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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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England und Rußland in Persien

hindern, dort Einfluß zu suchen. Die Demarkationslinie zwischen der russischen
und der neutralen Zone ist eine durchaus künstliche Grenze, über die der Gang
der Ereignisse so leicht führen kann. Die Straßen und Eisenbahnen, die Ru߬
land in seiner nordperstschen Domäne bauen wird, werden kaum respektvoll die
Richtung nach dem persischen Golf vermeiden. Die Kosaken, die gegen räube¬
rische Nomaden kämpfen, können auf ihren Zügen leicht südlicher geraten. Wie,
wenn zu dieser natürlichen Entwicklung der Drang des Zarenreiches nach dem
offenen Meer, der Trieb nach dem Schar-el-Arad, heute eine englische Binnen¬
see, hinzutritt?

Rußland hat ausgedehnte Bahnpläne in Persien. Zunächst wird es eine
Linie von der transkaukasischen Grenzstadt Julfa nach Täbris bauen. Das
weitreichendste Projekt ist aber eine transiranische Bahn. Man steht diesem Plan
in England mit dem gleichen Bedenken gegenüber wie der Untertunnelung des
Kanals. Eine Bahn, die Persien durchquert, würde dazu beitragen, die Isolierung
Indiens nach der Landseite und damit die eigentliche Stärke seiner Verteidigung
zu durchbrechen. Man liebt weder in England noch in Indien die Aussicht,
zur Sicherung des indischen Kaiserreichs Rüstungen nach dem Muster europäischer
Festlandsmächte betreiben zu müssen. Ein weiteres Bahnprojekt Bagdad--
Rhanikin--Teheran ist Gegenstand des deutsch-russischen Abkommens von 1911
gewesen. Diese Konzession kann unter bestimmten Umständen an die deutsche
Bagdadbahngesellschaft fallen -- auch mit dieser Möglichkeit ist in England nicht
jedermann einverstanden.

England sieht sich nicht imstande, für seine Interessen im mittleren Osten
Rußland gegenüber mit Festigkeit einzutreten. Die Schwäche seiner Position
liegt einmal in der Unzulänglichkeit seiner indischen Landesverteidigung. Zum
andern aber wird ein energisches Auftreten gegenüber dem Partner durch die
europäische Ententepolitik gelähmt und durch die Furcht, Rußland an die Seite
Deutschlands zu treiben, wollte man sich seinen persischen Plänen nachdrücklich
widersetzen. So sucht denn die Politik Sir Edward Greys in Persien einer
Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Das Fortschreiten der russischen Bahn¬
bauten mag aber die Entwicklung, die England vermeiden möchte, beschleunigen
und den alten Gegensatz zwischen London und Se. Petersburg neu beleben.




England und Rußland in Persien

hindern, dort Einfluß zu suchen. Die Demarkationslinie zwischen der russischen
und der neutralen Zone ist eine durchaus künstliche Grenze, über die der Gang
der Ereignisse so leicht führen kann. Die Straßen und Eisenbahnen, die Ru߬
land in seiner nordperstschen Domäne bauen wird, werden kaum respektvoll die
Richtung nach dem persischen Golf vermeiden. Die Kosaken, die gegen räube¬
rische Nomaden kämpfen, können auf ihren Zügen leicht südlicher geraten. Wie,
wenn zu dieser natürlichen Entwicklung der Drang des Zarenreiches nach dem
offenen Meer, der Trieb nach dem Schar-el-Arad, heute eine englische Binnen¬
see, hinzutritt?

Rußland hat ausgedehnte Bahnpläne in Persien. Zunächst wird es eine
Linie von der transkaukasischen Grenzstadt Julfa nach Täbris bauen. Das
weitreichendste Projekt ist aber eine transiranische Bahn. Man steht diesem Plan
in England mit dem gleichen Bedenken gegenüber wie der Untertunnelung des
Kanals. Eine Bahn, die Persien durchquert, würde dazu beitragen, die Isolierung
Indiens nach der Landseite und damit die eigentliche Stärke seiner Verteidigung
zu durchbrechen. Man liebt weder in England noch in Indien die Aussicht,
zur Sicherung des indischen Kaiserreichs Rüstungen nach dem Muster europäischer
Festlandsmächte betreiben zu müssen. Ein weiteres Bahnprojekt Bagdad—
Rhanikin—Teheran ist Gegenstand des deutsch-russischen Abkommens von 1911
gewesen. Diese Konzession kann unter bestimmten Umständen an die deutsche
Bagdadbahngesellschaft fallen — auch mit dieser Möglichkeit ist in England nicht
jedermann einverstanden.

England sieht sich nicht imstande, für seine Interessen im mittleren Osten
Rußland gegenüber mit Festigkeit einzutreten. Die Schwäche seiner Position
liegt einmal in der Unzulänglichkeit seiner indischen Landesverteidigung. Zum
andern aber wird ein energisches Auftreten gegenüber dem Partner durch die
europäische Ententepolitik gelähmt und durch die Furcht, Rußland an die Seite
Deutschlands zu treiben, wollte man sich seinen persischen Plänen nachdrücklich
widersetzen. So sucht denn die Politik Sir Edward Greys in Persien einer
Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Das Fortschreiten der russischen Bahn¬
bauten mag aber die Entwicklung, die England vermeiden möchte, beschleunigen
und den alten Gegensatz zwischen London und Se. Petersburg neu beleben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/18>, abgerufen am 27.07.2024.