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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Der vorsichtige Freier

Hof; es sträubte sich und trat rückwärts: da sah er im Schutt zu seinen Füßen
einen Toten liegen und drüben, jenseits des Mauerrestes, noch einen, und sein
Entsetzen wuchs und das des Tieres mit.

Er wollte rufen, ob noch irgend jemand da sei, und wagte die Stimme
nicht zu erheben. Es war ihm. als hätte er ein Geräusch gehört. Er riß
eine der Pistolen aus der Satteltasche und rief laut in seiner wohlklingenden
Sprache und Stimme. Eine leise Stimme über ihm rief etwas zurück; ein
ganz junges weißgekleidetes Mädchen mit offenem blonden Haar, das Gesicht
fast so weiß wie ihr Kleid, stand an dem Mauerabgrund. Da zog er den
Hut bis zur Erde und rief empor und sie antwortete, aber sie verstanden ein¬
ander nicht; sie kam herab und winkte und wies ihm durch halbzerstörte Gänge
und über eine Treppe den Weg zu einem fast leeren Zimmer, in dem ein alter
weißhaariger und weißbärtiger Mann schlecht genug auf die Erde gebettet dalag;
sein Wams war geöffnet, nasse blutige Tücher deckten die Brust bis zum Kinn.
An den Anstrengungen und Zeichen, die der Verwundete machte, erkannte er,
daß der Mann durch den Hals geschossen war und nicht sprechen konnte. Avi-
nelli erriet, wen er vor sich hatte. Bei seinem Namen schien der Sterbende
ein Wunder zu erleben: aus seinen Augen glühte eine schmerzvolle Freude;
gierig ließ er sich erzählen, aber die Ermattung kam schnell. Das blasse Kind,
das vor ihm kniete, legte zitternd frische Tücher auf seine furchtbare Wunde.
Giulio ging Wasser holen und brachte Brot und Wein aus seiner Manteltasche.
Das Pferd, das er angebunden hatte, führte er zum Brunnentrog und fand
auch einen Grasfleck, wo es weiden konnte.

Es war Nacht geworden, aber das Mondlicht sah durch die zerrissenen
Mauern; stumm kauerte das Mädchen auf der Erde, bis der Vater unruhig
ward; seine Augen suchten Avinelli und die zitternden Finger griffen nach seiner
Hand und waren nicht zufrieden, bis das Kind ihn verstand und er beider
Hände in der seinen hielt; beschwörend gingen die Blicke von ihr zu ihm.
Dann kam ein schweres Röcheln aus seiner Brust und ein Blutstrom brach aus
seinem Munde. Augen und Gesicht veränderten sich furchtbar, und als sie sich
endlich bebend entschlossen, ihn aufzuheben, sank er zurück und sie sahen, daß
es mit ihm zu Ende war.

Avinelli kniete nieder und betete; nach einer Weile nahm er die Weinende
bei der Hand, zog sie sanft von dem Toten fort und deckte sie, die in ihrem
dünnen Kleide auch vor Kälte zitterte, mit seinem Mantel zu. Dann ging er
hinab, zog das Pferd in eines der Gewölbe und setzte sich neben dem Tier aus
die Erde. Er war eingeschlummert, als er mit Verwunderung und nicht ohne
Schrecken seinen eigenen Namen rufen hörte; aber es war nur das Kind, dem
bange geworden war und das den Gefährten suchte. Er bettete sie neben sich
in dem Gewölbe und sie schliefen geschwisterlich bis zum Morgen nebeneinander.

Am andern Tage begruben sie den Toten, so gut sie konnten, und sagten
einander rin Zeichen, daß sie einmal wiederkehren und sein Grab bessern wollten.


Der vorsichtige Freier

Hof; es sträubte sich und trat rückwärts: da sah er im Schutt zu seinen Füßen
einen Toten liegen und drüben, jenseits des Mauerrestes, noch einen, und sein
Entsetzen wuchs und das des Tieres mit.

Er wollte rufen, ob noch irgend jemand da sei, und wagte die Stimme
nicht zu erheben. Es war ihm. als hätte er ein Geräusch gehört. Er riß
eine der Pistolen aus der Satteltasche und rief laut in seiner wohlklingenden
Sprache und Stimme. Eine leise Stimme über ihm rief etwas zurück; ein
ganz junges weißgekleidetes Mädchen mit offenem blonden Haar, das Gesicht
fast so weiß wie ihr Kleid, stand an dem Mauerabgrund. Da zog er den
Hut bis zur Erde und rief empor und sie antwortete, aber sie verstanden ein¬
ander nicht; sie kam herab und winkte und wies ihm durch halbzerstörte Gänge
und über eine Treppe den Weg zu einem fast leeren Zimmer, in dem ein alter
weißhaariger und weißbärtiger Mann schlecht genug auf die Erde gebettet dalag;
sein Wams war geöffnet, nasse blutige Tücher deckten die Brust bis zum Kinn.
An den Anstrengungen und Zeichen, die der Verwundete machte, erkannte er,
daß der Mann durch den Hals geschossen war und nicht sprechen konnte. Avi-
nelli erriet, wen er vor sich hatte. Bei seinem Namen schien der Sterbende
ein Wunder zu erleben: aus seinen Augen glühte eine schmerzvolle Freude;
gierig ließ er sich erzählen, aber die Ermattung kam schnell. Das blasse Kind,
das vor ihm kniete, legte zitternd frische Tücher auf seine furchtbare Wunde.
Giulio ging Wasser holen und brachte Brot und Wein aus seiner Manteltasche.
Das Pferd, das er angebunden hatte, führte er zum Brunnentrog und fand
auch einen Grasfleck, wo es weiden konnte.

Es war Nacht geworden, aber das Mondlicht sah durch die zerrissenen
Mauern; stumm kauerte das Mädchen auf der Erde, bis der Vater unruhig
ward; seine Augen suchten Avinelli und die zitternden Finger griffen nach seiner
Hand und waren nicht zufrieden, bis das Kind ihn verstand und er beider
Hände in der seinen hielt; beschwörend gingen die Blicke von ihr zu ihm.
Dann kam ein schweres Röcheln aus seiner Brust und ein Blutstrom brach aus
seinem Munde. Augen und Gesicht veränderten sich furchtbar, und als sie sich
endlich bebend entschlossen, ihn aufzuheben, sank er zurück und sie sahen, daß
es mit ihm zu Ende war.

Avinelli kniete nieder und betete; nach einer Weile nahm er die Weinende
bei der Hand, zog sie sanft von dem Toten fort und deckte sie, die in ihrem
dünnen Kleide auch vor Kälte zitterte, mit seinem Mantel zu. Dann ging er
hinab, zog das Pferd in eines der Gewölbe und setzte sich neben dem Tier aus
die Erde. Er war eingeschlummert, als er mit Verwunderung und nicht ohne
Schrecken seinen eigenen Namen rufen hörte; aber es war nur das Kind, dem
bange geworden war und das den Gefährten suchte. Er bettete sie neben sich
in dem Gewölbe und sie schliefen geschwisterlich bis zum Morgen nebeneinander.

Am andern Tage begruben sie den Toten, so gut sie konnten, und sagten
einander rin Zeichen, daß sie einmal wiederkehren und sein Grab bessern wollten.


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[0240] Der vorsichtige Freier Hof; es sträubte sich und trat rückwärts: da sah er im Schutt zu seinen Füßen einen Toten liegen und drüben, jenseits des Mauerrestes, noch einen, und sein Entsetzen wuchs und das des Tieres mit. Er wollte rufen, ob noch irgend jemand da sei, und wagte die Stimme nicht zu erheben. Es war ihm. als hätte er ein Geräusch gehört. Er riß eine der Pistolen aus der Satteltasche und rief laut in seiner wohlklingenden Sprache und Stimme. Eine leise Stimme über ihm rief etwas zurück; ein ganz junges weißgekleidetes Mädchen mit offenem blonden Haar, das Gesicht fast so weiß wie ihr Kleid, stand an dem Mauerabgrund. Da zog er den Hut bis zur Erde und rief empor und sie antwortete, aber sie verstanden ein¬ ander nicht; sie kam herab und winkte und wies ihm durch halbzerstörte Gänge und über eine Treppe den Weg zu einem fast leeren Zimmer, in dem ein alter weißhaariger und weißbärtiger Mann schlecht genug auf die Erde gebettet dalag; sein Wams war geöffnet, nasse blutige Tücher deckten die Brust bis zum Kinn. An den Anstrengungen und Zeichen, die der Verwundete machte, erkannte er, daß der Mann durch den Hals geschossen war und nicht sprechen konnte. Avi- nelli erriet, wen er vor sich hatte. Bei seinem Namen schien der Sterbende ein Wunder zu erleben: aus seinen Augen glühte eine schmerzvolle Freude; gierig ließ er sich erzählen, aber die Ermattung kam schnell. Das blasse Kind, das vor ihm kniete, legte zitternd frische Tücher auf seine furchtbare Wunde. Giulio ging Wasser holen und brachte Brot und Wein aus seiner Manteltasche. Das Pferd, das er angebunden hatte, führte er zum Brunnentrog und fand auch einen Grasfleck, wo es weiden konnte. Es war Nacht geworden, aber das Mondlicht sah durch die zerrissenen Mauern; stumm kauerte das Mädchen auf der Erde, bis der Vater unruhig ward; seine Augen suchten Avinelli und die zitternden Finger griffen nach seiner Hand und waren nicht zufrieden, bis das Kind ihn verstand und er beider Hände in der seinen hielt; beschwörend gingen die Blicke von ihr zu ihm. Dann kam ein schweres Röcheln aus seiner Brust und ein Blutstrom brach aus seinem Munde. Augen und Gesicht veränderten sich furchtbar, und als sie sich endlich bebend entschlossen, ihn aufzuheben, sank er zurück und sie sahen, daß es mit ihm zu Ende war. Avinelli kniete nieder und betete; nach einer Weile nahm er die Weinende bei der Hand, zog sie sanft von dem Toten fort und deckte sie, die in ihrem dünnen Kleide auch vor Kälte zitterte, mit seinem Mantel zu. Dann ging er hinab, zog das Pferd in eines der Gewölbe und setzte sich neben dem Tier aus die Erde. Er war eingeschlummert, als er mit Verwunderung und nicht ohne Schrecken seinen eigenen Namen rufen hörte; aber es war nur das Kind, dem bange geworden war und das den Gefährten suchte. Er bettete sie neben sich in dem Gewölbe und sie schliefen geschwisterlich bis zum Morgen nebeneinander. Am andern Tage begruben sie den Toten, so gut sie konnten, und sagten einander rin Zeichen, daß sie einmal wiederkehren und sein Grab bessern wollten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/240>, abgerufen am 27.07.2024.