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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gärung in Belgien
Franz Fromme von in

och niemals, solange das Königreich der Belgier existiert, hat die
flämische Nation solch ein Selbstbewußtsein, solch einheitliche Tat¬
kraft an den Tag gelegt, daß das parlamentarische Leben dauernd
unter dem Zeichen gestanden hätte: Hie Vlaamsch! Hie Waalsch!
Die Gesetze, die zugunsten der Flamen zustande kamen, beschränkten
sich auf so primitive Forderungen der Humanität, daß nicht nur einige Wallonen,
sondern sogar die germanischen Gegner jeder germanischen Eigenart, die Sozial¬
demokraten Flanderns, dafür stimmten. Die plutokratischen Fransquillons und
die sozialdemokratischen "Internationalen" sind der Hauptgrund, warum eine
große nationale Partei unter den Flamen noch immer nicht ins Leben ge¬
treten ist. '

Der politische Antagonismus in Belgien ist vielmehr von Anfang an der
gewesen: Hie liberal -- hie klerikal! Und wie bekannt, haben vor einigen
Jahrzehnten die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und Veränderungen
einen neuen, werbekräftigeren Gegner auf den Plan gerufen: die Sozialdemo¬
kratie. Da sie die alten, noch von der französischen Revolution herstammenden
Ideale der Liberalen in ihr Programm mit hinübergenommen hat, und zwar
in einer erweiterten, jugendfrischeren Gestalt, so liegt die theoretische Behauptung
nahe, der Liberalismus sei nun überflüssig geworden; da sie mit einfacheren,
drastischeren Mitteln an das Denken, Fühlen und Begehren des Menschen
appelliert, so wird sie auch praktisch die Liberalen allmählich verdrängen, ja,
wenn sie sich erst auf das allgemeine gleiche Wahlrecht stützen kann, wird das
sogar sehr plötzlich eine vollendete Tatsache sein. Unser deutscher Liberalismus
unterscheidet sich von dem belgischen; er hat bei weitem kräftigere Stützen im
Wirtschaftsleben (Städte. Handelsstand, Kapital), besonders aber in gewissen
Idealen (Nationalgefühl, in katholischen Gegenden sogar religiöse Anschauungen:


Grenzboten II 1913 20


Die Gärung in Belgien
Franz Fromme von in

och niemals, solange das Königreich der Belgier existiert, hat die
flämische Nation solch ein Selbstbewußtsein, solch einheitliche Tat¬
kraft an den Tag gelegt, daß das parlamentarische Leben dauernd
unter dem Zeichen gestanden hätte: Hie Vlaamsch! Hie Waalsch!
Die Gesetze, die zugunsten der Flamen zustande kamen, beschränkten
sich auf so primitive Forderungen der Humanität, daß nicht nur einige Wallonen,
sondern sogar die germanischen Gegner jeder germanischen Eigenart, die Sozial¬
demokraten Flanderns, dafür stimmten. Die plutokratischen Fransquillons und
die sozialdemokratischen „Internationalen" sind der Hauptgrund, warum eine
große nationale Partei unter den Flamen noch immer nicht ins Leben ge¬
treten ist. '

Der politische Antagonismus in Belgien ist vielmehr von Anfang an der
gewesen: Hie liberal — hie klerikal! Und wie bekannt, haben vor einigen
Jahrzehnten die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und Veränderungen
einen neuen, werbekräftigeren Gegner auf den Plan gerufen: die Sozialdemo¬
kratie. Da sie die alten, noch von der französischen Revolution herstammenden
Ideale der Liberalen in ihr Programm mit hinübergenommen hat, und zwar
in einer erweiterten, jugendfrischeren Gestalt, so liegt die theoretische Behauptung
nahe, der Liberalismus sei nun überflüssig geworden; da sie mit einfacheren,
drastischeren Mitteln an das Denken, Fühlen und Begehren des Menschen
appelliert, so wird sie auch praktisch die Liberalen allmählich verdrängen, ja,
wenn sie sich erst auf das allgemeine gleiche Wahlrecht stützen kann, wird das
sogar sehr plötzlich eine vollendete Tatsache sein. Unser deutscher Liberalismus
unterscheidet sich von dem belgischen; er hat bei weitem kräftigere Stützen im
Wirtschaftsleben (Städte. Handelsstand, Kapital), besonders aber in gewissen
Idealen (Nationalgefühl, in katholischen Gegenden sogar religiöse Anschauungen:


Grenzboten II 1913 20
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[0309] [Abbildung] Die Gärung in Belgien Franz Fromme von in och niemals, solange das Königreich der Belgier existiert, hat die flämische Nation solch ein Selbstbewußtsein, solch einheitliche Tat¬ kraft an den Tag gelegt, daß das parlamentarische Leben dauernd unter dem Zeichen gestanden hätte: Hie Vlaamsch! Hie Waalsch! Die Gesetze, die zugunsten der Flamen zustande kamen, beschränkten sich auf so primitive Forderungen der Humanität, daß nicht nur einige Wallonen, sondern sogar die germanischen Gegner jeder germanischen Eigenart, die Sozial¬ demokraten Flanderns, dafür stimmten. Die plutokratischen Fransquillons und die sozialdemokratischen „Internationalen" sind der Hauptgrund, warum eine große nationale Partei unter den Flamen noch immer nicht ins Leben ge¬ treten ist. ' Der politische Antagonismus in Belgien ist vielmehr von Anfang an der gewesen: Hie liberal — hie klerikal! Und wie bekannt, haben vor einigen Jahrzehnten die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und Veränderungen einen neuen, werbekräftigeren Gegner auf den Plan gerufen: die Sozialdemo¬ kratie. Da sie die alten, noch von der französischen Revolution herstammenden Ideale der Liberalen in ihr Programm mit hinübergenommen hat, und zwar in einer erweiterten, jugendfrischeren Gestalt, so liegt die theoretische Behauptung nahe, der Liberalismus sei nun überflüssig geworden; da sie mit einfacheren, drastischeren Mitteln an das Denken, Fühlen und Begehren des Menschen appelliert, so wird sie auch praktisch die Liberalen allmählich verdrängen, ja, wenn sie sich erst auf das allgemeine gleiche Wahlrecht stützen kann, wird das sogar sehr plötzlich eine vollendete Tatsache sein. Unser deutscher Liberalismus unterscheidet sich von dem belgischen; er hat bei weitem kräftigere Stützen im Wirtschaftsleben (Städte. Handelsstand, Kapital), besonders aber in gewissen Idealen (Nationalgefühl, in katholischen Gegenden sogar religiöse Anschauungen: Grenzboten II 1913 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/309>, abgerufen am 30.12.2024.