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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

gebirge. Man nannte das damals Indien seine "wissenschaftlichen Grenzen"
geben, wie denn England überhaupt nie um einen schönklingenden Namen für
seine politischen Gewaltstreiche verlegen gewesen ist. Seitdem hat man diese wissen¬
schaftlichen Grenzen längst überschritten und ist weiter und weiter in das dahinter
liegende Land vorgedrungen. Nachdem einmal der erste Schritt getan war, ist
eben die Macht der Tatsachen stärker gewesen, wie alle Prinzipien. So sind
auch noch heute die Grenzen des englisch-indischen Reiches an vielen Punkten
so wenig dauerhaft, daß man täglich auf neue Veränderungen gefaßt sein kann;
und darum werden auch heute noch die Engländer unwillkürlich in jede Frage,
die auf dem asiatischen Kontinent auftaucht, in jeden Streit, der sich dort erhebt,
hineingezogen. Darum sind sie gezwungen immer von neuem mit diplomatischen
Interventionen, kriegerischen Expeditionen und anderen Mitteln einzugreifen, so
daß sie -- selbst gegen ihren Willen -- immer weiter in das Innere des
gewaltigen Kontinents hineingetrieben werden.

Viele Engländer neigen nun dazu, in diesen Eroberungen eine ununter¬
brochene Kette von ruhmvollen und gerechten Taten zu sehen. Sogar Macaulay
schreibt, nachdem er die allzu offenkundiger Intrigen Clives bei der Eroberung
Bengalens verurteilt hat: Die gesamte Geschichte Britisch-Jndiens ist eine Be¬
stätigung der großen Wahrheit, daß es nicht weise ist, Treulosigkeit mit Treu¬
losigkeit zu vergelten und daß die beste Waffe gegen die Lüge die Wahrheit
ist. (Naeaula^. critical ana KistvriLaI S88ay8 Bö. 4 S. 309.)

Es ist verständlich, daß ein Engländer, der sein Vaterland lieb hat, die
Geschichte seines Volkes gern in diesem Lichte sieht; aber mit der Wahrheit
stimmt solche Auffassung nicht überein. Wenn man in neuerer Zeit nur selten
zu den krummen Wegen Clives seine Zuflucht nahm, so lag das einfach daran,
daß durch den Sieg bei Plassey England die stärkste Militärmacht in Indien
geworden war. Meist genügte daher der gerade Weg, -- eine bloße Drohung
oder die Anwendung von Gewalt, um den gewünschten Zweck zu erreichen.
Waren aber einmal die englischen Machtmittel den gegnerischen Kräften unter¬
legen, so hat die Regierung der Kolonie nie Bedenken getragen, ihre Zuflucht
zu Bestechungen und Intrigen aller Art zu nehmen. Nur ein Beispiel: Während
des ersten Sikhkrieges in der Schlacht bei Firozschah (21. und 22. Dezember
1844) wurde der Sturm der Engländer auf das befestigte feindliche Lager
unter schweren Verlusten für den Angreifer abgeschlagen. Das englische Heer
wäre damals vernichtet worden, wenn nicht ein General der Sikhs, namens
Gulab singt), aus heute noch nicht aufgeklärten Gründen mit den ihm unter¬
stellten Truppen völlig untätig geblieben wäre. Als am nächsten Tage die
Schlacht erneuert wurde, ließ Gulab Singh sogar die Brücke über den Sadletsch
im Rücken seiner eigenen Armee abbrechen und führte so direkt die Niederlage
seines Volkes herbei. Der glückliche Sieger verstand es damals, fürstlich zu
belohnen. Im Vertrag von Lahors (1846) erhielt Gulab Singh das ganze
Fürstentum Kaschmir. Dort sitzen seine Nachkommen noch heute als -- Per-


Die Engländer in Indien

gebirge. Man nannte das damals Indien seine „wissenschaftlichen Grenzen"
geben, wie denn England überhaupt nie um einen schönklingenden Namen für
seine politischen Gewaltstreiche verlegen gewesen ist. Seitdem hat man diese wissen¬
schaftlichen Grenzen längst überschritten und ist weiter und weiter in das dahinter
liegende Land vorgedrungen. Nachdem einmal der erste Schritt getan war, ist
eben die Macht der Tatsachen stärker gewesen, wie alle Prinzipien. So sind
auch noch heute die Grenzen des englisch-indischen Reiches an vielen Punkten
so wenig dauerhaft, daß man täglich auf neue Veränderungen gefaßt sein kann;
und darum werden auch heute noch die Engländer unwillkürlich in jede Frage,
die auf dem asiatischen Kontinent auftaucht, in jeden Streit, der sich dort erhebt,
hineingezogen. Darum sind sie gezwungen immer von neuem mit diplomatischen
Interventionen, kriegerischen Expeditionen und anderen Mitteln einzugreifen, so
daß sie — selbst gegen ihren Willen — immer weiter in das Innere des
gewaltigen Kontinents hineingetrieben werden.

Viele Engländer neigen nun dazu, in diesen Eroberungen eine ununter¬
brochene Kette von ruhmvollen und gerechten Taten zu sehen. Sogar Macaulay
schreibt, nachdem er die allzu offenkundiger Intrigen Clives bei der Eroberung
Bengalens verurteilt hat: Die gesamte Geschichte Britisch-Jndiens ist eine Be¬
stätigung der großen Wahrheit, daß es nicht weise ist, Treulosigkeit mit Treu¬
losigkeit zu vergelten und daß die beste Waffe gegen die Lüge die Wahrheit
ist. (Naeaula^. critical ana KistvriLaI S88ay8 Bö. 4 S. 309.)

Es ist verständlich, daß ein Engländer, der sein Vaterland lieb hat, die
Geschichte seines Volkes gern in diesem Lichte sieht; aber mit der Wahrheit
stimmt solche Auffassung nicht überein. Wenn man in neuerer Zeit nur selten
zu den krummen Wegen Clives seine Zuflucht nahm, so lag das einfach daran,
daß durch den Sieg bei Plassey England die stärkste Militärmacht in Indien
geworden war. Meist genügte daher der gerade Weg, — eine bloße Drohung
oder die Anwendung von Gewalt, um den gewünschten Zweck zu erreichen.
Waren aber einmal die englischen Machtmittel den gegnerischen Kräften unter¬
legen, so hat die Regierung der Kolonie nie Bedenken getragen, ihre Zuflucht
zu Bestechungen und Intrigen aller Art zu nehmen. Nur ein Beispiel: Während
des ersten Sikhkrieges in der Schlacht bei Firozschah (21. und 22. Dezember
1844) wurde der Sturm der Engländer auf das befestigte feindliche Lager
unter schweren Verlusten für den Angreifer abgeschlagen. Das englische Heer
wäre damals vernichtet worden, wenn nicht ein General der Sikhs, namens
Gulab singt), aus heute noch nicht aufgeklärten Gründen mit den ihm unter¬
stellten Truppen völlig untätig geblieben wäre. Als am nächsten Tage die
Schlacht erneuert wurde, ließ Gulab Singh sogar die Brücke über den Sadletsch
im Rücken seiner eigenen Armee abbrechen und führte so direkt die Niederlage
seines Volkes herbei. Der glückliche Sieger verstand es damals, fürstlich zu
belohnen. Im Vertrag von Lahors (1846) erhielt Gulab Singh das ganze
Fürstentum Kaschmir. Dort sitzen seine Nachkommen noch heute als — Per-


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[0094] Die Engländer in Indien gebirge. Man nannte das damals Indien seine „wissenschaftlichen Grenzen" geben, wie denn England überhaupt nie um einen schönklingenden Namen für seine politischen Gewaltstreiche verlegen gewesen ist. Seitdem hat man diese wissen¬ schaftlichen Grenzen längst überschritten und ist weiter und weiter in das dahinter liegende Land vorgedrungen. Nachdem einmal der erste Schritt getan war, ist eben die Macht der Tatsachen stärker gewesen, wie alle Prinzipien. So sind auch noch heute die Grenzen des englisch-indischen Reiches an vielen Punkten so wenig dauerhaft, daß man täglich auf neue Veränderungen gefaßt sein kann; und darum werden auch heute noch die Engländer unwillkürlich in jede Frage, die auf dem asiatischen Kontinent auftaucht, in jeden Streit, der sich dort erhebt, hineingezogen. Darum sind sie gezwungen immer von neuem mit diplomatischen Interventionen, kriegerischen Expeditionen und anderen Mitteln einzugreifen, so daß sie — selbst gegen ihren Willen — immer weiter in das Innere des gewaltigen Kontinents hineingetrieben werden. Viele Engländer neigen nun dazu, in diesen Eroberungen eine ununter¬ brochene Kette von ruhmvollen und gerechten Taten zu sehen. Sogar Macaulay schreibt, nachdem er die allzu offenkundiger Intrigen Clives bei der Eroberung Bengalens verurteilt hat: Die gesamte Geschichte Britisch-Jndiens ist eine Be¬ stätigung der großen Wahrheit, daß es nicht weise ist, Treulosigkeit mit Treu¬ losigkeit zu vergelten und daß die beste Waffe gegen die Lüge die Wahrheit ist. (Naeaula^. critical ana KistvriLaI S88ay8 Bö. 4 S. 309.) Es ist verständlich, daß ein Engländer, der sein Vaterland lieb hat, die Geschichte seines Volkes gern in diesem Lichte sieht; aber mit der Wahrheit stimmt solche Auffassung nicht überein. Wenn man in neuerer Zeit nur selten zu den krummen Wegen Clives seine Zuflucht nahm, so lag das einfach daran, daß durch den Sieg bei Plassey England die stärkste Militärmacht in Indien geworden war. Meist genügte daher der gerade Weg, — eine bloße Drohung oder die Anwendung von Gewalt, um den gewünschten Zweck zu erreichen. Waren aber einmal die englischen Machtmittel den gegnerischen Kräften unter¬ legen, so hat die Regierung der Kolonie nie Bedenken getragen, ihre Zuflucht zu Bestechungen und Intrigen aller Art zu nehmen. Nur ein Beispiel: Während des ersten Sikhkrieges in der Schlacht bei Firozschah (21. und 22. Dezember 1844) wurde der Sturm der Engländer auf das befestigte feindliche Lager unter schweren Verlusten für den Angreifer abgeschlagen. Das englische Heer wäre damals vernichtet worden, wenn nicht ein General der Sikhs, namens Gulab singt), aus heute noch nicht aufgeklärten Gründen mit den ihm unter¬ stellten Truppen völlig untätig geblieben wäre. Als am nächsten Tage die Schlacht erneuert wurde, ließ Gulab Singh sogar die Brücke über den Sadletsch im Rücken seiner eigenen Armee abbrechen und führte so direkt die Niederlage seines Volkes herbei. Der glückliche Sieger verstand es damals, fürstlich zu belohnen. Im Vertrag von Lahors (1846) erhielt Gulab Singh das ganze Fürstentum Kaschmir. Dort sitzen seine Nachkommen noch heute als — Per-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/94>, abgerufen am 22.12.2024.