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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Rirchspiolvogt Mohr

um so mehr, als die selbst von Mohr anerkannte Bescheidenheit des Schreibers
diesen, die Möglichkeit, seines Vorgesetzten Kleidung zu tragen, wohl als einen
Vorteil hat erscheinen lassen. Es fehlt Eulenberg in solchem Falle völlig an
geschichtlicher Perspektive. Die Beköstigung am Gesindetisch und das Zuzweit-
schlasen sind Anklagepunkte, die ernstlich nicht in Betracht gezogen werden dürfen.
Diese von Hebbel anfangs gewiß nicht als demütigend empfundene Behandlung
stimmt durchaus zum damals Üblichen. Ist es Mohr zu verargen, daß er
nicht schon ums Jahr 1834 in seinem Schreibgehilfen den künftigen "Schöpfer
der Rhodope" sah?

AIs Adolf Stern im Jahre 1877 Kuss Hebbelbiographie in der Augs¬
burger Allgemeinen Zeitung besprochen hatte, richtete Otto Mohr, der Sohn
des so hart Verdächtigten, damals Professor an der Technischen Hochschule zu
Dresden, in Sachen seines Vaters ein langes, vielfach Aufschlüsse bringendes
Schreiben an Stern und bat ihn, zu Ehren seines Vaters davon öffentlich
Gebrauch zu machen. Wie weit das geschehen ist, kann ich zurzeit nicht fest¬
stellen. Als Vermalter vou Sterns Uterarischem Nachlasse halte ich mich aber
für berechtigt, einige Mitteilungen des jüngeren Mohr, der jetzt als Geheimer
Rat im Ruhestande lebt, aus diesem Briefe zu verwenden. Unter anderen:
weist er darauf hin, daß die Bibliothek des Kirchspielvogts aus tausend bis
zwölfhundert Bänden bestand; "außer einer ziemlich reichhaltigen fachwissen¬
schaftlichen Blichersammlung und zahlreichen Werken allgemein bildenden Inhalts"
umfaßte sie "die sämtlichen deutschen Klassiker (Goethe seit dem Jahre 1834),
mehrere Übersetzungen von Werken aus der französischen und englischen Literatur
und fast alles, was über Geschichte und Landeskunde Schleswig-Holsteins er¬
schienen war". Das klingt doch anders "is "die paar Bücher", von denen
Hebbel spricht. Den Einfluß eines Konoersationslexikons in Mohrs Bücherei
(Briefe VII, 1ö") wird man mit R. M. Werner besonders hoch anschlagen
müssen. Da um Geh. Rat Mohr versichert, die Schreibarbeiten hätten sich
von einem geschickten und fleißigen Menschen in durchschnittlich höchstens zwei
Stunden täglich erledigen lassen, so begreift man, wieviel Zeit dem wissens¬
durstigen Jüngling übrigblieb, um seine Kenntnisse zu erweitern und zu ver¬
tiefen. Der Sohn des Kirchspielvogts erwähnt ferner, daß er selbst noch als
erwachsener Hausgenosse mit einem seiner Brüder hat in gemeinsamem Bette
schlafen müssen, und daß er wie seine Brüder die abgelegten Kleider des Vaters
zu tragen hatte. Mit Recht fragt er: "Was den erwachsenen Söhnen zugeniutet
werden durfte, durfte doch wohl auch dem Schreiber zugemutet werden?" Von
der schwersten Anklage gegen die Ehre des Vogts hat der Sohn im Jahre
1877 noch keine Kenntnis gehabt, sie darum auch nicht behandelt. Den anderen
bitteren Vorwurf kann er nicht zurückweisen: er sagt aber richtig: . . . "es würde
alles darauf ankommen, wie weit in jenen, Zeitpunkte die Genesung des Kutschers
vorgeschritten war. Jedenfalls geht aus dem Briefe hervor, daß der Zumutung,
als Hebbel sich weigerte, keine Folge gegeben wurde." Und da behauptet


Rirchspiolvogt Mohr

um so mehr, als die selbst von Mohr anerkannte Bescheidenheit des Schreibers
diesen, die Möglichkeit, seines Vorgesetzten Kleidung zu tragen, wohl als einen
Vorteil hat erscheinen lassen. Es fehlt Eulenberg in solchem Falle völlig an
geschichtlicher Perspektive. Die Beköstigung am Gesindetisch und das Zuzweit-
schlasen sind Anklagepunkte, die ernstlich nicht in Betracht gezogen werden dürfen.
Diese von Hebbel anfangs gewiß nicht als demütigend empfundene Behandlung
stimmt durchaus zum damals Üblichen. Ist es Mohr zu verargen, daß er
nicht schon ums Jahr 1834 in seinem Schreibgehilfen den künftigen „Schöpfer
der Rhodope" sah?

AIs Adolf Stern im Jahre 1877 Kuss Hebbelbiographie in der Augs¬
burger Allgemeinen Zeitung besprochen hatte, richtete Otto Mohr, der Sohn
des so hart Verdächtigten, damals Professor an der Technischen Hochschule zu
Dresden, in Sachen seines Vaters ein langes, vielfach Aufschlüsse bringendes
Schreiben an Stern und bat ihn, zu Ehren seines Vaters davon öffentlich
Gebrauch zu machen. Wie weit das geschehen ist, kann ich zurzeit nicht fest¬
stellen. Als Vermalter vou Sterns Uterarischem Nachlasse halte ich mich aber
für berechtigt, einige Mitteilungen des jüngeren Mohr, der jetzt als Geheimer
Rat im Ruhestande lebt, aus diesem Briefe zu verwenden. Unter anderen:
weist er darauf hin, daß die Bibliothek des Kirchspielvogts aus tausend bis
zwölfhundert Bänden bestand; „außer einer ziemlich reichhaltigen fachwissen¬
schaftlichen Blichersammlung und zahlreichen Werken allgemein bildenden Inhalts"
umfaßte sie „die sämtlichen deutschen Klassiker (Goethe seit dem Jahre 1834),
mehrere Übersetzungen von Werken aus der französischen und englischen Literatur
und fast alles, was über Geschichte und Landeskunde Schleswig-Holsteins er¬
schienen war". Das klingt doch anders «is „die paar Bücher", von denen
Hebbel spricht. Den Einfluß eines Konoersationslexikons in Mohrs Bücherei
(Briefe VII, 1ö«) wird man mit R. M. Werner besonders hoch anschlagen
müssen. Da um Geh. Rat Mohr versichert, die Schreibarbeiten hätten sich
von einem geschickten und fleißigen Menschen in durchschnittlich höchstens zwei
Stunden täglich erledigen lassen, so begreift man, wieviel Zeit dem wissens¬
durstigen Jüngling übrigblieb, um seine Kenntnisse zu erweitern und zu ver¬
tiefen. Der Sohn des Kirchspielvogts erwähnt ferner, daß er selbst noch als
erwachsener Hausgenosse mit einem seiner Brüder hat in gemeinsamem Bette
schlafen müssen, und daß er wie seine Brüder die abgelegten Kleider des Vaters
zu tragen hatte. Mit Recht fragt er: „Was den erwachsenen Söhnen zugeniutet
werden durfte, durfte doch wohl auch dem Schreiber zugemutet werden?" Von
der schwersten Anklage gegen die Ehre des Vogts hat der Sohn im Jahre
1877 noch keine Kenntnis gehabt, sie darum auch nicht behandelt. Den anderen
bitteren Vorwurf kann er nicht zurückweisen: er sagt aber richtig: . . . „es würde
alles darauf ankommen, wie weit in jenen, Zeitpunkte die Genesung des Kutschers
vorgeschritten war. Jedenfalls geht aus dem Briefe hervor, daß der Zumutung,
als Hebbel sich weigerte, keine Folge gegeben wurde." Und da behauptet


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[0119] Rirchspiolvogt Mohr um so mehr, als die selbst von Mohr anerkannte Bescheidenheit des Schreibers diesen, die Möglichkeit, seines Vorgesetzten Kleidung zu tragen, wohl als einen Vorteil hat erscheinen lassen. Es fehlt Eulenberg in solchem Falle völlig an geschichtlicher Perspektive. Die Beköstigung am Gesindetisch und das Zuzweit- schlasen sind Anklagepunkte, die ernstlich nicht in Betracht gezogen werden dürfen. Diese von Hebbel anfangs gewiß nicht als demütigend empfundene Behandlung stimmt durchaus zum damals Üblichen. Ist es Mohr zu verargen, daß er nicht schon ums Jahr 1834 in seinem Schreibgehilfen den künftigen „Schöpfer der Rhodope" sah? AIs Adolf Stern im Jahre 1877 Kuss Hebbelbiographie in der Augs¬ burger Allgemeinen Zeitung besprochen hatte, richtete Otto Mohr, der Sohn des so hart Verdächtigten, damals Professor an der Technischen Hochschule zu Dresden, in Sachen seines Vaters ein langes, vielfach Aufschlüsse bringendes Schreiben an Stern und bat ihn, zu Ehren seines Vaters davon öffentlich Gebrauch zu machen. Wie weit das geschehen ist, kann ich zurzeit nicht fest¬ stellen. Als Vermalter vou Sterns Uterarischem Nachlasse halte ich mich aber für berechtigt, einige Mitteilungen des jüngeren Mohr, der jetzt als Geheimer Rat im Ruhestande lebt, aus diesem Briefe zu verwenden. Unter anderen: weist er darauf hin, daß die Bibliothek des Kirchspielvogts aus tausend bis zwölfhundert Bänden bestand; „außer einer ziemlich reichhaltigen fachwissen¬ schaftlichen Blichersammlung und zahlreichen Werken allgemein bildenden Inhalts" umfaßte sie „die sämtlichen deutschen Klassiker (Goethe seit dem Jahre 1834), mehrere Übersetzungen von Werken aus der französischen und englischen Literatur und fast alles, was über Geschichte und Landeskunde Schleswig-Holsteins er¬ schienen war". Das klingt doch anders «is „die paar Bücher", von denen Hebbel spricht. Den Einfluß eines Konoersationslexikons in Mohrs Bücherei (Briefe VII, 1ö«) wird man mit R. M. Werner besonders hoch anschlagen müssen. Da um Geh. Rat Mohr versichert, die Schreibarbeiten hätten sich von einem geschickten und fleißigen Menschen in durchschnittlich höchstens zwei Stunden täglich erledigen lassen, so begreift man, wieviel Zeit dem wissens¬ durstigen Jüngling übrigblieb, um seine Kenntnisse zu erweitern und zu ver¬ tiefen. Der Sohn des Kirchspielvogts erwähnt ferner, daß er selbst noch als erwachsener Hausgenosse mit einem seiner Brüder hat in gemeinsamem Bette schlafen müssen, und daß er wie seine Brüder die abgelegten Kleider des Vaters zu tragen hatte. Mit Recht fragt er: „Was den erwachsenen Söhnen zugeniutet werden durfte, durfte doch wohl auch dem Schreiber zugemutet werden?" Von der schwersten Anklage gegen die Ehre des Vogts hat der Sohn im Jahre 1877 noch keine Kenntnis gehabt, sie darum auch nicht behandelt. Den anderen bitteren Vorwurf kann er nicht zurückweisen: er sagt aber richtig: . . . „es würde alles darauf ankommen, wie weit in jenen, Zeitpunkte die Genesung des Kutschers vorgeschritten war. Jedenfalls geht aus dem Briefe hervor, daß der Zumutung, als Hebbel sich weigerte, keine Folge gegeben wurde." Und da behauptet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/119>, abgerufen am 27.07.2024.