Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

ihm Neues und Bedeutsames für den Zu¬
sammenhang seiner wissenschaftlichen Erkennt¬
nis eröffnen wird, wenn er die Mühe nicht
scheut, bis ins Innere des Philosophischen
Wissens vorzudringen.

Professor Dr. Richard yerbertz i

Anmerkung der Schriftleitnng. Der Ver¬
fasser hat in einer kleinen Schrift, die "Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften" (Verlag von
A. Francke, Bern 1913. Preis 1 M.) betitelt
ist, den Gedanken, daß alle einzelwissenschaft¬
lichen Betrachtungen, wenn sie folgerichtig zu
Ende geführt werden, in die Philosophie
münden, weiter auseinandergesetzt und die
Sonderwege knapp skizziert. Wir möchten
nicht bersäumen, auf diese überaus klaren
Darlegungen empfehlend hinzuweisen, weil
sie sehr geeignet sind, die Stellung der
Philosophie in der Gesamtheit der Wissen¬
schaften und den llmfang ihrer Aufgaben zu
beleuchten.

In deur Streite, ob die Psychologie aus
dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung
von der Mutterwissenschaft der Philosophie
loszulösen und wie andere Wissensgebiete als
selbständige Einzelwissenschaft neben sie zu
stellen sei, hat der Altmeister Wilhelm Wundt
nunmehr das Wort ergriffen. Daß der Gegen¬
stand Beachtung verdient, geht aus dem Titel
hervor, den Wundt seiner kleinen Schrift auf
den Weg gegeben hat: "Die Psychologie im
Kampf ums Dasein" (Alfred Kröner Verlag
in Leipzig, 1913). Eine Friedensschrift nennt
er sie, weil sie auf die Schäden hinweist, die
beiden Teilen aus der Trennung erwachsen
würden und daher die Anträge auf Scheidung
verwirft.

Die Forderung einer Trennung ist sowohl
von "reinen Philosophen" als auch von Psy¬
chologen erhoben worden. Erstere haben in
einer Erklärung, die sie nicht nur an die
deutschen Regierungen zu versenden gedenken,
sondern auch dem großen Publikum durch die
Presse bekannt geben wollen, von einem Not¬
stand des Philosophischen Unterrichts und der
philosophischen Forschung gesprochen, der da¬
durch bedingt sei, daß unter Umständen Phi¬
losophische Lehrstühle durch Psychologen besetzt
werden. Das wachsende Interesse für Phi¬
losophische Fragen fordert aber im Gegenteil

[Spaltenumbruch]

eine Vermehrung der Philosophischen Pro¬
fessuren, namentlich auch rücksichtlich der ver¬
schiedenen Gebiete der Philosophie. Wenn
also die "reinen Philosophen" eine Trennung
der Philosophie von der Psychologie befür¬
worten, so geschieht es weniger aus Liebe zur
Psychologie als aus Sorge um die Philo¬
sophie. Beachtenswert ist, daß die Erklärung
ausschließlich die Beseitigung der experimen-
tellen Psychologie aus deve Philosophischen
Lehrplan fordert. ^ . , ,

Wenn nun ein Teil der experimentellen
Psychologen selbst die Abtrennung der Psy¬
chologie von der Philosophie wünschen, so
geschieht es natürlich aus wesentlich anderen
Gründen. Sie machen geltend, daß nach dem
gegenwärtigen Stand der Psychologie An¬
gehörige anderer Fakultöien, vor allen die
Mediziner, einer gründlichen Schulung in
dieser Wissenschaft bedürfen und fordern den
Nachweis einer eingehenden Beschäftigung mit
ihr in einem Examen, das natürlich unab¬
hängig von der Philosophie abzulegen wäre.
In erster Linie ist es aber die Werbürduug
der Dozenten, auf die hingewiesen wird! die
Psychologen seien den steigenden Ansprüchen,
die Forschung und Unterricht an sie stellen,
nicht mehr gewachsen, wenn sie gleichzeitig
die Philosophie vertreten sollen. Wundt hält
nun die Einführung eines Examens in der
Psychologie für Mediziner für ganz unzweck¬
mäßig, da eine Überlastung der Kandidaten
nur der Oberflächlichkeit Vorschub leisten
würde; wenn aber die Dozenten sich durch
die Philosophie überlastet fühlen und deshalb
auf Trennung dringen, so glaubt Wundt
darin eine Überschätzung der Bedeutung der
Philosophie für die Psychologie zu erkennen.'
Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Pro¬
blemen, die sowohl der Psychologie als der
Philosophie angehören und überall, wo sich
der Psychologe in die Probleme seiner Wissen¬
schaft vertiefen will" bedarf er der Mithilfe
Philosophischer Betrachtung, die er, Wenn sie
von Wert sein soll, aus eigener selbständiger
Arbeit gewinnen muß. Erkenntnistheoretische
und metaphysische Erwägungen sind nicht aus
der Psychologie zu bannen, deshalb gehört
sie zu den philosophischen Disziplinen. Wenn
aber die aus der Philosophie ausgeschiedenen
Vertreter der Psychologie nicht mehr über.

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

ihm Neues und Bedeutsames für den Zu¬
sammenhang seiner wissenschaftlichen Erkennt¬
nis eröffnen wird, wenn er die Mühe nicht
scheut, bis ins Innere des Philosophischen
Wissens vorzudringen.

Professor Dr. Richard yerbertz i

Anmerkung der Schriftleitnng. Der Ver¬
fasser hat in einer kleinen Schrift, die „Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften" (Verlag von
A. Francke, Bern 1913. Preis 1 M.) betitelt
ist, den Gedanken, daß alle einzelwissenschaft¬
lichen Betrachtungen, wenn sie folgerichtig zu
Ende geführt werden, in die Philosophie
münden, weiter auseinandergesetzt und die
Sonderwege knapp skizziert. Wir möchten
nicht bersäumen, auf diese überaus klaren
Darlegungen empfehlend hinzuweisen, weil
sie sehr geeignet sind, die Stellung der
Philosophie in der Gesamtheit der Wissen¬
schaften und den llmfang ihrer Aufgaben zu
beleuchten.

In deur Streite, ob die Psychologie aus
dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung
von der Mutterwissenschaft der Philosophie
loszulösen und wie andere Wissensgebiete als
selbständige Einzelwissenschaft neben sie zu
stellen sei, hat der Altmeister Wilhelm Wundt
nunmehr das Wort ergriffen. Daß der Gegen¬
stand Beachtung verdient, geht aus dem Titel
hervor, den Wundt seiner kleinen Schrift auf
den Weg gegeben hat: „Die Psychologie im
Kampf ums Dasein" (Alfred Kröner Verlag
in Leipzig, 1913). Eine Friedensschrift nennt
er sie, weil sie auf die Schäden hinweist, die
beiden Teilen aus der Trennung erwachsen
würden und daher die Anträge auf Scheidung
verwirft.

Die Forderung einer Trennung ist sowohl
von „reinen Philosophen" als auch von Psy¬
chologen erhoben worden. Erstere haben in
einer Erklärung, die sie nicht nur an die
deutschen Regierungen zu versenden gedenken,
sondern auch dem großen Publikum durch die
Presse bekannt geben wollen, von einem Not¬
stand des Philosophischen Unterrichts und der
philosophischen Forschung gesprochen, der da¬
durch bedingt sei, daß unter Umständen Phi¬
losophische Lehrstühle durch Psychologen besetzt
werden. Das wachsende Interesse für Phi¬
losophische Fragen fordert aber im Gegenteil

[Spaltenumbruch]

eine Vermehrung der Philosophischen Pro¬
fessuren, namentlich auch rücksichtlich der ver¬
schiedenen Gebiete der Philosophie. Wenn
also die „reinen Philosophen" eine Trennung
der Philosophie von der Psychologie befür¬
worten, so geschieht es weniger aus Liebe zur
Psychologie als aus Sorge um die Philo¬
sophie. Beachtenswert ist, daß die Erklärung
ausschließlich die Beseitigung der experimen-
tellen Psychologie aus deve Philosophischen
Lehrplan fordert. ^ . , ,

Wenn nun ein Teil der experimentellen
Psychologen selbst die Abtrennung der Psy¬
chologie von der Philosophie wünschen, so
geschieht es natürlich aus wesentlich anderen
Gründen. Sie machen geltend, daß nach dem
gegenwärtigen Stand der Psychologie An¬
gehörige anderer Fakultöien, vor allen die
Mediziner, einer gründlichen Schulung in
dieser Wissenschaft bedürfen und fordern den
Nachweis einer eingehenden Beschäftigung mit
ihr in einem Examen, das natürlich unab¬
hängig von der Philosophie abzulegen wäre.
In erster Linie ist es aber die Werbürduug
der Dozenten, auf die hingewiesen wird! die
Psychologen seien den steigenden Ansprüchen,
die Forschung und Unterricht an sie stellen,
nicht mehr gewachsen, wenn sie gleichzeitig
die Philosophie vertreten sollen. Wundt hält
nun die Einführung eines Examens in der
Psychologie für Mediziner für ganz unzweck¬
mäßig, da eine Überlastung der Kandidaten
nur der Oberflächlichkeit Vorschub leisten
würde; wenn aber die Dozenten sich durch
die Philosophie überlastet fühlen und deshalb
auf Trennung dringen, so glaubt Wundt
darin eine Überschätzung der Bedeutung der
Philosophie für die Psychologie zu erkennen.'
Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Pro¬
blemen, die sowohl der Psychologie als der
Philosophie angehören und überall, wo sich
der Psychologe in die Probleme seiner Wissen¬
schaft vertiefen will» bedarf er der Mithilfe
Philosophischer Betrachtung, die er, Wenn sie
von Wert sein soll, aus eigener selbständiger
Arbeit gewinnen muß. Erkenntnistheoretische
und metaphysische Erwägungen sind nicht aus
der Psychologie zu bannen, deshalb gehört
sie zu den philosophischen Disziplinen. Wenn
aber die aus der Philosophie ausgeschiedenen
Vertreter der Psychologie nicht mehr über.

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325625"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_444"> ihm Neues und Bedeutsames für den Zu¬<lb/>
sammenhang seiner wissenschaftlichen Erkennt¬<lb/>
nis eröffnen wird, wenn er die Mühe nicht<lb/>
scheut, bis ins Innere des Philosophischen<lb/>
Wissens vorzudringen.</p>
            <note type="byline"> Professor Dr. Richard yerbertz i</note><lb/>
            <p xml:id="ID_445"> Anmerkung der Schriftleitnng. Der Ver¬<lb/>
fasser hat in einer kleinen Schrift, die &#x201E;Philo¬<lb/>
sophie und Einzelwissenschaften" (Verlag von<lb/>
A. Francke, Bern 1913. Preis 1 M.) betitelt<lb/>
ist, den Gedanken, daß alle einzelwissenschaft¬<lb/>
lichen Betrachtungen, wenn sie folgerichtig zu<lb/>
Ende geführt werden, in die Philosophie<lb/>
münden, weiter auseinandergesetzt und die<lb/>
Sonderwege knapp skizziert. Wir möchten<lb/>
nicht bersäumen, auf diese überaus klaren<lb/>
Darlegungen empfehlend hinzuweisen, weil<lb/>
sie sehr geeignet sind, die Stellung der<lb/>
Philosophie in der Gesamtheit der Wissen¬<lb/>
schaften und den llmfang ihrer Aufgaben zu<lb/>
beleuchten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_446"> In deur Streite, ob die Psychologie aus<lb/>
dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung<lb/>
von der Mutterwissenschaft der Philosophie<lb/>
loszulösen und wie andere Wissensgebiete als<lb/>
selbständige Einzelwissenschaft neben sie zu<lb/>
stellen sei, hat der Altmeister Wilhelm Wundt<lb/>
nunmehr das Wort ergriffen. Daß der Gegen¬<lb/>
stand Beachtung verdient, geht aus dem Titel<lb/>
hervor, den Wundt seiner kleinen Schrift auf<lb/>
den Weg gegeben hat: &#x201E;Die Psychologie im<lb/>
Kampf ums Dasein" (Alfred Kröner Verlag<lb/>
in Leipzig, 1913). Eine Friedensschrift nennt<lb/>
er sie, weil sie auf die Schäden hinweist, die<lb/>
beiden Teilen aus der Trennung erwachsen<lb/>
würden und daher die Anträge auf Scheidung<lb/>
verwirft.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_447" next="#ID_448"> Die Forderung einer Trennung ist sowohl<lb/>
von &#x201E;reinen Philosophen" als auch von Psy¬<lb/>
chologen erhoben worden. Erstere haben in<lb/>
einer Erklärung, die sie nicht nur an die<lb/>
deutschen Regierungen zu versenden gedenken,<lb/>
sondern auch dem großen Publikum durch die<lb/>
Presse bekannt geben wollen, von einem Not¬<lb/>
stand des Philosophischen Unterrichts und der<lb/>
philosophischen Forschung gesprochen, der da¬<lb/>
durch bedingt sei, daß unter Umständen Phi¬<lb/>
losophische Lehrstühle durch Psychologen besetzt<lb/>
werden. Das wachsende Interesse für Phi¬<lb/>
losophische Fragen fordert aber im Gegenteil</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_448" prev="#ID_447"> eine Vermehrung der Philosophischen Pro¬<lb/>
fessuren, namentlich auch rücksichtlich der ver¬<lb/>
schiedenen Gebiete der Philosophie. Wenn<lb/>
also die &#x201E;reinen Philosophen" eine Trennung<lb/>
der Philosophie von der Psychologie befür¬<lb/>
worten, so geschieht es weniger aus Liebe zur<lb/>
Psychologie als aus Sorge um die Philo¬<lb/>
sophie. Beachtenswert ist, daß die Erklärung<lb/>
ausschließlich die Beseitigung der experimen-<lb/>
tellen Psychologie aus deve Philosophischen<lb/>
Lehrplan fordert.    ^ .   , ,</p>
            <p xml:id="ID_449" next="#ID_450"> Wenn nun ein Teil der experimentellen<lb/>
Psychologen selbst die Abtrennung der Psy¬<lb/>
chologie von der Philosophie wünschen, so<lb/>
geschieht es natürlich aus wesentlich anderen<lb/>
Gründen. Sie machen geltend, daß nach dem<lb/>
gegenwärtigen Stand der Psychologie An¬<lb/>
gehörige anderer Fakultöien, vor allen die<lb/>
Mediziner, einer gründlichen Schulung in<lb/>
dieser Wissenschaft bedürfen und fordern den<lb/>
Nachweis einer eingehenden Beschäftigung mit<lb/>
ihr in einem Examen, das natürlich unab¬<lb/>
hängig von der Philosophie abzulegen wäre.<lb/>
In erster Linie ist es aber die Werbürduug<lb/>
der Dozenten, auf die hingewiesen wird! die<lb/>
Psychologen seien den steigenden Ansprüchen,<lb/>
die Forschung und Unterricht an sie stellen,<lb/>
nicht mehr gewachsen, wenn sie gleichzeitig<lb/>
die Philosophie vertreten sollen.  Wundt hält<lb/>
nun die Einführung eines Examens in der<lb/>
Psychologie für Mediziner für ganz unzweck¬<lb/>
mäßig, da eine Überlastung der Kandidaten<lb/>
nur der Oberflächlichkeit Vorschub leisten<lb/>
würde; wenn aber die Dozenten sich durch<lb/>
die Philosophie überlastet fühlen und deshalb<lb/>
auf Trennung dringen, so glaubt Wundt<lb/>
darin eine Überschätzung der Bedeutung der<lb/>
Philosophie für die Psychologie zu erkennen.'<lb/>
Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Pro¬<lb/>
blemen, die sowohl der Psychologie als der<lb/>
Philosophie angehören und überall, wo sich<lb/>
der Psychologe in die Probleme seiner Wissen¬<lb/>
schaft vertiefen will» bedarf er der Mithilfe<lb/>
Philosophischer Betrachtung, die er, Wenn sie<lb/>
von Wert sein soll, aus eigener selbständiger<lb/>
Arbeit gewinnen muß. Erkenntnistheoretische<lb/>
und metaphysische Erwägungen sind nicht aus<lb/>
der Psychologie zu bannen, deshalb gehört<lb/>
sie zu den philosophischen Disziplinen. Wenn<lb/>
aber die aus der Philosophie ausgeschiedenen<lb/>
Vertreter der Psychologie nicht mehr über.</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0105] Maßgebliches und Unmaßgebliches ihm Neues und Bedeutsames für den Zu¬ sammenhang seiner wissenschaftlichen Erkennt¬ nis eröffnen wird, wenn er die Mühe nicht scheut, bis ins Innere des Philosophischen Wissens vorzudringen. Professor Dr. Richard yerbertz i Anmerkung der Schriftleitnng. Der Ver¬ fasser hat in einer kleinen Schrift, die „Philo¬ sophie und Einzelwissenschaften" (Verlag von A. Francke, Bern 1913. Preis 1 M.) betitelt ist, den Gedanken, daß alle einzelwissenschaft¬ lichen Betrachtungen, wenn sie folgerichtig zu Ende geführt werden, in die Philosophie münden, weiter auseinandergesetzt und die Sonderwege knapp skizziert. Wir möchten nicht bersäumen, auf diese überaus klaren Darlegungen empfehlend hinzuweisen, weil sie sehr geeignet sind, die Stellung der Philosophie in der Gesamtheit der Wissen¬ schaften und den llmfang ihrer Aufgaben zu beleuchten. In deur Streite, ob die Psychologie aus dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung von der Mutterwissenschaft der Philosophie loszulösen und wie andere Wissensgebiete als selbständige Einzelwissenschaft neben sie zu stellen sei, hat der Altmeister Wilhelm Wundt nunmehr das Wort ergriffen. Daß der Gegen¬ stand Beachtung verdient, geht aus dem Titel hervor, den Wundt seiner kleinen Schrift auf den Weg gegeben hat: „Die Psychologie im Kampf ums Dasein" (Alfred Kröner Verlag in Leipzig, 1913). Eine Friedensschrift nennt er sie, weil sie auf die Schäden hinweist, die beiden Teilen aus der Trennung erwachsen würden und daher die Anträge auf Scheidung verwirft. Die Forderung einer Trennung ist sowohl von „reinen Philosophen" als auch von Psy¬ chologen erhoben worden. Erstere haben in einer Erklärung, die sie nicht nur an die deutschen Regierungen zu versenden gedenken, sondern auch dem großen Publikum durch die Presse bekannt geben wollen, von einem Not¬ stand des Philosophischen Unterrichts und der philosophischen Forschung gesprochen, der da¬ durch bedingt sei, daß unter Umständen Phi¬ losophische Lehrstühle durch Psychologen besetzt werden. Das wachsende Interesse für Phi¬ losophische Fragen fordert aber im Gegenteil eine Vermehrung der Philosophischen Pro¬ fessuren, namentlich auch rücksichtlich der ver¬ schiedenen Gebiete der Philosophie. Wenn also die „reinen Philosophen" eine Trennung der Philosophie von der Psychologie befür¬ worten, so geschieht es weniger aus Liebe zur Psychologie als aus Sorge um die Philo¬ sophie. Beachtenswert ist, daß die Erklärung ausschließlich die Beseitigung der experimen- tellen Psychologie aus deve Philosophischen Lehrplan fordert. ^ . , , Wenn nun ein Teil der experimentellen Psychologen selbst die Abtrennung der Psy¬ chologie von der Philosophie wünschen, so geschieht es natürlich aus wesentlich anderen Gründen. Sie machen geltend, daß nach dem gegenwärtigen Stand der Psychologie An¬ gehörige anderer Fakultöien, vor allen die Mediziner, einer gründlichen Schulung in dieser Wissenschaft bedürfen und fordern den Nachweis einer eingehenden Beschäftigung mit ihr in einem Examen, das natürlich unab¬ hängig von der Philosophie abzulegen wäre. In erster Linie ist es aber die Werbürduug der Dozenten, auf die hingewiesen wird! die Psychologen seien den steigenden Ansprüchen, die Forschung und Unterricht an sie stellen, nicht mehr gewachsen, wenn sie gleichzeitig die Philosophie vertreten sollen. Wundt hält nun die Einführung eines Examens in der Psychologie für Mediziner für ganz unzweck¬ mäßig, da eine Überlastung der Kandidaten nur der Oberflächlichkeit Vorschub leisten würde; wenn aber die Dozenten sich durch die Philosophie überlastet fühlen und deshalb auf Trennung dringen, so glaubt Wundt darin eine Überschätzung der Bedeutung der Philosophie für die Psychologie zu erkennen.' Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Pro¬ blemen, die sowohl der Psychologie als der Philosophie angehören und überall, wo sich der Psychologe in die Probleme seiner Wissen¬ schaft vertiefen will» bedarf er der Mithilfe Philosophischer Betrachtung, die er, Wenn sie von Wert sein soll, aus eigener selbständiger Arbeit gewinnen muß. Erkenntnistheoretische und metaphysische Erwägungen sind nicht aus der Psychologie zu bannen, deshalb gehört sie zu den philosophischen Disziplinen. Wenn aber die aus der Philosophie ausgeschiedenen Vertreter der Psychologie nicht mehr über.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/105
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/105>, abgerufen am 22.12.2024.