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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

wird sich nicht mehr zurückdämmen lassen. Die "indische Nation" wird wachsen
und wachsen und wenn die Engländer sich ihr entgegenstemmen, so müssen sie
eines Tages (dieser Tag kann natürlich noch sehr fern liegen) einfach durch die
Wucht der vereinigten Masse -- vielleicht sogar völlig kampflos -- aus dem
Sattel gehoben werden.

Für die Engländer entsteht daher die schwerwiegende Frage, welche Taktik
sie den indischen Nationalisten gegenüber anwenden sollen. In der Theorie
ist die Antwort zwar ziemlich leicht gefunden: "Man brauche ja nur die bei
den anderen englischen Kolonien mit so viel Erfolg angewandte Methode zu be¬
folgen, d. h. den Indern schrittweise immer größere Freiheiten einzuräumen, bis
man schließlich bei dem uneingeschränkten "8eil Zovernement" Australiens und
Kanadas angelangt sei." Das ist mit wenigen Worten die landläufige Vor¬
stellung in England über die Zukunft Indiens. So schön dieser Plan klingt,
so schwer dürste es indessen sein, ihn in die Praxis umzusetzen. Denn Indien
ist nicht Australien oder Kanada. Einer überwiegend von Landsleuten be¬
völkerten Kolonie Selbstverwaltung zu geben, sobald sie auf eigenen Füßen
stehen kann, ist nicht nur eine leicht ausführbare, sondern sogar eine von der
Klugheit gebotene Maßregel. Denn die zwischen Kolonie und Mutterland be¬
stehenden Blutsbande haben sich im Verlauf der Geschichte noch stets als halt¬
barer erwiesen, wie alle bureaukratischen Fesseln. Ein mit dem Schwerte
unterworfenes Volk kann dagegen für seine Bezwinger keine dauernden Sym¬
pathien empfinden, mögen ihm auch noch so große Vorteile aus der Fremd¬
herrschaft erwachsen sein. Was will in Indien die verschwindend geringe Menge
bodenbeständig gewordener Engländer gegenüber den 300 Millionen Eingeborenen
besagen? Es wäre vergeblich darauf zu hoffen, daß dieses nur mittels Kanonen
und Bajonette behauptete Land sich einst durch ähnlich feste Bande an England
ketten ließe, wie Kanada und Australien.

Wäre indessen nicht doch der Fall denkbar, daß der Übergang von der
Fremdherrschaft zum "8elk ^overnement" sich so friedlich und harmonisch
vollzöge, daß die zwischen England und Indien bestehende wirtschaftliche
Interessengemeinschaft allein genügte, um Kolonie und Mutterland zusammen¬
zuhalten? Dieser Gedanke scheint den Männern vorzuschweben, welche heute
über die Geschicke Indiens entscheiden. Die Morleysche Reformbill vom
Jahre 1907 kommt wenigstens zahlreichen indischen Wünschen weit entgegen.
Als tiefeinschneidende Neuerung ist vor allem die Berufung eines Inders in
den nur aus sechs Mitgliedern bestehenden Rat des Vizekönigs C7lis viLewyg


der Fremdherrschaft, namentlich wenn sie durch die europäisch-asiatische Geschichte das Ge-
heimnis erfahren, wie wir die Herrschaft erlangten und behaupten... Verlieren wir einst
Indien, schuld daran sind nur die Erziehungsanstalten." (Neumann II. 243.) Zur Ehre
der Engländer sei es gesagt, daß sie sich diesen Standpunkt nie offiziell zu eigen gemacht
haben, sondern weit mehr für die Erziehung des indischen Volkes getan haben, als je irgend¬
eine einheimische Regierung.
Grenzboten II 1913 22
Die Engländer in Indien

wird sich nicht mehr zurückdämmen lassen. Die „indische Nation" wird wachsen
und wachsen und wenn die Engländer sich ihr entgegenstemmen, so müssen sie
eines Tages (dieser Tag kann natürlich noch sehr fern liegen) einfach durch die
Wucht der vereinigten Masse — vielleicht sogar völlig kampflos — aus dem
Sattel gehoben werden.

Für die Engländer entsteht daher die schwerwiegende Frage, welche Taktik
sie den indischen Nationalisten gegenüber anwenden sollen. In der Theorie
ist die Antwort zwar ziemlich leicht gefunden: „Man brauche ja nur die bei
den anderen englischen Kolonien mit so viel Erfolg angewandte Methode zu be¬
folgen, d. h. den Indern schrittweise immer größere Freiheiten einzuräumen, bis
man schließlich bei dem uneingeschränkten „8eil Zovernement" Australiens und
Kanadas angelangt sei." Das ist mit wenigen Worten die landläufige Vor¬
stellung in England über die Zukunft Indiens. So schön dieser Plan klingt,
so schwer dürste es indessen sein, ihn in die Praxis umzusetzen. Denn Indien
ist nicht Australien oder Kanada. Einer überwiegend von Landsleuten be¬
völkerten Kolonie Selbstverwaltung zu geben, sobald sie auf eigenen Füßen
stehen kann, ist nicht nur eine leicht ausführbare, sondern sogar eine von der
Klugheit gebotene Maßregel. Denn die zwischen Kolonie und Mutterland be¬
stehenden Blutsbande haben sich im Verlauf der Geschichte noch stets als halt¬
barer erwiesen, wie alle bureaukratischen Fesseln. Ein mit dem Schwerte
unterworfenes Volk kann dagegen für seine Bezwinger keine dauernden Sym¬
pathien empfinden, mögen ihm auch noch so große Vorteile aus der Fremd¬
herrschaft erwachsen sein. Was will in Indien die verschwindend geringe Menge
bodenbeständig gewordener Engländer gegenüber den 300 Millionen Eingeborenen
besagen? Es wäre vergeblich darauf zu hoffen, daß dieses nur mittels Kanonen
und Bajonette behauptete Land sich einst durch ähnlich feste Bande an England
ketten ließe, wie Kanada und Australien.

Wäre indessen nicht doch der Fall denkbar, daß der Übergang von der
Fremdherrschaft zum „8elk ^overnement" sich so friedlich und harmonisch
vollzöge, daß die zwischen England und Indien bestehende wirtschaftliche
Interessengemeinschaft allein genügte, um Kolonie und Mutterland zusammen¬
zuhalten? Dieser Gedanke scheint den Männern vorzuschweben, welche heute
über die Geschicke Indiens entscheiden. Die Morleysche Reformbill vom
Jahre 1907 kommt wenigstens zahlreichen indischen Wünschen weit entgegen.
Als tiefeinschneidende Neuerung ist vor allem die Berufung eines Inders in
den nur aus sechs Mitgliedern bestehenden Rat des Vizekönigs C7lis viLewyg


der Fremdherrschaft, namentlich wenn sie durch die europäisch-asiatische Geschichte das Ge-
heimnis erfahren, wie wir die Herrschaft erlangten und behaupten... Verlieren wir einst
Indien, schuld daran sind nur die Erziehungsanstalten." (Neumann II. 243.) Zur Ehre
der Engländer sei es gesagt, daß sie sich diesen Standpunkt nie offiziell zu eigen gemacht
haben, sondern weit mehr für die Erziehung des indischen Volkes getan haben, als je irgend¬
eine einheimische Regierung.
Grenzboten II 1913 22
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[0341] Die Engländer in Indien wird sich nicht mehr zurückdämmen lassen. Die „indische Nation" wird wachsen und wachsen und wenn die Engländer sich ihr entgegenstemmen, so müssen sie eines Tages (dieser Tag kann natürlich noch sehr fern liegen) einfach durch die Wucht der vereinigten Masse — vielleicht sogar völlig kampflos — aus dem Sattel gehoben werden. Für die Engländer entsteht daher die schwerwiegende Frage, welche Taktik sie den indischen Nationalisten gegenüber anwenden sollen. In der Theorie ist die Antwort zwar ziemlich leicht gefunden: „Man brauche ja nur die bei den anderen englischen Kolonien mit so viel Erfolg angewandte Methode zu be¬ folgen, d. h. den Indern schrittweise immer größere Freiheiten einzuräumen, bis man schließlich bei dem uneingeschränkten „8eil Zovernement" Australiens und Kanadas angelangt sei." Das ist mit wenigen Worten die landläufige Vor¬ stellung in England über die Zukunft Indiens. So schön dieser Plan klingt, so schwer dürste es indessen sein, ihn in die Praxis umzusetzen. Denn Indien ist nicht Australien oder Kanada. Einer überwiegend von Landsleuten be¬ völkerten Kolonie Selbstverwaltung zu geben, sobald sie auf eigenen Füßen stehen kann, ist nicht nur eine leicht ausführbare, sondern sogar eine von der Klugheit gebotene Maßregel. Denn die zwischen Kolonie und Mutterland be¬ stehenden Blutsbande haben sich im Verlauf der Geschichte noch stets als halt¬ barer erwiesen, wie alle bureaukratischen Fesseln. Ein mit dem Schwerte unterworfenes Volk kann dagegen für seine Bezwinger keine dauernden Sym¬ pathien empfinden, mögen ihm auch noch so große Vorteile aus der Fremd¬ herrschaft erwachsen sein. Was will in Indien die verschwindend geringe Menge bodenbeständig gewordener Engländer gegenüber den 300 Millionen Eingeborenen besagen? Es wäre vergeblich darauf zu hoffen, daß dieses nur mittels Kanonen und Bajonette behauptete Land sich einst durch ähnlich feste Bande an England ketten ließe, wie Kanada und Australien. Wäre indessen nicht doch der Fall denkbar, daß der Übergang von der Fremdherrschaft zum „8elk ^overnement" sich so friedlich und harmonisch vollzöge, daß die zwischen England und Indien bestehende wirtschaftliche Interessengemeinschaft allein genügte, um Kolonie und Mutterland zusammen¬ zuhalten? Dieser Gedanke scheint den Männern vorzuschweben, welche heute über die Geschicke Indiens entscheiden. Die Morleysche Reformbill vom Jahre 1907 kommt wenigstens zahlreichen indischen Wünschen weit entgegen. Als tiefeinschneidende Neuerung ist vor allem die Berufung eines Inders in den nur aus sechs Mitgliedern bestehenden Rat des Vizekönigs C7lis viLewyg der Fremdherrschaft, namentlich wenn sie durch die europäisch-asiatische Geschichte das Ge- heimnis erfahren, wie wir die Herrschaft erlangten und behaupten... Verlieren wir einst Indien, schuld daran sind nur die Erziehungsanstalten." (Neumann II. 243.) Zur Ehre der Engländer sei es gesagt, daß sie sich diesen Standpunkt nie offiziell zu eigen gemacht haben, sondern weit mehr für die Erziehung des indischen Volkes getan haben, als je irgend¬ eine einheimische Regierung. Grenzboten II 1913 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/341>, abgerufen am 28.07.2024.