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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Richard Wagners Parsifcü

Leid ist des Menschen, ist der ganzen Welt Los. Das ergibt sich aus dem
Wesen des Willens. Der Mensch kann diese Erkenntnis natürlich nur aus sich
selbst haben. Geht ihm auf. daß sein eigenes Wesen Leid ist, bitteres, unstill¬
bares Leid, so wird er, da er dann als Genie, in seinem Wesen das Wesen
der Welt erkennt, das Ziel des Erkennens erreicht haben, da "alles objektive
Dasein nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt". Nur im
eigenen Erlebnis kann also das Genie das Wesen der Welt erfassen. Aus
tiefem Erlebnis heraus muß ihm als höchste Intuition, das Wissen, ent¬
springen. Dieses Erlebnis ist kein Gedanke, sondern nur ein Gefühl, also das
Gefühl sür das Leid der Welt. Solches Gefühl für das Leid der Welt ist
aber nur das Mitleid. Klar entwickelt auch Schopenhauer diesen Gedanken in
F 67 der W. a, W. u. V.; deshalb glaube ich die wichtige Stelle ganz an¬
führen zu müssen: "Nunmehr aber habe ich, in Hinsicht auf das oben aus¬
gesprochene Paradoxon, daran zu erinnern, daß wir früher dem Leben im
ganzen das Leiden wesentlich und von ihm unzertrennlich gefunden haben, und
daß wir einsahen, wie jeder Wunsch aus einem Bedürfnis, einem Mangel,
einem Leiden hervorgeht, daß daher jede Befriedigung nur ein hinweg-
genommener Schmerz, kein gebrachtes positives Glück ist, daß die Freuden zwar
dem Wunsche lügen, sie wären ein positives Gut, in Wahrheit aber nur
negativer Natur sind und nur das Ende eines Übels. Was daher auch Güte,
Liebe, Edelmut für andere tun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und
folglich ist, was sie bewegen kann zu guten Taten und Werken der Liebe,
immer nur die Erkenntnis des fremden Leidens, aus dem eigenen un¬
mittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergibt sich, daß
die reine Liebe ("7°-^ Larita8) ihrer Natur nach Mitleid ist."

Geht also in einem Menschen das Mitleid auf, so erfaßt er dadurch sein
eigenes und der Welt wahrstes Wesen. Wie kann aber das Mitleid geweckt
werden, das tiefe, geniale, welthellstchtig machende Mitleid? -- Der Wille
zum Leben tritt am stärksten in die Erscheinung, wenn er neues Leben schaffen
will, also im Zeugungstrieb. Wer in den Bann des Weibes fällt, bejaht mit
aller Kraft das Leben und entfernt sich dadurch auf das weiteste von der Er¬
kenntnis der Welt. Wer dagegen den Lockungen des stärksten Lebenstriebes
widersteht, dem Weibe trotzt, der verneint den Willen zum Leben auf das
deutlichste. Wird also das ahnungslose Genie durch das Weib angelockt, so
wird dadurch sein eigenstes Wesen auf die größte Probe gestellt. Versagt es in
diesem Augenblicke, so ist es ein gewöhnlicher Mensch, "ein Mensch wie alle",
ein Sünder wie alle. Im Moment dieser Versuchung entscheidet es sich, ob
es dem Wahn verfallen oder der höchsten Erkenntnis teilhaftig werden soll.
Im Kuß der Liebe muß die Intuition verborgen liegen. Früher sah der
Genius, einem Kinde gleich, stumpfen Auges in die Welt, sah das Leid und
verstand es nicht. Jetzt erkennt er das Leid der andern, dann sein eigenes
Leid und weiß, daß dieses Leid das Wesen der Welt ist, des Willens, den er


Richard Wagners Parsifcü

Leid ist des Menschen, ist der ganzen Welt Los. Das ergibt sich aus dem
Wesen des Willens. Der Mensch kann diese Erkenntnis natürlich nur aus sich
selbst haben. Geht ihm auf. daß sein eigenes Wesen Leid ist, bitteres, unstill¬
bares Leid, so wird er, da er dann als Genie, in seinem Wesen das Wesen
der Welt erkennt, das Ziel des Erkennens erreicht haben, da „alles objektive
Dasein nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt". Nur im
eigenen Erlebnis kann also das Genie das Wesen der Welt erfassen. Aus
tiefem Erlebnis heraus muß ihm als höchste Intuition, das Wissen, ent¬
springen. Dieses Erlebnis ist kein Gedanke, sondern nur ein Gefühl, also das
Gefühl sür das Leid der Welt. Solches Gefühl für das Leid der Welt ist
aber nur das Mitleid. Klar entwickelt auch Schopenhauer diesen Gedanken in
F 67 der W. a, W. u. V.; deshalb glaube ich die wichtige Stelle ganz an¬
führen zu müssen: „Nunmehr aber habe ich, in Hinsicht auf das oben aus¬
gesprochene Paradoxon, daran zu erinnern, daß wir früher dem Leben im
ganzen das Leiden wesentlich und von ihm unzertrennlich gefunden haben, und
daß wir einsahen, wie jeder Wunsch aus einem Bedürfnis, einem Mangel,
einem Leiden hervorgeht, daß daher jede Befriedigung nur ein hinweg-
genommener Schmerz, kein gebrachtes positives Glück ist, daß die Freuden zwar
dem Wunsche lügen, sie wären ein positives Gut, in Wahrheit aber nur
negativer Natur sind und nur das Ende eines Übels. Was daher auch Güte,
Liebe, Edelmut für andere tun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und
folglich ist, was sie bewegen kann zu guten Taten und Werken der Liebe,
immer nur die Erkenntnis des fremden Leidens, aus dem eigenen un¬
mittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergibt sich, daß
die reine Liebe («7°-^ Larita8) ihrer Natur nach Mitleid ist."

Geht also in einem Menschen das Mitleid auf, so erfaßt er dadurch sein
eigenes und der Welt wahrstes Wesen. Wie kann aber das Mitleid geweckt
werden, das tiefe, geniale, welthellstchtig machende Mitleid? — Der Wille
zum Leben tritt am stärksten in die Erscheinung, wenn er neues Leben schaffen
will, also im Zeugungstrieb. Wer in den Bann des Weibes fällt, bejaht mit
aller Kraft das Leben und entfernt sich dadurch auf das weiteste von der Er¬
kenntnis der Welt. Wer dagegen den Lockungen des stärksten Lebenstriebes
widersteht, dem Weibe trotzt, der verneint den Willen zum Leben auf das
deutlichste. Wird also das ahnungslose Genie durch das Weib angelockt, so
wird dadurch sein eigenstes Wesen auf die größte Probe gestellt. Versagt es in
diesem Augenblicke, so ist es ein gewöhnlicher Mensch, „ein Mensch wie alle",
ein Sünder wie alle. Im Moment dieser Versuchung entscheidet es sich, ob
es dem Wahn verfallen oder der höchsten Erkenntnis teilhaftig werden soll.
Im Kuß der Liebe muß die Intuition verborgen liegen. Früher sah der
Genius, einem Kinde gleich, stumpfen Auges in die Welt, sah das Leid und
verstand es nicht. Jetzt erkennt er das Leid der andern, dann sein eigenes
Leid und weiß, daß dieses Leid das Wesen der Welt ist, des Willens, den er


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[0222] Richard Wagners Parsifcü Leid ist des Menschen, ist der ganzen Welt Los. Das ergibt sich aus dem Wesen des Willens. Der Mensch kann diese Erkenntnis natürlich nur aus sich selbst haben. Geht ihm auf. daß sein eigenes Wesen Leid ist, bitteres, unstill¬ bares Leid, so wird er, da er dann als Genie, in seinem Wesen das Wesen der Welt erkennt, das Ziel des Erkennens erreicht haben, da „alles objektive Dasein nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt". Nur im eigenen Erlebnis kann also das Genie das Wesen der Welt erfassen. Aus tiefem Erlebnis heraus muß ihm als höchste Intuition, das Wissen, ent¬ springen. Dieses Erlebnis ist kein Gedanke, sondern nur ein Gefühl, also das Gefühl sür das Leid der Welt. Solches Gefühl für das Leid der Welt ist aber nur das Mitleid. Klar entwickelt auch Schopenhauer diesen Gedanken in F 67 der W. a, W. u. V.; deshalb glaube ich die wichtige Stelle ganz an¬ führen zu müssen: „Nunmehr aber habe ich, in Hinsicht auf das oben aus¬ gesprochene Paradoxon, daran zu erinnern, daß wir früher dem Leben im ganzen das Leiden wesentlich und von ihm unzertrennlich gefunden haben, und daß wir einsahen, wie jeder Wunsch aus einem Bedürfnis, einem Mangel, einem Leiden hervorgeht, daß daher jede Befriedigung nur ein hinweg- genommener Schmerz, kein gebrachtes positives Glück ist, daß die Freuden zwar dem Wunsche lügen, sie wären ein positives Gut, in Wahrheit aber nur negativer Natur sind und nur das Ende eines Übels. Was daher auch Güte, Liebe, Edelmut für andere tun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ist, was sie bewegen kann zu guten Taten und Werken der Liebe, immer nur die Erkenntnis des fremden Leidens, aus dem eigenen un¬ mittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergibt sich, daß die reine Liebe («7°-^ Larita8) ihrer Natur nach Mitleid ist." Geht also in einem Menschen das Mitleid auf, so erfaßt er dadurch sein eigenes und der Welt wahrstes Wesen. Wie kann aber das Mitleid geweckt werden, das tiefe, geniale, welthellstchtig machende Mitleid? — Der Wille zum Leben tritt am stärksten in die Erscheinung, wenn er neues Leben schaffen will, also im Zeugungstrieb. Wer in den Bann des Weibes fällt, bejaht mit aller Kraft das Leben und entfernt sich dadurch auf das weiteste von der Er¬ kenntnis der Welt. Wer dagegen den Lockungen des stärksten Lebenstriebes widersteht, dem Weibe trotzt, der verneint den Willen zum Leben auf das deutlichste. Wird also das ahnungslose Genie durch das Weib angelockt, so wird dadurch sein eigenstes Wesen auf die größte Probe gestellt. Versagt es in diesem Augenblicke, so ist es ein gewöhnlicher Mensch, „ein Mensch wie alle", ein Sünder wie alle. Im Moment dieser Versuchung entscheidet es sich, ob es dem Wahn verfallen oder der höchsten Erkenntnis teilhaftig werden soll. Im Kuß der Liebe muß die Intuition verborgen liegen. Früher sah der Genius, einem Kinde gleich, stumpfen Auges in die Welt, sah das Leid und verstand es nicht. Jetzt erkennt er das Leid der andern, dann sein eigenes Leid und weiß, daß dieses Leid das Wesen der Welt ist, des Willens, den er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/222>, abgerufen am 27.07.2024.