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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gärung in Belgien

Varietäten der protestantischen Konfessionen); das alles sind positive Elemente!
In Belgien gehört ihm von diesen Positiven nur das Kapital und die fran¬
zösische, sogenannte feine Bildung: alles übrige ist negativ: der Gegnerschaft
gegen die Klerikalen fehlt die religiöse Unterlage (Protestanten gibt es unter
den eingeborenen Belgiern verschwindend wenige); sie können anch nicht, wie
die Liberalen in Italien und Deutschland, das Nationalgefühl gegen den
Papismus für sich in Anspruch nehmen; denn ihr staatlich belgischer Patrio¬
tismus wurzelt nicht im Volke und kaun: in einer Erdscholle, höchstens in einigen
wallonischen Distrikten können sie vor den anderen Parteien an das Volks¬
bewußtsein appellieren. Kurz, alle Erwägungen und alle Erfahrungen sprechen
dafür, daß es ihnen bald ergeht, wie allen gemäßigten Parteien in hitzigen
Zeiten: sie werden zwischen den Extremen mit elementarer Wucht zerrieben.

Der Kampf der Parteien wogt gegenwärtig um das Wahlrecht; was nach
der Entscheidung für ein Siegespreis winkt, können wir an dem großen Einsatz,
an dem seltenen Schauspiel ermessen, das uns kürzlich geboten wurde, an dem
Generalstreik, der kein Lohnkampf war, sondern um ein politisches Ideal gewagt
wurde und durch den so mancher errungene materielle Vorteil wieder verloren
ging. Es war eine Demonstration, die von den Arbeitern gegen den Rat der
Führer durchgesetzt wurde, für ein Stimmrechtsideal; es ist bekannt, welchen
Entbehrungen zum Trotz sie es wagten, wie wenig Geld in der Streikkasse
war und wie sie ihre Kinder außer Landes taten, um sie nicht verhungern und
verkommen zu lassen, zu Gesinnungsgenossen in Holland und Frankreich.

Da ist zutage getreten, über welche gewaltigen moralischen Kräfte doch
eine Bewegung verfügen muß, die einen solchen Heroismus zeigt. Was be¬
deutet gegen eine solche Kraft der Mammon der liberalen Fransquillons und
ihre französisch sein sollende Halbkultur? Damit läßt sich die Sozialdemokratie
nicht niederkämpfen, sondern nur durch eine gleich starke, aber anders geartete
Bewegung, die instinktiv, seelisch und ethisch große Menschenmassen zu Taten
und Opfern der Solidarität zusammenzwingt! Und das vermögen nur nationale
oder religiöse Bewegungen; solche haben sogar eins vor der Sozialdemokratie
voraus: ihre Ideale lassen sich nicht mit den Händen greifen und in die ent¬
täuschende Verwirklichung herabzerren!

Denn was ist, so erfaßt und mit kühlem Verstände aus der Nähe be¬
trachtet, dies politische Ideal, für das die Arbeiter im Generalstreik so un¬
geheuere Opfer gebracht haben? Es ist zunächst nichts weiter als das allgemeine
gleiche Wahlrecht, das wir in Deutschland längst in seiner Verwirklichung kennen!
Und was ist der gegenwärtige Rechtszustand in Belgien, den man diesem
Ideal zuliebe verändern will? Ein Wahlsystem, das von Leuten geschaffen
ist, die zu erfahren und einsichtig waren, um die Probleme des parlamentarischen
Regimes mit einer simpeln Formel der Gleichheit gedankenlos abtun zu können.

Das allgemeine, gleiche Wahlrecht im Deutschen Reiche traut jedem Manne,
der über fünfundzwanzig Jahre, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und


Die Gärung in Belgien

Varietäten der protestantischen Konfessionen); das alles sind positive Elemente!
In Belgien gehört ihm von diesen Positiven nur das Kapital und die fran¬
zösische, sogenannte feine Bildung: alles übrige ist negativ: der Gegnerschaft
gegen die Klerikalen fehlt die religiöse Unterlage (Protestanten gibt es unter
den eingeborenen Belgiern verschwindend wenige); sie können anch nicht, wie
die Liberalen in Italien und Deutschland, das Nationalgefühl gegen den
Papismus für sich in Anspruch nehmen; denn ihr staatlich belgischer Patrio¬
tismus wurzelt nicht im Volke und kaun: in einer Erdscholle, höchstens in einigen
wallonischen Distrikten können sie vor den anderen Parteien an das Volks¬
bewußtsein appellieren. Kurz, alle Erwägungen und alle Erfahrungen sprechen
dafür, daß es ihnen bald ergeht, wie allen gemäßigten Parteien in hitzigen
Zeiten: sie werden zwischen den Extremen mit elementarer Wucht zerrieben.

Der Kampf der Parteien wogt gegenwärtig um das Wahlrecht; was nach
der Entscheidung für ein Siegespreis winkt, können wir an dem großen Einsatz,
an dem seltenen Schauspiel ermessen, das uns kürzlich geboten wurde, an dem
Generalstreik, der kein Lohnkampf war, sondern um ein politisches Ideal gewagt
wurde und durch den so mancher errungene materielle Vorteil wieder verloren
ging. Es war eine Demonstration, die von den Arbeitern gegen den Rat der
Führer durchgesetzt wurde, für ein Stimmrechtsideal; es ist bekannt, welchen
Entbehrungen zum Trotz sie es wagten, wie wenig Geld in der Streikkasse
war und wie sie ihre Kinder außer Landes taten, um sie nicht verhungern und
verkommen zu lassen, zu Gesinnungsgenossen in Holland und Frankreich.

Da ist zutage getreten, über welche gewaltigen moralischen Kräfte doch
eine Bewegung verfügen muß, die einen solchen Heroismus zeigt. Was be¬
deutet gegen eine solche Kraft der Mammon der liberalen Fransquillons und
ihre französisch sein sollende Halbkultur? Damit läßt sich die Sozialdemokratie
nicht niederkämpfen, sondern nur durch eine gleich starke, aber anders geartete
Bewegung, die instinktiv, seelisch und ethisch große Menschenmassen zu Taten
und Opfern der Solidarität zusammenzwingt! Und das vermögen nur nationale
oder religiöse Bewegungen; solche haben sogar eins vor der Sozialdemokratie
voraus: ihre Ideale lassen sich nicht mit den Händen greifen und in die ent¬
täuschende Verwirklichung herabzerren!

Denn was ist, so erfaßt und mit kühlem Verstände aus der Nähe be¬
trachtet, dies politische Ideal, für das die Arbeiter im Generalstreik so un¬
geheuere Opfer gebracht haben? Es ist zunächst nichts weiter als das allgemeine
gleiche Wahlrecht, das wir in Deutschland längst in seiner Verwirklichung kennen!
Und was ist der gegenwärtige Rechtszustand in Belgien, den man diesem
Ideal zuliebe verändern will? Ein Wahlsystem, das von Leuten geschaffen
ist, die zu erfahren und einsichtig waren, um die Probleme des parlamentarischen
Regimes mit einer simpeln Formel der Gleichheit gedankenlos abtun zu können.

Das allgemeine, gleiche Wahlrecht im Deutschen Reiche traut jedem Manne,
der über fünfundzwanzig Jahre, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und


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[0310] Die Gärung in Belgien Varietäten der protestantischen Konfessionen); das alles sind positive Elemente! In Belgien gehört ihm von diesen Positiven nur das Kapital und die fran¬ zösische, sogenannte feine Bildung: alles übrige ist negativ: der Gegnerschaft gegen die Klerikalen fehlt die religiöse Unterlage (Protestanten gibt es unter den eingeborenen Belgiern verschwindend wenige); sie können anch nicht, wie die Liberalen in Italien und Deutschland, das Nationalgefühl gegen den Papismus für sich in Anspruch nehmen; denn ihr staatlich belgischer Patrio¬ tismus wurzelt nicht im Volke und kaun: in einer Erdscholle, höchstens in einigen wallonischen Distrikten können sie vor den anderen Parteien an das Volks¬ bewußtsein appellieren. Kurz, alle Erwägungen und alle Erfahrungen sprechen dafür, daß es ihnen bald ergeht, wie allen gemäßigten Parteien in hitzigen Zeiten: sie werden zwischen den Extremen mit elementarer Wucht zerrieben. Der Kampf der Parteien wogt gegenwärtig um das Wahlrecht; was nach der Entscheidung für ein Siegespreis winkt, können wir an dem großen Einsatz, an dem seltenen Schauspiel ermessen, das uns kürzlich geboten wurde, an dem Generalstreik, der kein Lohnkampf war, sondern um ein politisches Ideal gewagt wurde und durch den so mancher errungene materielle Vorteil wieder verloren ging. Es war eine Demonstration, die von den Arbeitern gegen den Rat der Führer durchgesetzt wurde, für ein Stimmrechtsideal; es ist bekannt, welchen Entbehrungen zum Trotz sie es wagten, wie wenig Geld in der Streikkasse war und wie sie ihre Kinder außer Landes taten, um sie nicht verhungern und verkommen zu lassen, zu Gesinnungsgenossen in Holland und Frankreich. Da ist zutage getreten, über welche gewaltigen moralischen Kräfte doch eine Bewegung verfügen muß, die einen solchen Heroismus zeigt. Was be¬ deutet gegen eine solche Kraft der Mammon der liberalen Fransquillons und ihre französisch sein sollende Halbkultur? Damit läßt sich die Sozialdemokratie nicht niederkämpfen, sondern nur durch eine gleich starke, aber anders geartete Bewegung, die instinktiv, seelisch und ethisch große Menschenmassen zu Taten und Opfern der Solidarität zusammenzwingt! Und das vermögen nur nationale oder religiöse Bewegungen; solche haben sogar eins vor der Sozialdemokratie voraus: ihre Ideale lassen sich nicht mit den Händen greifen und in die ent¬ täuschende Verwirklichung herabzerren! Denn was ist, so erfaßt und mit kühlem Verstände aus der Nähe be¬ trachtet, dies politische Ideal, für das die Arbeiter im Generalstreik so un¬ geheuere Opfer gebracht haben? Es ist zunächst nichts weiter als das allgemeine gleiche Wahlrecht, das wir in Deutschland längst in seiner Verwirklichung kennen! Und was ist der gegenwärtige Rechtszustand in Belgien, den man diesem Ideal zuliebe verändern will? Ein Wahlsystem, das von Leuten geschaffen ist, die zu erfahren und einsichtig waren, um die Probleme des parlamentarischen Regimes mit einer simpeln Formel der Gleichheit gedankenlos abtun zu können. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht im Deutschen Reiche traut jedem Manne, der über fünfundzwanzig Jahre, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/310>, abgerufen am 22.12.2024.