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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Aber auch vom ethischen Standpunkte
aus ist die Entscheidung, ob ein bestimmter
Filu zur Kategorie der Schundfilms zu
rechnen ist, keineswegs immer einfach.
Wie verschiedene Urteile der Berwaltungs-
gerichte in Preußen, Sachsen und Baden ge¬
zeigt haben, kann man über ein und den¬
selben Filu sehr Wohl verschiedener Meinung
sein.

Gewiß wird man bei der Beurteilung,
ob ein Filu als Schundfilm zu bezeichnen
ist, in erster Linie auf das Publikum Rück¬
sicht nehmen müssen, welchem er vorgeführt
werden soll. Da nun die Kinotheater er¬
fahrungsgemäß von den unteren Volks¬
schichten besucht zu werden Pflegen, welche im
allgemeinen Suggestionen leichter zugänglich
sind, ist es selbstverständlich, daß beider
Filmzensur ein strengerer Maßstab anzulegen
ist als bei der Theaterzensur. Dies muß
auch deswegen geschehen, weil das oft aus¬
gleichende Wort bei dem "Kinodramn" fehlt
und die Suggestion der die Wirklichkeit
täuschend nachahmenden, Handlung auf
Handlung häufenden "dramatischen" Szenen
des Kinos weit stärker wirken muß, als die
von Theaterstücken möglicherweise ausgehenden
suggestiven Anreize. . ,,

Ebenso selbstverständlich aber sollte sein,
daß ein Unterschied gemacht werden müßte
zwischen Films, welche auch vor Kindern vor¬
geführt werden sollen und solchen, welche nur
Erwachsenen gezeigt werden sollen. In
Preußen, Schweden, Osterreich und, soweit
wir sehen, auch sonst überall, hat man diesen
handgreiflichen Unterschied auch berücksichtigt;
nur, Bayern stellt an die Zensur für Er¬
wachsene die gleichen Anforderungen wie um
die Kinderzensur. , ,

Überraschend mag es manchem auf den
ersten Blick erscheinen, daß unter Umständen
selbst zweifellos belehrende Films zu Ver¬
boten für Jugendliche oder gar für Er¬
wachsene Anlaß geben können. Und doch folgt
dies aus der Relativität des Begriffes
"Schundfilm", die wir soeben auseinander¬
gesetzt haben. Wir denken da z. B. an einen
Filu, welcher einen Kampf zwischen der Larve
eines Wasserkäfers und einer Kaulquappe
zeigte, der nicht nur auf Kinder, sondern
auch sogar auf Frauen abstoßend wirkte und

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der unseres Erachtens durchaus mit Recht
von dem Berliner Polizeipräsidium zur Vor¬
führung vor Kindern nicht freigegeben worden
ist. Ein anderes Beispiel bietet ein Filu,
der verschiedene an und für sich vielleicht
höchst lehrreiche Operationen des Pariser
Chirurgen Dr. Doyen zeigte. Vor einem
Forum von Ärzten mag der Filu zu Bean¬
standungen nicht den geringsten Anlaß
geben; wenn er aber, wie dies tatsächlich
vorgekommen ist, auf Jahrmärkten vorgeführt
wird, so muß er abstoßend, gesundheitsschäd¬
lich und verrohend wirken.

Hiermit hängt es auch zusammen, daß ein
Filu an einem bestimmten Ort oder zu dieser
bestimmten Zeit als ein Schundfilm bezeichnet
werden muß, zu anderer Zeit oder an anderem
Orte völlig harmlos sein kann. So, ist die
politische Empfindlichkeit beispielsweise in den
Polnischen Gebieten des Ostens, den dänischen
des Nordens und im Westen von Elsaß-
Lothringen natürlich stärker entwickelt als im
Herzen Deutschlands; religiös anstößig sein
wird ein Filu sicherlich weit eher in streng¬
gläubigen Gebieten auf dem Lande als in
den Großstädten. Und ein Filu, der beispiels¬
weise ein harmloses Motiv aus einem Streik
zum Gegenstand hat, vermag die öffentliche
Sicherheit, Ruhe und Ordnung außerordentlich
zu stören, wenn er in einer Stadt vorgeführt
wird, in welcher gerade ein Streik die Ge¬
müter hüben und drüben heftig erregt.
, Aus dieser Relativität des Begriffes
Schundfilm einerseits, aus der großenSuggestiv-
kraft der Schundsilms anderseits ergeben sich
von selbst die Forderungen, welche man an
eine zweckmäßig funktionierende Filmzensur
zu stellen hat. > ^

Ästhetische Interessen hat der Zensor nicht
zu berücksichtigen, die moralischen und gesund¬
heitlichen Gefahren der Schundfilms hat er
aber mit aller Energie, wenn auch tunlichst
unter Schonung der Interessen der Gewerbe¬
treibenden zu bekämpfen. Da die Relativität
der Schundfilms einen weiten Blick erforder¬
lich macht, um sich in einem gegebenen Fall
darüber schlüssig zu werden, ob ein bestimmter
Filu zu verbieten ist oder nicht, darf die
Zensur nur von gebildeten höheren Polizei¬
beamten ausgeübt werden, wie dies in Berlin
geschieht, nicht dagegen, wie es in Sachsen

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Aber auch vom ethischen Standpunkte
aus ist die Entscheidung, ob ein bestimmter
Filu zur Kategorie der Schundfilms zu
rechnen ist, keineswegs immer einfach.
Wie verschiedene Urteile der Berwaltungs-
gerichte in Preußen, Sachsen und Baden ge¬
zeigt haben, kann man über ein und den¬
selben Filu sehr Wohl verschiedener Meinung
sein.

Gewiß wird man bei der Beurteilung,
ob ein Filu als Schundfilm zu bezeichnen
ist, in erster Linie auf das Publikum Rück¬
sicht nehmen müssen, welchem er vorgeführt
werden soll. Da nun die Kinotheater er¬
fahrungsgemäß von den unteren Volks¬
schichten besucht zu werden Pflegen, welche im
allgemeinen Suggestionen leichter zugänglich
sind, ist es selbstverständlich, daß beider
Filmzensur ein strengerer Maßstab anzulegen
ist als bei der Theaterzensur. Dies muß
auch deswegen geschehen, weil das oft aus¬
gleichende Wort bei dem „Kinodramn" fehlt
und die Suggestion der die Wirklichkeit
täuschend nachahmenden, Handlung auf
Handlung häufenden „dramatischen" Szenen
des Kinos weit stärker wirken muß, als die
von Theaterstücken möglicherweise ausgehenden
suggestiven Anreize. . ,,

Ebenso selbstverständlich aber sollte sein,
daß ein Unterschied gemacht werden müßte
zwischen Films, welche auch vor Kindern vor¬
geführt werden sollen und solchen, welche nur
Erwachsenen gezeigt werden sollen. In
Preußen, Schweden, Osterreich und, soweit
wir sehen, auch sonst überall, hat man diesen
handgreiflichen Unterschied auch berücksichtigt;
nur, Bayern stellt an die Zensur für Er¬
wachsene die gleichen Anforderungen wie um
die Kinderzensur. , ,

Überraschend mag es manchem auf den
ersten Blick erscheinen, daß unter Umständen
selbst zweifellos belehrende Films zu Ver¬
boten für Jugendliche oder gar für Er¬
wachsene Anlaß geben können. Und doch folgt
dies aus der Relativität des Begriffes
„Schundfilm", die wir soeben auseinander¬
gesetzt haben. Wir denken da z. B. an einen
Filu, welcher einen Kampf zwischen der Larve
eines Wasserkäfers und einer Kaulquappe
zeigte, der nicht nur auf Kinder, sondern
auch sogar auf Frauen abstoßend wirkte und

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der unseres Erachtens durchaus mit Recht
von dem Berliner Polizeipräsidium zur Vor¬
führung vor Kindern nicht freigegeben worden
ist. Ein anderes Beispiel bietet ein Filu,
der verschiedene an und für sich vielleicht
höchst lehrreiche Operationen des Pariser
Chirurgen Dr. Doyen zeigte. Vor einem
Forum von Ärzten mag der Filu zu Bean¬
standungen nicht den geringsten Anlaß
geben; wenn er aber, wie dies tatsächlich
vorgekommen ist, auf Jahrmärkten vorgeführt
wird, so muß er abstoßend, gesundheitsschäd¬
lich und verrohend wirken.

Hiermit hängt es auch zusammen, daß ein
Filu an einem bestimmten Ort oder zu dieser
bestimmten Zeit als ein Schundfilm bezeichnet
werden muß, zu anderer Zeit oder an anderem
Orte völlig harmlos sein kann. So, ist die
politische Empfindlichkeit beispielsweise in den
Polnischen Gebieten des Ostens, den dänischen
des Nordens und im Westen von Elsaß-
Lothringen natürlich stärker entwickelt als im
Herzen Deutschlands; religiös anstößig sein
wird ein Filu sicherlich weit eher in streng¬
gläubigen Gebieten auf dem Lande als in
den Großstädten. Und ein Filu, der beispiels¬
weise ein harmloses Motiv aus einem Streik
zum Gegenstand hat, vermag die öffentliche
Sicherheit, Ruhe und Ordnung außerordentlich
zu stören, wenn er in einer Stadt vorgeführt
wird, in welcher gerade ein Streik die Ge¬
müter hüben und drüben heftig erregt.
, Aus dieser Relativität des Begriffes
Schundfilm einerseits, aus der großenSuggestiv-
kraft der Schundsilms anderseits ergeben sich
von selbst die Forderungen, welche man an
eine zweckmäßig funktionierende Filmzensur
zu stellen hat. > ^

Ästhetische Interessen hat der Zensor nicht
zu berücksichtigen, die moralischen und gesund¬
heitlichen Gefahren der Schundfilms hat er
aber mit aller Energie, wenn auch tunlichst
unter Schonung der Interessen der Gewerbe¬
treibenden zu bekämpfen. Da die Relativität
der Schundfilms einen weiten Blick erforder¬
lich macht, um sich in einem gegebenen Fall
darüber schlüssig zu werden, ob ein bestimmter
Filu zu verbieten ist oder nicht, darf die
Zensur nur von gebildeten höheren Polizei¬
beamten ausgeübt werden, wie dies in Berlin
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[0154] Maßgebliches und Unmaßgebliches Aber auch vom ethischen Standpunkte aus ist die Entscheidung, ob ein bestimmter Filu zur Kategorie der Schundfilms zu rechnen ist, keineswegs immer einfach. Wie verschiedene Urteile der Berwaltungs- gerichte in Preußen, Sachsen und Baden ge¬ zeigt haben, kann man über ein und den¬ selben Filu sehr Wohl verschiedener Meinung sein. Gewiß wird man bei der Beurteilung, ob ein Filu als Schundfilm zu bezeichnen ist, in erster Linie auf das Publikum Rück¬ sicht nehmen müssen, welchem er vorgeführt werden soll. Da nun die Kinotheater er¬ fahrungsgemäß von den unteren Volks¬ schichten besucht zu werden Pflegen, welche im allgemeinen Suggestionen leichter zugänglich sind, ist es selbstverständlich, daß beider Filmzensur ein strengerer Maßstab anzulegen ist als bei der Theaterzensur. Dies muß auch deswegen geschehen, weil das oft aus¬ gleichende Wort bei dem „Kinodramn" fehlt und die Suggestion der die Wirklichkeit täuschend nachahmenden, Handlung auf Handlung häufenden „dramatischen" Szenen des Kinos weit stärker wirken muß, als die von Theaterstücken möglicherweise ausgehenden suggestiven Anreize. . ,, Ebenso selbstverständlich aber sollte sein, daß ein Unterschied gemacht werden müßte zwischen Films, welche auch vor Kindern vor¬ geführt werden sollen und solchen, welche nur Erwachsenen gezeigt werden sollen. In Preußen, Schweden, Osterreich und, soweit wir sehen, auch sonst überall, hat man diesen handgreiflichen Unterschied auch berücksichtigt; nur, Bayern stellt an die Zensur für Er¬ wachsene die gleichen Anforderungen wie um die Kinderzensur. , , Überraschend mag es manchem auf den ersten Blick erscheinen, daß unter Umständen selbst zweifellos belehrende Films zu Ver¬ boten für Jugendliche oder gar für Er¬ wachsene Anlaß geben können. Und doch folgt dies aus der Relativität des Begriffes „Schundfilm", die wir soeben auseinander¬ gesetzt haben. Wir denken da z. B. an einen Filu, welcher einen Kampf zwischen der Larve eines Wasserkäfers und einer Kaulquappe zeigte, der nicht nur auf Kinder, sondern auch sogar auf Frauen abstoßend wirkte und der unseres Erachtens durchaus mit Recht von dem Berliner Polizeipräsidium zur Vor¬ führung vor Kindern nicht freigegeben worden ist. Ein anderes Beispiel bietet ein Filu, der verschiedene an und für sich vielleicht höchst lehrreiche Operationen des Pariser Chirurgen Dr. Doyen zeigte. Vor einem Forum von Ärzten mag der Filu zu Bean¬ standungen nicht den geringsten Anlaß geben; wenn er aber, wie dies tatsächlich vorgekommen ist, auf Jahrmärkten vorgeführt wird, so muß er abstoßend, gesundheitsschäd¬ lich und verrohend wirken. Hiermit hängt es auch zusammen, daß ein Filu an einem bestimmten Ort oder zu dieser bestimmten Zeit als ein Schundfilm bezeichnet werden muß, zu anderer Zeit oder an anderem Orte völlig harmlos sein kann. So, ist die politische Empfindlichkeit beispielsweise in den Polnischen Gebieten des Ostens, den dänischen des Nordens und im Westen von Elsaß- Lothringen natürlich stärker entwickelt als im Herzen Deutschlands; religiös anstößig sein wird ein Filu sicherlich weit eher in streng¬ gläubigen Gebieten auf dem Lande als in den Großstädten. Und ein Filu, der beispiels¬ weise ein harmloses Motiv aus einem Streik zum Gegenstand hat, vermag die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung außerordentlich zu stören, wenn er in einer Stadt vorgeführt wird, in welcher gerade ein Streik die Ge¬ müter hüben und drüben heftig erregt. , Aus dieser Relativität des Begriffes Schundfilm einerseits, aus der großenSuggestiv- kraft der Schundsilms anderseits ergeben sich von selbst die Forderungen, welche man an eine zweckmäßig funktionierende Filmzensur zu stellen hat. > ^ Ästhetische Interessen hat der Zensor nicht zu berücksichtigen, die moralischen und gesund¬ heitlichen Gefahren der Schundfilms hat er aber mit aller Energie, wenn auch tunlichst unter Schonung der Interessen der Gewerbe¬ treibenden zu bekämpfen. Da die Relativität der Schundfilms einen weiten Blick erforder¬ lich macht, um sich in einem gegebenen Fall darüber schlüssig zu werden, ob ein bestimmter Filu zu verbieten ist oder nicht, darf die Zensur nur von gebildeten höheren Polizei¬ beamten ausgeübt werden, wie dies in Berlin geschieht, nicht dagegen, wie es in Sachsen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/154>, abgerufen am 27.07.2024.