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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Grundlagen des Imperialismus

dürste jahrzehntelanger Arbeit, um allein den landwirtschaftlichen Kulturzustand
zu erreichen, den es zur Zeit der Blüte des alten Roms hatte. Aber trotzdem
drängt es nach außen und statt die Erträge des Landes für Meliorationen im
eigenen Lande zu verwenden, verausgabt es sie in kostspieligen Kolonialkriegen.
Sowohl bei Frankreich wie bei Italien mag halb unbewußt der alte
Wunsch der Mittelmeerstaaten nach dem Besitz der gegenüberliegenden Küste
mitsprechen -- wie Friedrich Naumann kürzlich in einem Vortrag ausführte --
auch kann das Vorgehen Italiens und Frankreichs als ein Gegenstoß gegen
das Vordringen der mohammedanischen Welt im Mittelalter aufgefaßt werden.
Aber all das wäre nur dann eine völlige Erklärung für das Vorwärtsdrängen
Italiens und Frankreichs gewesen, wenn diese beiden Länder sich auf das
Mittelmeerbecken beschränkt hätten. Statt dessen hat Frankreich auch sonst
zugegriffen: in Kamerun, in Madagaskar, in Jndochina; Italien hat sein Heil
in Abessinien versucht und ist noch heute glücklicher Besitzer der wilden Somali¬
küste und von Erythräa. All diese Neuerwerbungen stehen weder mit Italien
noch mit Frankreich in irgend welchem Zusammenhang. All diese Gebiete sind
ganz oder zum großen Teil nur aus dem imperialistischen Geist heraus erworben,
ohne innere Notwendigkeit.

Dasselbe anscheinend unbegründete Vorwärtsdrängen, das sich aus dem
englischen Imperialismus nicht erklären läßt, ist in beinahe noch höherem Maße
bei den andern imperialistischen Nationen zu beobachten: bei den Vereinigten .
Staaten, bei Rußland, bei Japan. Die Vereinigten Staaten, trotzdem sie die
doppelte Menge ihrer jetzigen Bewohner im eigenen Lande zu ernähren ver¬
möchten, treiben vielleicht die schärfste Ausdehttungspolitik: Kuba. Hawaii,
Philippinen, Mittelamerikanische Staaten, Primat in Südamerika -- alles in
einem Jahrzehnt. Dieser Imperialismus läßt sich nicht allein aus einer über¬
hitzten kapitalistischen Entwicklung heraus erklären. Zwar bedarf die amerika-
nische Industrie fremder Märkte, aber die eroberten Länder sind zum Teil
keine geeigneten Absatzgebiete; dann sind die Vereinigten Staaten auch noch nicht
zum anlagesuchenden Gläubigerstaat geworden, sondern bedürfen im Gegenteil
fremden Geldes in hohem Maße. Und schließlich kann Kapitalismus allein,
also rein wirtschaftliche Beweggründe, als treibende Kraft nicht in Frage kommen
bei einer Nation, deren politisches Denken und Fühlen in so hohem Maße von
einer bewußt zur Waffe des Imperialismus geschmiedeten Lehre -- wie der
Monroedoktrin -- beeinflußt wird.")

Dasselbe gilt für Rußland. Auch hier ungeheure weite Strecken un-
besiedelten Landes, deren intensive Bebauung wohl noch viele Jahrzehnte stiller
Arbeit erfordern würde, und doch ein unersättlicher Landhunger, Versuche, die
Mandschurei, Mongolei, Persten zu erwerben; überall eine scharf expansive.



*) Ich habe dies des Näheren in einem Aufsatz über die Monroedoktrin (Ur. 15,
Jahrgang 1912 der Grenzboten) ausgeführt.
Grundlagen des Imperialismus

dürste jahrzehntelanger Arbeit, um allein den landwirtschaftlichen Kulturzustand
zu erreichen, den es zur Zeit der Blüte des alten Roms hatte. Aber trotzdem
drängt es nach außen und statt die Erträge des Landes für Meliorationen im
eigenen Lande zu verwenden, verausgabt es sie in kostspieligen Kolonialkriegen.
Sowohl bei Frankreich wie bei Italien mag halb unbewußt der alte
Wunsch der Mittelmeerstaaten nach dem Besitz der gegenüberliegenden Küste
mitsprechen — wie Friedrich Naumann kürzlich in einem Vortrag ausführte —
auch kann das Vorgehen Italiens und Frankreichs als ein Gegenstoß gegen
das Vordringen der mohammedanischen Welt im Mittelalter aufgefaßt werden.
Aber all das wäre nur dann eine völlige Erklärung für das Vorwärtsdrängen
Italiens und Frankreichs gewesen, wenn diese beiden Länder sich auf das
Mittelmeerbecken beschränkt hätten. Statt dessen hat Frankreich auch sonst
zugegriffen: in Kamerun, in Madagaskar, in Jndochina; Italien hat sein Heil
in Abessinien versucht und ist noch heute glücklicher Besitzer der wilden Somali¬
küste und von Erythräa. All diese Neuerwerbungen stehen weder mit Italien
noch mit Frankreich in irgend welchem Zusammenhang. All diese Gebiete sind
ganz oder zum großen Teil nur aus dem imperialistischen Geist heraus erworben,
ohne innere Notwendigkeit.

Dasselbe anscheinend unbegründete Vorwärtsdrängen, das sich aus dem
englischen Imperialismus nicht erklären läßt, ist in beinahe noch höherem Maße
bei den andern imperialistischen Nationen zu beobachten: bei den Vereinigten .
Staaten, bei Rußland, bei Japan. Die Vereinigten Staaten, trotzdem sie die
doppelte Menge ihrer jetzigen Bewohner im eigenen Lande zu ernähren ver¬
möchten, treiben vielleicht die schärfste Ausdehttungspolitik: Kuba. Hawaii,
Philippinen, Mittelamerikanische Staaten, Primat in Südamerika — alles in
einem Jahrzehnt. Dieser Imperialismus läßt sich nicht allein aus einer über¬
hitzten kapitalistischen Entwicklung heraus erklären. Zwar bedarf die amerika-
nische Industrie fremder Märkte, aber die eroberten Länder sind zum Teil
keine geeigneten Absatzgebiete; dann sind die Vereinigten Staaten auch noch nicht
zum anlagesuchenden Gläubigerstaat geworden, sondern bedürfen im Gegenteil
fremden Geldes in hohem Maße. Und schließlich kann Kapitalismus allein,
also rein wirtschaftliche Beweggründe, als treibende Kraft nicht in Frage kommen
bei einer Nation, deren politisches Denken und Fühlen in so hohem Maße von
einer bewußt zur Waffe des Imperialismus geschmiedeten Lehre — wie der
Monroedoktrin — beeinflußt wird.")

Dasselbe gilt für Rußland. Auch hier ungeheure weite Strecken un-
besiedelten Landes, deren intensive Bebauung wohl noch viele Jahrzehnte stiller
Arbeit erfordern würde, und doch ein unersättlicher Landhunger, Versuche, die
Mandschurei, Mongolei, Persten zu erwerben; überall eine scharf expansive.



*) Ich habe dies des Näheren in einem Aufsatz über die Monroedoktrin (Ur. 15,
Jahrgang 1912 der Grenzboten) ausgeführt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/275>, abgerufen am 28.07.2024.