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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

verleugneten sie ihr Volkstum und suchten das ihnen Fehlende durch erborgten
Flitter zu ersetzen. Nach rein äußerlicher Annahme der fremden Kultur dünkten
sie sich den Europäern gleich und trügen sich nur mit einem Gedanken: sich
ihrer unbequemen Lehrmeister so schnell wie möglich zu entledigen. Nach allem,
was man hört, scheint diese Kritik für tonkinesische Verhältnisse nicht ganz
unberechtigt zu sein. In Indien liegt das Problem aber doch wesentlich anders.

Ein ausgezeichneter Beobachter der englischen Verwaltung in Indien, der
Baron Barchou de Penhoen, schreibt im Jahre 1844: Hätte man den ge¬
schicktesten Schriftstellern und Staatsmännern des achtzehnten Jahrhunderts die
Preisaufgabe gestellt: "Wie läßt sich in Indien eine europäische Verwaltung
einrichten?" so hätte doch keiner von ihnen die Lösung voraus geahnt, welche
wir heute als fertige Tatsache vor uns sehen. (Bd. 1 S. 299.)

Man muß zugeben, daß es in der ganzen Weltgeschichte noch nie etwas
gegeben hat, was sich mit der Aufrichtung der englischen Herrschaft über Indien
vergleichen ließe: ein ungeheures Land, das sich von den tropischen Meeren bis
in das Herz Asiens erstreckt, bevölkert von Hunderten von Millionen, eine
Stätte uralter hoher Kultur und fabelhafter Reichtümer, wird erobert und unter¬
worfen von einem "Barbarenvolke", das einige kleine Inseln in der fernen
Nordsee bewohnt. Und das alles ist nicht etwa das Ergebnis eines wohlüber¬
legten Planes, der vereinigten Anstrengungen eines ganzen Volkes, sondern
das unbeabsichtigte Werk einer Handvoll Kaufleute und Abenteurer,
die selbst erstaunt sind über die unerwartete Tragweite ihrer Handlungen.

In seinem Werke "L88al sur I'inöZalitö as8 I-Ä88S8 Kumaines" gibt
Graf Gobineau eine gute psychologische Erklärung für diese koloniale Expansion.
Er nennt die Engländer ein Volk voll demokratischer Ideen, das aber trotzdem
allen natürlichen Tendenzen anderer Demokratien abhold ist, und fährt dann fort:
Sie sind ein Generalstab ohne Truppen, Leute die zum Herrschen geboren sind,
die aber unter ihresgleichen von dieser ihrer Eigenschaft keinen Gebrauch machen
können und daher nach einer Gelegenheit suchen, sie Fremden gegenüber an¬
zuwenden. ... Sie sind, um es kurz zu sagen, ein Volk von Thronanwärtern,
ausgestattet mit dem erforderlichen Scharfsinn, um ihre Ansprüche vor der Welt
zu rechtfertigen.

Leute, die zum Herrschen geboren sind, die zu Hause keine Untertanen finden,
daher erobernd in die Welt hinaus gehen und genügend Scharfsinn besitzen,
um ihre Taten vor der Welt zu rechtfertigen: damit hat man in der Tat alle
Hauptzüge beieinander, welche diese typische Klasse von Menschen, den englischen
"empii-öbuiläer", auszeichnen. Im Besitz eines solchen Materials war England
die koloniale Expansion geradezu vorgeschrieben, wenn äußere Umstände
eintraten, die einer solchen Entwicklung günstig waren. Eine derartige
Konstellation trat aber tatsächlich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
ein. Ohne die Verdienste der englischen Kolonialhelden herabzusetzen, kann man
ein gutes Teil der beispiellosen Erfolge Englands dem glücklichen Umstände


Die Engländer in Indien

verleugneten sie ihr Volkstum und suchten das ihnen Fehlende durch erborgten
Flitter zu ersetzen. Nach rein äußerlicher Annahme der fremden Kultur dünkten
sie sich den Europäern gleich und trügen sich nur mit einem Gedanken: sich
ihrer unbequemen Lehrmeister so schnell wie möglich zu entledigen. Nach allem,
was man hört, scheint diese Kritik für tonkinesische Verhältnisse nicht ganz
unberechtigt zu sein. In Indien liegt das Problem aber doch wesentlich anders.

Ein ausgezeichneter Beobachter der englischen Verwaltung in Indien, der
Baron Barchou de Penhoen, schreibt im Jahre 1844: Hätte man den ge¬
schicktesten Schriftstellern und Staatsmännern des achtzehnten Jahrhunderts die
Preisaufgabe gestellt: „Wie läßt sich in Indien eine europäische Verwaltung
einrichten?" so hätte doch keiner von ihnen die Lösung voraus geahnt, welche
wir heute als fertige Tatsache vor uns sehen. (Bd. 1 S. 299.)

Man muß zugeben, daß es in der ganzen Weltgeschichte noch nie etwas
gegeben hat, was sich mit der Aufrichtung der englischen Herrschaft über Indien
vergleichen ließe: ein ungeheures Land, das sich von den tropischen Meeren bis
in das Herz Asiens erstreckt, bevölkert von Hunderten von Millionen, eine
Stätte uralter hoher Kultur und fabelhafter Reichtümer, wird erobert und unter¬
worfen von einem „Barbarenvolke", das einige kleine Inseln in der fernen
Nordsee bewohnt. Und das alles ist nicht etwa das Ergebnis eines wohlüber¬
legten Planes, der vereinigten Anstrengungen eines ganzen Volkes, sondern
das unbeabsichtigte Werk einer Handvoll Kaufleute und Abenteurer,
die selbst erstaunt sind über die unerwartete Tragweite ihrer Handlungen.

In seinem Werke „L88al sur I'inöZalitö as8 I-Ä88S8 Kumaines" gibt
Graf Gobineau eine gute psychologische Erklärung für diese koloniale Expansion.
Er nennt die Engländer ein Volk voll demokratischer Ideen, das aber trotzdem
allen natürlichen Tendenzen anderer Demokratien abhold ist, und fährt dann fort:
Sie sind ein Generalstab ohne Truppen, Leute die zum Herrschen geboren sind,
die aber unter ihresgleichen von dieser ihrer Eigenschaft keinen Gebrauch machen
können und daher nach einer Gelegenheit suchen, sie Fremden gegenüber an¬
zuwenden. ... Sie sind, um es kurz zu sagen, ein Volk von Thronanwärtern,
ausgestattet mit dem erforderlichen Scharfsinn, um ihre Ansprüche vor der Welt
zu rechtfertigen.

Leute, die zum Herrschen geboren sind, die zu Hause keine Untertanen finden,
daher erobernd in die Welt hinaus gehen und genügend Scharfsinn besitzen,
um ihre Taten vor der Welt zu rechtfertigen: damit hat man in der Tat alle
Hauptzüge beieinander, welche diese typische Klasse von Menschen, den englischen
„empii-öbuiläer", auszeichnen. Im Besitz eines solchen Materials war England
die koloniale Expansion geradezu vorgeschrieben, wenn äußere Umstände
eintraten, die einer solchen Entwicklung günstig waren. Eine derartige
Konstellation trat aber tatsächlich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
ein. Ohne die Verdienste der englischen Kolonialhelden herabzusetzen, kann man
ein gutes Teil der beispiellosen Erfolge Englands dem glücklichen Umstände


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/91>, abgerufen am 22.12.2024.