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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gärung in Belgien

Familienvater und eine dritte als Besitzer eines eigenen Hauses: wenn aber
ein ungebildeter Mensch, der keine gemeinnützige Stelle im Lande einnimmt
und nicht verheiratet ist, außer seinem Hause noch Millionen besitzt, so können
die ihm doch nicht ohne weiteres zum dreifachen Stimmrecht verhelfen; er hat
nur zwei Stimmen, also weniger als der zuerst erwähnte Bürger, und auch
weniger als ein armer Lehrer oder Geistlicher, der unter Entbehrungen durch¬
gesetzt hat, eine höhere Bildung zu erwerben, und daher über eine doppelte
Zusatzstimme, über ein dreifaches Wahlrecht verfügt.

Die Statistik für die Wahlen von 1900/1901 und 1906/1907 möge die
antivlutokratische Tendenz der Wahlgesetze noch näher veranschaulichen:

Es gab1900/19011906/1907
Wahlberechtigte (Wahlpflichtige):..........1 472 9521 603 268
Einfache Zusatzstimmen dazu:
434 045
331 370371 794
" " Renten, Kapital usw.....1 0611432
Doppelte Zusatzstimmen infolge von
3. Bildungsgrad (10 832 doppelt:) . . .21 66429 624
4. Höheren Stellungen 132 851 doppelt:) , . .05 70271 830
Zweifelhaft..........1 824
Gesamtsumme der einzelnen Stimmen2 26S4142 513 817

Nur wenig mehr als tausend von beinahe einer Million dieser "poles supplö-
meniAires" kamen demnach solchen Wählern zugute, die sich im Genuß von
Renten oder Zinsen befanden; dagegen über vierhunderttausend den Familien¬
vätern reiferen Alters! Der Zahl nach also fiel beinahe die Hälfte dieser Ver¬
günstigungen Leuten zu, die nicht durch Geld oder vornehme Geburt oder
Protektion bevorzugt sind, sondern mehr Lebenserfahrung, ruhigere Auffassung
und größere Verantwortung haben! Wenn man nicht besser von einer
"Aristokratie des reiferen Alters" spräche, könnte man diese Vergünstigung der
ersten Gruppe wohl als eine demokratische bezeichnen -- demokratisch im guten
Sinne des Wortes.

Auch die 331870 (1906/1907: 371794) Grundbesitzer der zweiten Gruppe,
die sich einer gleichen Vergünstigung erfreuen, gehören der Mehrheit nach zum
Volk. Denn der Grundbesitz, mit dem das doppelte Wahlrecht verbunden ist,
muß als Mindestmaß nur einem geringen Werte, nämlich 48 Franken Miet¬
zins oder Reinertrag entsprechen. Wer einen tausendmal so großen Besitz hat,
genießt darum noch kein Stimmvorrecht vor dem Kleinbesitzer. Auch diese
Bestimmung entbehrt also nicht einer demokratischen Grundlage, trifft aber eine
Auslese nach der Seßhaftigkeit, Stetigkeit und Gebundenheit an die heimatliche
Scholle.

Noch stärker zeigt sich das Bestreben, wirklich dem Tüchtigsten, ohne An¬
sehen von Reichtum und Geburt, das höchste Mitbestimmungsrecht am Staate


Die Gärung in Belgien

Familienvater und eine dritte als Besitzer eines eigenen Hauses: wenn aber
ein ungebildeter Mensch, der keine gemeinnützige Stelle im Lande einnimmt
und nicht verheiratet ist, außer seinem Hause noch Millionen besitzt, so können
die ihm doch nicht ohne weiteres zum dreifachen Stimmrecht verhelfen; er hat
nur zwei Stimmen, also weniger als der zuerst erwähnte Bürger, und auch
weniger als ein armer Lehrer oder Geistlicher, der unter Entbehrungen durch¬
gesetzt hat, eine höhere Bildung zu erwerben, und daher über eine doppelte
Zusatzstimme, über ein dreifaches Wahlrecht verfügt.

Die Statistik für die Wahlen von 1900/1901 und 1906/1907 möge die
antivlutokratische Tendenz der Wahlgesetze noch näher veranschaulichen:

Es gab1900/19011906/1907
Wahlberechtigte (Wahlpflichtige):..........1 472 9521 603 268
Einfache Zusatzstimmen dazu:
434 045
331 370371 794
„ „ Renten, Kapital usw.....1 0611432
Doppelte Zusatzstimmen infolge von
3. Bildungsgrad (10 832 doppelt:) . . .21 66429 624
4. Höheren Stellungen 132 851 doppelt:) , . .05 70271 830
Zweifelhaft..........1 824
Gesamtsumme der einzelnen Stimmen2 26S4142 513 817

Nur wenig mehr als tausend von beinahe einer Million dieser „poles supplö-
meniAires" kamen demnach solchen Wählern zugute, die sich im Genuß von
Renten oder Zinsen befanden; dagegen über vierhunderttausend den Familien¬
vätern reiferen Alters! Der Zahl nach also fiel beinahe die Hälfte dieser Ver¬
günstigungen Leuten zu, die nicht durch Geld oder vornehme Geburt oder
Protektion bevorzugt sind, sondern mehr Lebenserfahrung, ruhigere Auffassung
und größere Verantwortung haben! Wenn man nicht besser von einer
„Aristokratie des reiferen Alters" spräche, könnte man diese Vergünstigung der
ersten Gruppe wohl als eine demokratische bezeichnen — demokratisch im guten
Sinne des Wortes.

Auch die 331870 (1906/1907: 371794) Grundbesitzer der zweiten Gruppe,
die sich einer gleichen Vergünstigung erfreuen, gehören der Mehrheit nach zum
Volk. Denn der Grundbesitz, mit dem das doppelte Wahlrecht verbunden ist,
muß als Mindestmaß nur einem geringen Werte, nämlich 48 Franken Miet¬
zins oder Reinertrag entsprechen. Wer einen tausendmal so großen Besitz hat,
genießt darum noch kein Stimmvorrecht vor dem Kleinbesitzer. Auch diese
Bestimmung entbehrt also nicht einer demokratischen Grundlage, trifft aber eine
Auslese nach der Seßhaftigkeit, Stetigkeit und Gebundenheit an die heimatliche
Scholle.

Noch stärker zeigt sich das Bestreben, wirklich dem Tüchtigsten, ohne An¬
sehen von Reichtum und Geburt, das höchste Mitbestimmungsrecht am Staate


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[0312] Die Gärung in Belgien Familienvater und eine dritte als Besitzer eines eigenen Hauses: wenn aber ein ungebildeter Mensch, der keine gemeinnützige Stelle im Lande einnimmt und nicht verheiratet ist, außer seinem Hause noch Millionen besitzt, so können die ihm doch nicht ohne weiteres zum dreifachen Stimmrecht verhelfen; er hat nur zwei Stimmen, also weniger als der zuerst erwähnte Bürger, und auch weniger als ein armer Lehrer oder Geistlicher, der unter Entbehrungen durch¬ gesetzt hat, eine höhere Bildung zu erwerben, und daher über eine doppelte Zusatzstimme, über ein dreifaches Wahlrecht verfügt. Die Statistik für die Wahlen von 1900/1901 und 1906/1907 möge die antivlutokratische Tendenz der Wahlgesetze noch näher veranschaulichen: Es gab1900/19011906/1907 Wahlberechtigte (Wahlpflichtige):..........1 472 9521 603 268 Einfache Zusatzstimmen dazu: 434 045 331 370371 794 „ „ Renten, Kapital usw.....1 0611432 Doppelte Zusatzstimmen infolge von 3. Bildungsgrad (10 832 doppelt:) . . .21 66429 624 4. Höheren Stellungen 132 851 doppelt:) , . .05 70271 830 Zweifelhaft..........1 824 Gesamtsumme der einzelnen Stimmen2 26S4142 513 817 Nur wenig mehr als tausend von beinahe einer Million dieser „poles supplö- meniAires" kamen demnach solchen Wählern zugute, die sich im Genuß von Renten oder Zinsen befanden; dagegen über vierhunderttausend den Familien¬ vätern reiferen Alters! Der Zahl nach also fiel beinahe die Hälfte dieser Ver¬ günstigungen Leuten zu, die nicht durch Geld oder vornehme Geburt oder Protektion bevorzugt sind, sondern mehr Lebenserfahrung, ruhigere Auffassung und größere Verantwortung haben! Wenn man nicht besser von einer „Aristokratie des reiferen Alters" spräche, könnte man diese Vergünstigung der ersten Gruppe wohl als eine demokratische bezeichnen — demokratisch im guten Sinne des Wortes. Auch die 331870 (1906/1907: 371794) Grundbesitzer der zweiten Gruppe, die sich einer gleichen Vergünstigung erfreuen, gehören der Mehrheit nach zum Volk. Denn der Grundbesitz, mit dem das doppelte Wahlrecht verbunden ist, muß als Mindestmaß nur einem geringen Werte, nämlich 48 Franken Miet¬ zins oder Reinertrag entsprechen. Wer einen tausendmal so großen Besitz hat, genießt darum noch kein Stimmvorrecht vor dem Kleinbesitzer. Auch diese Bestimmung entbehrt also nicht einer demokratischen Grundlage, trifft aber eine Auslese nach der Seßhaftigkeit, Stetigkeit und Gebundenheit an die heimatliche Scholle. Noch stärker zeigt sich das Bestreben, wirklich dem Tüchtigsten, ohne An¬ sehen von Reichtum und Geburt, das höchste Mitbestimmungsrecht am Staate

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/312>, abgerufen am 28.07.2024.