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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Grundlage" des Imperialismus

einfachen Mann als eine selbstverständliche Forderung im Herzen gesessen
hätte.

Wenn es daher wahr ist, daß der heutige Imperialismus die ganzen Völker
ergreift -- und das ist wahr --, so ist mit dieser Tatsache der Beweis schon
geführt, daß er innere im Herzen des Volkes lebende Gründe haben muß. Er
kann sich nicht allein durch materielle Gründe erklären lassen, kann keine "Messer¬
und Gabelfrage" sein, wie die englischen Imperialisten betonen. Niemals in
der Geschichte hat sich eine Allgemeinheit, ein Volk, auf die Dauer von materiellen
Zielen allein leiten lassen; oft genug waren sie der Antrieb zum Handeln, nie der
alleinige Beweggrund. Wer sich daher mit der materiellen Erklärung des Im¬
perialismus, daß er auf dem Kapitalismus beruht, begnügt, der wird immer
nur eine Seite der Frage erfassen und wird nicht aus den inneren Zusammen¬
hängen heraus die Frage beantworten können: daß er und inwiefern er eine
Notwendigkeit ist.

Insofern werden Nachforschungen nach dieser Richtung hin weniger erfolg¬
reich sein, als diese inneren Zusammenhänge sich nie so rechnerisch klar werden
nachweisen lassen, wie die wirtschaftlich-kapitalistischen. Eine exakte Antwort auf
die Frage: welches sind die inneren Grundlagen für den Imperialismus? wird
sich daher nicht exakt durch Aufzählung von drei bis vier Punkten geben lassen.
Denn es kommt für die Ableitung theoretischer Grundsätze aus dem Volks¬
charakter erschwerend hinzu, daß der Imperialismus zwar eine allgemein inter¬
nationale Erscheinung ist, daß er aber in gewisser Weise immer bedingt sein
muß durch die geschichtlichen und natürlichen Vorbedingungen und Charakterzüge
eines jeden einzelnen Volkes.

Die Gründe, welche die breiten Massen der verschiedenen Völker zur Be¬
folgung einer imperialistischen Politik treiben, müssen einfacher Natur sein,
müssen aus allgemein-menschlichen, unkomplizierten Beweggründen hervorgehen.
Denn das Volk als solches wird nie den umständlichen Folgerungen einer
rechnenden Vernunft folgen, sondern es läßt sich von einfachen, allgemeinver¬
ständlichen Motiven, fast nur Instinkten treiben.

So sind alle großen Bewegungen in der Geschichte: die Völkerwanderung,
die Kreuzzüge, die Reformation, die Entdeckungen und Kolonisterungen im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert, der nationale Zusammenschluß im neun¬
zehnten Jahrhundert, zurückzuführen auf die einfachsten Regungen der mensch¬
lichen Seele: Selbsterhaltungstrieb, Gegenwirkung auf Bedrückung irgendwelcher
Art, Trieb nach größerer Freiheit in politischer, religiöser, wirtschaftlicher
Beziehung, oder Kampf als solcher. (Diese halb unbewußten Regungen wurden
dann in die Tat umgesetzt durch einzelne Menschen, die gewissermaßen heraus¬
destilliert waren aus diesen Massenregungen -- durch das Genie.) Als eine
solche allgemein menschliche Triebkraft wird man auch die imperialistische
Bewegung unserer Tage ansehen müssen. Es ist der in der Gegenwart die
Massen bewegende Trieb.


Grundlage» des Imperialismus

einfachen Mann als eine selbstverständliche Forderung im Herzen gesessen
hätte.

Wenn es daher wahr ist, daß der heutige Imperialismus die ganzen Völker
ergreift — und das ist wahr —, so ist mit dieser Tatsache der Beweis schon
geführt, daß er innere im Herzen des Volkes lebende Gründe haben muß. Er
kann sich nicht allein durch materielle Gründe erklären lassen, kann keine „Messer¬
und Gabelfrage" sein, wie die englischen Imperialisten betonen. Niemals in
der Geschichte hat sich eine Allgemeinheit, ein Volk, auf die Dauer von materiellen
Zielen allein leiten lassen; oft genug waren sie der Antrieb zum Handeln, nie der
alleinige Beweggrund. Wer sich daher mit der materiellen Erklärung des Im¬
perialismus, daß er auf dem Kapitalismus beruht, begnügt, der wird immer
nur eine Seite der Frage erfassen und wird nicht aus den inneren Zusammen¬
hängen heraus die Frage beantworten können: daß er und inwiefern er eine
Notwendigkeit ist.

Insofern werden Nachforschungen nach dieser Richtung hin weniger erfolg¬
reich sein, als diese inneren Zusammenhänge sich nie so rechnerisch klar werden
nachweisen lassen, wie die wirtschaftlich-kapitalistischen. Eine exakte Antwort auf
die Frage: welches sind die inneren Grundlagen für den Imperialismus? wird
sich daher nicht exakt durch Aufzählung von drei bis vier Punkten geben lassen.
Denn es kommt für die Ableitung theoretischer Grundsätze aus dem Volks¬
charakter erschwerend hinzu, daß der Imperialismus zwar eine allgemein inter¬
nationale Erscheinung ist, daß er aber in gewisser Weise immer bedingt sein
muß durch die geschichtlichen und natürlichen Vorbedingungen und Charakterzüge
eines jeden einzelnen Volkes.

Die Gründe, welche die breiten Massen der verschiedenen Völker zur Be¬
folgung einer imperialistischen Politik treiben, müssen einfacher Natur sein,
müssen aus allgemein-menschlichen, unkomplizierten Beweggründen hervorgehen.
Denn das Volk als solches wird nie den umständlichen Folgerungen einer
rechnenden Vernunft folgen, sondern es läßt sich von einfachen, allgemeinver¬
ständlichen Motiven, fast nur Instinkten treiben.

So sind alle großen Bewegungen in der Geschichte: die Völkerwanderung,
die Kreuzzüge, die Reformation, die Entdeckungen und Kolonisterungen im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert, der nationale Zusammenschluß im neun¬
zehnten Jahrhundert, zurückzuführen auf die einfachsten Regungen der mensch¬
lichen Seele: Selbsterhaltungstrieb, Gegenwirkung auf Bedrückung irgendwelcher
Art, Trieb nach größerer Freiheit in politischer, religiöser, wirtschaftlicher
Beziehung, oder Kampf als solcher. (Diese halb unbewußten Regungen wurden
dann in die Tat umgesetzt durch einzelne Menschen, die gewissermaßen heraus¬
destilliert waren aus diesen Massenregungen — durch das Genie.) Als eine
solche allgemein menschliche Triebkraft wird man auch die imperialistische
Bewegung unserer Tage ansehen müssen. Es ist der in der Gegenwart die
Massen bewegende Trieb.


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[0279] Grundlage» des Imperialismus einfachen Mann als eine selbstverständliche Forderung im Herzen gesessen hätte. Wenn es daher wahr ist, daß der heutige Imperialismus die ganzen Völker ergreift — und das ist wahr —, so ist mit dieser Tatsache der Beweis schon geführt, daß er innere im Herzen des Volkes lebende Gründe haben muß. Er kann sich nicht allein durch materielle Gründe erklären lassen, kann keine „Messer¬ und Gabelfrage" sein, wie die englischen Imperialisten betonen. Niemals in der Geschichte hat sich eine Allgemeinheit, ein Volk, auf die Dauer von materiellen Zielen allein leiten lassen; oft genug waren sie der Antrieb zum Handeln, nie der alleinige Beweggrund. Wer sich daher mit der materiellen Erklärung des Im¬ perialismus, daß er auf dem Kapitalismus beruht, begnügt, der wird immer nur eine Seite der Frage erfassen und wird nicht aus den inneren Zusammen¬ hängen heraus die Frage beantworten können: daß er und inwiefern er eine Notwendigkeit ist. Insofern werden Nachforschungen nach dieser Richtung hin weniger erfolg¬ reich sein, als diese inneren Zusammenhänge sich nie so rechnerisch klar werden nachweisen lassen, wie die wirtschaftlich-kapitalistischen. Eine exakte Antwort auf die Frage: welches sind die inneren Grundlagen für den Imperialismus? wird sich daher nicht exakt durch Aufzählung von drei bis vier Punkten geben lassen. Denn es kommt für die Ableitung theoretischer Grundsätze aus dem Volks¬ charakter erschwerend hinzu, daß der Imperialismus zwar eine allgemein inter¬ nationale Erscheinung ist, daß er aber in gewisser Weise immer bedingt sein muß durch die geschichtlichen und natürlichen Vorbedingungen und Charakterzüge eines jeden einzelnen Volkes. Die Gründe, welche die breiten Massen der verschiedenen Völker zur Be¬ folgung einer imperialistischen Politik treiben, müssen einfacher Natur sein, müssen aus allgemein-menschlichen, unkomplizierten Beweggründen hervorgehen. Denn das Volk als solches wird nie den umständlichen Folgerungen einer rechnenden Vernunft folgen, sondern es läßt sich von einfachen, allgemeinver¬ ständlichen Motiven, fast nur Instinkten treiben. So sind alle großen Bewegungen in der Geschichte: die Völkerwanderung, die Kreuzzüge, die Reformation, die Entdeckungen und Kolonisterungen im fünf¬ zehnten und sechzehnten Jahrhundert, der nationale Zusammenschluß im neun¬ zehnten Jahrhundert, zurückzuführen auf die einfachsten Regungen der mensch¬ lichen Seele: Selbsterhaltungstrieb, Gegenwirkung auf Bedrückung irgendwelcher Art, Trieb nach größerer Freiheit in politischer, religiöser, wirtschaftlicher Beziehung, oder Kampf als solcher. (Diese halb unbewußten Regungen wurden dann in die Tat umgesetzt durch einzelne Menschen, die gewissermaßen heraus¬ destilliert waren aus diesen Massenregungen — durch das Genie.) Als eine solche allgemein menschliche Triebkraft wird man auch die imperialistische Bewegung unserer Tage ansehen müssen. Es ist der in der Gegenwart die Massen bewegende Trieb.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/279>, abgerufen am 28.07.2024.