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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Richard lvagners parsifal

Hiermit ist auch erschlossen, was im zweiten Akt zwischen Kundry und
Parsifal vor sich geht.

Parsifal, das Kind, lebte still und friedsam bei der Mutter. Im Kinde
schläft gewissermaßen noch das Wollen, der Intellekt herrscht vor. (W. als W.
u. Vorst., Bd. II Buch III Kap. 31 Schluß.) So ist dem Kinde mit dem Wollen
auch das Leid fern; es hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Genie. "Wirklich
ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaßen ein
Kind." Was das Genie durch das Mitleid lernt, hat das Kind auch -- Freiheit
von den Sehnsuchtsqualen des Willens. Mit dem Eintritt in das Mannesalter
erwacht mit der Pubertät auch "die heftigste aller Begierden". Das "Genital¬
system" nennt Schopenhauer "den Brennpunkt des Willens". So tritt denn auch
Parsifal bald nach seinem Eintritt in die "Welt" das Weib als Lockung, Kundry,
entgegen; es lockt ihn in seiner stärksten Form der Wille zum Leben. Der
Liebe -- erster Kuß soll den Knaben zum "Manne" machen, soll die willenlose,
glückliche Zeit enden. Doch Parsifal bleibt ein Kind, nicht physisch, denn er
sühlt der Liebe, der Sehnsucht Qual, aber geistig; er bleibt "keusch"
ganz anders als Amfortas. Er ist das oben geschilderte Genie, dem aus der
Lockung zur Lebensbejahung, aus dem Erwachen des Willens


Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,
das alle Sinne mir faßt und zwingt I --

die Erkenntnis aufgeht durch das Mitleid. Er ist nicht ein Mensch wie alle.
Mit rascher, klarer Intuition erfaßt er als Genie, daß die Qualen der Sehnsucht,
die ihm der erwachte Wille bereitet, dieselben Qualen sind, die er ohne sie zu
verstehen bei Amfortas sah. Er weiß jetzt, indem er sein eigenes Leiden dem
fremden "gleichsetzt", daß sein Leid nur Mit--leiden ist:


Die Wunde sah ich bluten,
nun blutet sie mir selbst.

Noch mehr: Das Wesen der ganzen Welt erkennt er in seinem Leide wieder.
Kundrys Kuß hat ihn "welthellsichtig" gemacht.

In dieser Erkenntnis liegt für Parsifal sofort die Aufgabe, der Welt ein
Erlöser zu werden. Da er nämlich nicht mehr als Individuum -- es "hat sich
in solche Anschauung verloren" --, sondern als reines Subjekt dasteht, so ist das
Wesen der Welt, mit dem er sein eigenes Wesen als identisch erkannt hat, eben
auch von seinem eigensten Verhalten abhängig. Verneint er den Willen zur
Welt, so verneint er den Willen überhaupt, also besonders auch den
in Kundry verkörperten, den in Klingsors ganzem Zauberschloß geformten
Willen. Das geht klar aus Schopenhauer Z 34 W. als W. u. V.
(Schluß) hervor: "Wer nun besagtermaßen sich in die Anschauung der Natur
so weit vertieft und verloren hat, daß er nur noch als rein erkennendes
Subjekt da ist. wird aber dadurch unmittelbar inne, daß er als solches die
Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da
dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt! "deae omne8


Richard lvagners parsifal

Hiermit ist auch erschlossen, was im zweiten Akt zwischen Kundry und
Parsifal vor sich geht.

Parsifal, das Kind, lebte still und friedsam bei der Mutter. Im Kinde
schläft gewissermaßen noch das Wollen, der Intellekt herrscht vor. (W. als W.
u. Vorst., Bd. II Buch III Kap. 31 Schluß.) So ist dem Kinde mit dem Wollen
auch das Leid fern; es hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Genie. „Wirklich
ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaßen ein
Kind." Was das Genie durch das Mitleid lernt, hat das Kind auch — Freiheit
von den Sehnsuchtsqualen des Willens. Mit dem Eintritt in das Mannesalter
erwacht mit der Pubertät auch „die heftigste aller Begierden". Das „Genital¬
system" nennt Schopenhauer „den Brennpunkt des Willens". So tritt denn auch
Parsifal bald nach seinem Eintritt in die „Welt" das Weib als Lockung, Kundry,
entgegen; es lockt ihn in seiner stärksten Form der Wille zum Leben. Der
Liebe — erster Kuß soll den Knaben zum „Manne" machen, soll die willenlose,
glückliche Zeit enden. Doch Parsifal bleibt ein Kind, nicht physisch, denn er
sühlt der Liebe, der Sehnsucht Qual, aber geistig; er bleibt „keusch"
ganz anders als Amfortas. Er ist das oben geschilderte Genie, dem aus der
Lockung zur Lebensbejahung, aus dem Erwachen des Willens


Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,
das alle Sinne mir faßt und zwingt I —

die Erkenntnis aufgeht durch das Mitleid. Er ist nicht ein Mensch wie alle.
Mit rascher, klarer Intuition erfaßt er als Genie, daß die Qualen der Sehnsucht,
die ihm der erwachte Wille bereitet, dieselben Qualen sind, die er ohne sie zu
verstehen bei Amfortas sah. Er weiß jetzt, indem er sein eigenes Leiden dem
fremden „gleichsetzt", daß sein Leid nur Mit—leiden ist:


Die Wunde sah ich bluten,
nun blutet sie mir selbst.

Noch mehr: Das Wesen der ganzen Welt erkennt er in seinem Leide wieder.
Kundrys Kuß hat ihn „welthellsichtig" gemacht.

In dieser Erkenntnis liegt für Parsifal sofort die Aufgabe, der Welt ein
Erlöser zu werden. Da er nämlich nicht mehr als Individuum — es „hat sich
in solche Anschauung verloren" —, sondern als reines Subjekt dasteht, so ist das
Wesen der Welt, mit dem er sein eigenes Wesen als identisch erkannt hat, eben
auch von seinem eigensten Verhalten abhängig. Verneint er den Willen zur
Welt, so verneint er den Willen überhaupt, also besonders auch den
in Kundry verkörperten, den in Klingsors ganzem Zauberschloß geformten
Willen. Das geht klar aus Schopenhauer Z 34 W. als W. u. V.
(Schluß) hervor: „Wer nun besagtermaßen sich in die Anschauung der Natur
so weit vertieft und verloren hat, daß er nur noch als rein erkennendes
Subjekt da ist. wird aber dadurch unmittelbar inne, daß er als solches die
Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da
dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt! „deae omne8


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[0225] Richard lvagners parsifal Hiermit ist auch erschlossen, was im zweiten Akt zwischen Kundry und Parsifal vor sich geht. Parsifal, das Kind, lebte still und friedsam bei der Mutter. Im Kinde schläft gewissermaßen noch das Wollen, der Intellekt herrscht vor. (W. als W. u. Vorst., Bd. II Buch III Kap. 31 Schluß.) So ist dem Kinde mit dem Wollen auch das Leid fern; es hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Genie. „Wirklich ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaßen ein Kind." Was das Genie durch das Mitleid lernt, hat das Kind auch — Freiheit von den Sehnsuchtsqualen des Willens. Mit dem Eintritt in das Mannesalter erwacht mit der Pubertät auch „die heftigste aller Begierden". Das „Genital¬ system" nennt Schopenhauer „den Brennpunkt des Willens". So tritt denn auch Parsifal bald nach seinem Eintritt in die „Welt" das Weib als Lockung, Kundry, entgegen; es lockt ihn in seiner stärksten Form der Wille zum Leben. Der Liebe — erster Kuß soll den Knaben zum „Manne" machen, soll die willenlose, glückliche Zeit enden. Doch Parsifal bleibt ein Kind, nicht physisch, denn er sühlt der Liebe, der Sehnsucht Qual, aber geistig; er bleibt „keusch" ganz anders als Amfortas. Er ist das oben geschilderte Genie, dem aus der Lockung zur Lebensbejahung, aus dem Erwachen des Willens Das Sehnen, das furchtbare Sehnen, das alle Sinne mir faßt und zwingt I — die Erkenntnis aufgeht durch das Mitleid. Er ist nicht ein Mensch wie alle. Mit rascher, klarer Intuition erfaßt er als Genie, daß die Qualen der Sehnsucht, die ihm der erwachte Wille bereitet, dieselben Qualen sind, die er ohne sie zu verstehen bei Amfortas sah. Er weiß jetzt, indem er sein eigenes Leiden dem fremden „gleichsetzt", daß sein Leid nur Mit—leiden ist: Die Wunde sah ich bluten, nun blutet sie mir selbst. Noch mehr: Das Wesen der ganzen Welt erkennt er in seinem Leide wieder. Kundrys Kuß hat ihn „welthellsichtig" gemacht. In dieser Erkenntnis liegt für Parsifal sofort die Aufgabe, der Welt ein Erlöser zu werden. Da er nämlich nicht mehr als Individuum — es „hat sich in solche Anschauung verloren" —, sondern als reines Subjekt dasteht, so ist das Wesen der Welt, mit dem er sein eigenes Wesen als identisch erkannt hat, eben auch von seinem eigensten Verhalten abhängig. Verneint er den Willen zur Welt, so verneint er den Willen überhaupt, also besonders auch den in Kundry verkörperten, den in Klingsors ganzem Zauberschloß geformten Willen. Das geht klar aus Schopenhauer Z 34 W. als W. u. V. (Schluß) hervor: „Wer nun besagtermaßen sich in die Anschauung der Natur so weit vertieft und verloren hat, daß er nur noch als rein erkennendes Subjekt da ist. wird aber dadurch unmittelbar inne, daß er als solches die Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt! „deae omne8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/225>, abgerufen am 27.07.2024.