwendbaren Verhängnis. Die Ordnung, die Behaglichkeit des fried¬<lb/>
lichen, gefestigten Zustandes ist auch in Troja bloß Vergangenheit; gegenwärtig<lb/>
aber ist Auflösung, Lockerung, Einsturz, Kopfüber-kopfunter. Bei den Achaiern<lb/>
wieder erscheinen die behaglich und breitausgesponnenen Erinnerungen an das<lb/>
&#x201E;liebe Land der Vater" als ausgleichendes Gegengewicht, das ihr Abenteuerer¬<lb/>
dasein unter dem Zelte dem Zustand der Stätigkeit näher bringt. So ist hüben<lb/>
und drüben mit viel Kunst und weitverzweigter Absichtlichkeit der Wesensunter-<lb/>
schied zwischen dem stäten und dem Ausladen aufgehoben und das zugunsten<lb/>
einer alles umfassenden, aber gemäßigten Gesamtbewegung. Hie Bewegung<lb/>
des Anstürmenden &#x2014; da Bewegung des Einstürzenden, aber hüben und drüben<lb/>
der außerordentliche, aufgelöste Zustand: M'ol« ?zr. In Hermann und Dorothea<lb/>
dagegen stehen sich die beiden Welten, das Stäte und das Unstcite in einer Schnitt¬<lb/>
fläche kraß gegenüber. Die bodenständige, heimische, wurzelnde Menschheit steht<lb/>
plötzlich der flüchtigen gegenüber, und das in der Gegenwart des Geschehens!<lb/>
Darin liegt aber auch der wunde Punkt des hohen Werkes; sein stellenweises<lb/>
Hinneigen zum Roman unter dem einheitlich eposhaften Kleid rührt von der<lb/>
Gegenwärtigkeit einer unbewegten, verharrenden Welt her. Überall fällt Goethe<lb/>
ins romanhaft Idyllische, wo der Löwenwirt und sein Besitz, sein Kreis uns<lb/>
beschäftigt, das Großepische kosmischer Erinnerungsferne erreicht seine Dichtung<lb/>
nur im Findender, in der vorbeifegenden Sturzwelle der Entwurzelten. Der<lb/>
Geist des Epos spricht aus dem Munde der Vertriebenen:</p><lb/>
          <quote>
            <p xml:id="ID_1490"> &#x2014;; denn alles bewegt sich<lb/>
Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen.<lb/>
Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten.<lb/>
Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer,<lb/>
Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe.</p>
          </quote>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p xml:id="ID_1491"> Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden;<lb/>
Mehr ein Fremdling als jemals ist nun ein jeder geworden.<lb/>
Uns gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze;<lb/>
Gold und Silber schmilzt-aus den alten heiligen Formen;<lb/>
Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts<lb/>
Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1492" next="#ID_1493"> Die bisher äußerlich und rein empirisch beobachteten Stileigentümlichkeiten<lb/>
des Epos werden sich nun mit Hilfe der Idee der epischen Erinnerungsferne<lb/>
und seiner Folgen einem System einfügen.  Solcher Eigenheiten kann man ja<lb/>
'</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 24</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0375] Roman und Epos säßigen Troern eingestellt. Jeder Romanschriftsteller hätte hierin das ganze Werk verankert, aus dieser Grundverschiedenheit der Lebensbedingungen alle Probleme erstehen lassen — und mit gutem Fug. Anders der Epiker. Seine größte Sorge war diese Verschiedenheit aufzuheben, um das Ganze in Bewegung zu setzen. Wohl Hausen die Troer in festen Mauern hinter dem Mischen Tore, wohl geht Hektor ins wohlgebaute Haus. Aber über Ilion ist das Todesurteil gesprochen und das Bewußtsein der Troer ist durchtränkt von dem unabwendbaren Verhängnis. Die Ordnung, die Behaglichkeit des fried¬ lichen, gefestigten Zustandes ist auch in Troja bloß Vergangenheit; gegenwärtig aber ist Auflösung, Lockerung, Einsturz, Kopfüber-kopfunter. Bei den Achaiern wieder erscheinen die behaglich und breitausgesponnenen Erinnerungen an das „liebe Land der Vater" als ausgleichendes Gegengewicht, das ihr Abenteuerer¬ dasein unter dem Zelte dem Zustand der Stätigkeit näher bringt. So ist hüben und drüben mit viel Kunst und weitverzweigter Absichtlichkeit der Wesensunter- schied zwischen dem stäten und dem Ausladen aufgehoben und das zugunsten einer alles umfassenden, aber gemäßigten Gesamtbewegung. Hie Bewegung des Anstürmenden — da Bewegung des Einstürzenden, aber hüben und drüben der außerordentliche, aufgelöste Zustand: M'ol« ?zr. In Hermann und Dorothea dagegen stehen sich die beiden Welten, das Stäte und das Unstcite in einer Schnitt¬ fläche kraß gegenüber. Die bodenständige, heimische, wurzelnde Menschheit steht plötzlich der flüchtigen gegenüber, und das in der Gegenwart des Geschehens! Darin liegt aber auch der wunde Punkt des hohen Werkes; sein stellenweises Hinneigen zum Roman unter dem einheitlich eposhaften Kleid rührt von der Gegenwärtigkeit einer unbewegten, verharrenden Welt her. Überall fällt Goethe ins romanhaft Idyllische, wo der Löwenwirt und sein Besitz, sein Kreis uns beschäftigt, das Großepische kosmischer Erinnerungsferne erreicht seine Dichtung nur im Findender, in der vorbeifegenden Sturzwelle der Entwurzelten. Der Geist des Epos spricht aus dem Munde der Vertriebenen: —; denn alles bewegt sich Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen. Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten. Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer, Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe. Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden; Mehr ein Fremdling als jemals ist nun ein jeder geworden. Uns gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze; Gold und Silber schmilzt-aus den alten heiligen Formen; Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten." Die bisher äußerlich und rein empirisch beobachteten Stileigentümlichkeiten des Epos werden sich nun mit Hilfe der Idee der epischen Erinnerungsferne und seiner Folgen einem System einfügen. Solcher Eigenheiten kann man ja ' 24

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/375
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/375>, abgerufen am 27.07.2024.