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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die GÄung in Belgien

feiten der Klerikalen würden nun von feiten der sozialistischen Mehrheit zu er¬
warten sein. Sie würde, ehe die Klerikalen sich an das neue Wahlsystem gewöhnt
und das verlorene Terrain wieder zurückerobert hätten, dem sozialdemokratischen
Programm von heute entsprechend das allgemeine gleiche Stimmrecht weiter
ausdehnen, zunächst auf alle Männer über einundzwanzig Jahre.

Und dann?

Die Grenze der französischen Republik ist nicht fern. Schon zweimal war
Belgien Republik, einmal selbständig, einmal als Anhängsel von Frankreich.

Die Taten Leopolds des Zweiten waren mehr kaufmännisch als königlich;
er trat in mancher Hinsicht weniger hervor, als die Verfassung ihm gestattete.
Als sein Nachfolger Albert der Erste zeigte, daß er ein König sei und ver¬
fassungsgemäß, aber der jetzigen Generation ungewohnt, die Sitzung des Par¬
laments mit einer Thronrede eröffnete, erregte das einen Aufruhr bei Mitgliedern
der Linken, die innerhalb der gleichen Verfassung gewählt waren.

Man wird einwenden, daß die jetzige Generation der Proletarier friedlicher
sei als die vorige, daß z. B. der letzte Generalstreik nicht in Straßenkrawalle
und Blutvergießen ausartete, wie die Aufstände in den neunziger Jahren und
um die Wende des Jahrhunderts. Soll man wirklich nur die Proletarier und
ihre Führer darum loben? Kommen nicht manche von den Streitenden aus
katholischen Schulen, wo sie -- wenn sie auch nicht viele Kenntnisse erwerben --
doch das Gehorchen und Sichbeugen lernen, so daß es ihnen lebenslang in den
Knochen sitzt? Wie aber, wenn dieser wichtige Teil der Erziehung, wie wohl
kaum zu bezweifeln ist, in den religionslosen Schulen vernachlässigt wird, wenn
die einundzwanzigjähriger Wahlbürger und die ihnen nachgeratenden jüngeren,
weniger an Subordination und Sichfügen gewöhnt, den Kampf gegen die jetzige
Staatsordnung fortsetzen? Dann werden die Kämpfe nicht mehr mit solcher
Selbstzucht ausgefochten werden. Es bedarf wohl kaum eines Hinweises auf
das Temperament der Wallonen, durch deren Initiative schon mehr als eine
gewalttätige Umwälzung hervorgerufen wurde. Es bedarf auch keiner ausführ¬
lichen Auseinandersetzung, warum und wie schnell eine solche Revolution zur
Republik führen müßte.

Fraglich wäre jedoch, ob die konservativ veranlagten Fleiner auch diesmal
ihren unähnlichen Staatsgenossen folgen würden; noch fraglicher aber, ob sie
ihnen die Gefolgschaft alsdann noch versagen könnten, ob es zu solcher Selbst-
ständigkeit für sie nicht zu spät wäre.




Die GÄung in Belgien

feiten der Klerikalen würden nun von feiten der sozialistischen Mehrheit zu er¬
warten sein. Sie würde, ehe die Klerikalen sich an das neue Wahlsystem gewöhnt
und das verlorene Terrain wieder zurückerobert hätten, dem sozialdemokratischen
Programm von heute entsprechend das allgemeine gleiche Stimmrecht weiter
ausdehnen, zunächst auf alle Männer über einundzwanzig Jahre.

Und dann?

Die Grenze der französischen Republik ist nicht fern. Schon zweimal war
Belgien Republik, einmal selbständig, einmal als Anhängsel von Frankreich.

Die Taten Leopolds des Zweiten waren mehr kaufmännisch als königlich;
er trat in mancher Hinsicht weniger hervor, als die Verfassung ihm gestattete.
Als sein Nachfolger Albert der Erste zeigte, daß er ein König sei und ver¬
fassungsgemäß, aber der jetzigen Generation ungewohnt, die Sitzung des Par¬
laments mit einer Thronrede eröffnete, erregte das einen Aufruhr bei Mitgliedern
der Linken, die innerhalb der gleichen Verfassung gewählt waren.

Man wird einwenden, daß die jetzige Generation der Proletarier friedlicher
sei als die vorige, daß z. B. der letzte Generalstreik nicht in Straßenkrawalle
und Blutvergießen ausartete, wie die Aufstände in den neunziger Jahren und
um die Wende des Jahrhunderts. Soll man wirklich nur die Proletarier und
ihre Führer darum loben? Kommen nicht manche von den Streitenden aus
katholischen Schulen, wo sie — wenn sie auch nicht viele Kenntnisse erwerben —
doch das Gehorchen und Sichbeugen lernen, so daß es ihnen lebenslang in den
Knochen sitzt? Wie aber, wenn dieser wichtige Teil der Erziehung, wie wohl
kaum zu bezweifeln ist, in den religionslosen Schulen vernachlässigt wird, wenn
die einundzwanzigjähriger Wahlbürger und die ihnen nachgeratenden jüngeren,
weniger an Subordination und Sichfügen gewöhnt, den Kampf gegen die jetzige
Staatsordnung fortsetzen? Dann werden die Kämpfe nicht mehr mit solcher
Selbstzucht ausgefochten werden. Es bedarf wohl kaum eines Hinweises auf
das Temperament der Wallonen, durch deren Initiative schon mehr als eine
gewalttätige Umwälzung hervorgerufen wurde. Es bedarf auch keiner ausführ¬
lichen Auseinandersetzung, warum und wie schnell eine solche Revolution zur
Republik führen müßte.

Fraglich wäre jedoch, ob die konservativ veranlagten Fleiner auch diesmal
ihren unähnlichen Staatsgenossen folgen würden; noch fraglicher aber, ob sie
ihnen die Gefolgschaft alsdann noch versagen könnten, ob es zu solcher Selbst-
ständigkeit für sie nicht zu spät wäre.




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[0318] Die GÄung in Belgien feiten der Klerikalen würden nun von feiten der sozialistischen Mehrheit zu er¬ warten sein. Sie würde, ehe die Klerikalen sich an das neue Wahlsystem gewöhnt und das verlorene Terrain wieder zurückerobert hätten, dem sozialdemokratischen Programm von heute entsprechend das allgemeine gleiche Stimmrecht weiter ausdehnen, zunächst auf alle Männer über einundzwanzig Jahre. Und dann? Die Grenze der französischen Republik ist nicht fern. Schon zweimal war Belgien Republik, einmal selbständig, einmal als Anhängsel von Frankreich. Die Taten Leopolds des Zweiten waren mehr kaufmännisch als königlich; er trat in mancher Hinsicht weniger hervor, als die Verfassung ihm gestattete. Als sein Nachfolger Albert der Erste zeigte, daß er ein König sei und ver¬ fassungsgemäß, aber der jetzigen Generation ungewohnt, die Sitzung des Par¬ laments mit einer Thronrede eröffnete, erregte das einen Aufruhr bei Mitgliedern der Linken, die innerhalb der gleichen Verfassung gewählt waren. Man wird einwenden, daß die jetzige Generation der Proletarier friedlicher sei als die vorige, daß z. B. der letzte Generalstreik nicht in Straßenkrawalle und Blutvergießen ausartete, wie die Aufstände in den neunziger Jahren und um die Wende des Jahrhunderts. Soll man wirklich nur die Proletarier und ihre Führer darum loben? Kommen nicht manche von den Streitenden aus katholischen Schulen, wo sie — wenn sie auch nicht viele Kenntnisse erwerben — doch das Gehorchen und Sichbeugen lernen, so daß es ihnen lebenslang in den Knochen sitzt? Wie aber, wenn dieser wichtige Teil der Erziehung, wie wohl kaum zu bezweifeln ist, in den religionslosen Schulen vernachlässigt wird, wenn die einundzwanzigjähriger Wahlbürger und die ihnen nachgeratenden jüngeren, weniger an Subordination und Sichfügen gewöhnt, den Kampf gegen die jetzige Staatsordnung fortsetzen? Dann werden die Kämpfe nicht mehr mit solcher Selbstzucht ausgefochten werden. Es bedarf wohl kaum eines Hinweises auf das Temperament der Wallonen, durch deren Initiative schon mehr als eine gewalttätige Umwälzung hervorgerufen wurde. Es bedarf auch keiner ausführ¬ lichen Auseinandersetzung, warum und wie schnell eine solche Revolution zur Republik führen müßte. Fraglich wäre jedoch, ob die konservativ veranlagten Fleiner auch diesmal ihren unähnlichen Staatsgenossen folgen würden; noch fraglicher aber, ob sie ihnen die Gefolgschaft alsdann noch versagen könnten, ob es zu solcher Selbst- ständigkeit für sie nicht zu spät wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/318>, abgerufen am 27.07.2024.