Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das seltenste Fremdwort

damit also nicht bewiesen, geschweige denn erklärt. Demgegenüber hat aber
Gesetz, nach populärem Sprachgebrauch mit Befehl und Realgewalt assoziiert,
die selbstverständliche Bedeutung eines Zwanges, der innerlich oder äußerlich
der realen Tatsache selbst auferlegt ist. Aus diesem Mißverständnis folgt dann
der beliebte, haltlose Hohn über die "ewigen" Naturgesetze der superkluger
Herren Gelehrten, und den fragwürdigen Wert ihrer ganzen mühselig gewonnenen
Ergebnisse überhaupt, die jeden Tag von einer neuen "Tatsache" über den
Haufen gerannt und aä acta der Geschichte des menschlichen Irrtums gelegt
werden können. Es ist eben den Menschen, die scheinbar so "bescheiden" über
die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnis die Augen verdrehen, eine bare Unmög¬
lichkeit, daraus die Konsequenz zu ziehen und sich mit der Entwicklungsfähigkeit
der notwendig relativen Wahrheit und ihrer subjektiven Geltung nun wirklich
zu "bescheiden". Sie vermögen nicht, einen Gedanken auf die Dauer in der
Schwebe zu lassen auf dem Indifferenzpunkt derjenigen Beziehungslinien, bei
denen sie sich ihrer robusten, derb zupackender Natur nach sofort für die Plus¬
oder Minusseite entscheiden zu müssen glauben. Und zu den Beziehungslinien
gehört gerade bei denen, die so gern ein wenig den Gelehrten spielen wollen,
zu allererst die wissenschaftlich gar nicht existierende Linie der Wahrheit oder
Falschheit, wohlverstanden der absoluten Wahrheit oder Falschheit, womit zu¬
gleich über demi Gedanken in der Wert-Unwertlinie mit naiver Selbstverständ¬
lichkeit der Stab gebrochen wird. Gegenüber dem Umgangswort, das, beständig
diesen Ausflüssen ausgesetzt, die Plus-Minustendenz stillschweigend angenommen
hat, behauptet das Fremdwort ungezwungen und überall die unabhängige,
leidenschaftslose Sachlichkeit einer vox mociia. Es ist das "mystische Wort",
von dem Schiller sagt*), daß es "den heiligen Sinn hütet". Darin liegt ein
doppelter Anspruch eingeschlossen. Eine Überlieferung durch das Wort soll sein,
die zeitlos über dem Wandel des Lebens steht, dann aber auch ein Über¬
liefertes in dem Wort, das, weil es von Anbeginn einen gleichgestimmten
Inhalt trägt, zum natürlichen Ausgangspunkt einer solchen Überlieferung werden
konnte. Nur auf einem artverwandten Stamme gedeiht das veredelte Reis
einer subtilen, wissenschaftlichen Kultur. Es ist darum mehr als Pietät, wenn
die Wissenschaft allgemein und nicht nur bei den "ohne sprachliches Ehrgefühl"**)
ausgestatteten Deutschen als Grundlagen ihrer Terminologie Fremdwörter
lateinischer und griechischer Kreszenz verwendet, die nicht nur einer "toten",
"aus der Zeitflut weggerissenen" Sprache angehören, sondern noch dazu in
beiden Fällen einer Sprache, die im Verlaufe der Geschichte des Ringens nach
dem wissenschaftlichen Ausdruck bahnbrechend und auch für heute noch vorbildlich
gewirkt hat***).





") "Das Genie".
Engel, a. a. O.
***) Diese traditionelle Berechtigung des Fremdwortes vertritt auch Schopenhauer in dem
schon zitierten zwölften Kapitel des ersten Buches seiner "W, a. W, u. V,". Wenn seine Thesen
Das seltenste Fremdwort

damit also nicht bewiesen, geschweige denn erklärt. Demgegenüber hat aber
Gesetz, nach populärem Sprachgebrauch mit Befehl und Realgewalt assoziiert,
die selbstverständliche Bedeutung eines Zwanges, der innerlich oder äußerlich
der realen Tatsache selbst auferlegt ist. Aus diesem Mißverständnis folgt dann
der beliebte, haltlose Hohn über die „ewigen" Naturgesetze der superkluger
Herren Gelehrten, und den fragwürdigen Wert ihrer ganzen mühselig gewonnenen
Ergebnisse überhaupt, die jeden Tag von einer neuen „Tatsache" über den
Haufen gerannt und aä acta der Geschichte des menschlichen Irrtums gelegt
werden können. Es ist eben den Menschen, die scheinbar so „bescheiden" über
die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnis die Augen verdrehen, eine bare Unmög¬
lichkeit, daraus die Konsequenz zu ziehen und sich mit der Entwicklungsfähigkeit
der notwendig relativen Wahrheit und ihrer subjektiven Geltung nun wirklich
zu „bescheiden". Sie vermögen nicht, einen Gedanken auf die Dauer in der
Schwebe zu lassen auf dem Indifferenzpunkt derjenigen Beziehungslinien, bei
denen sie sich ihrer robusten, derb zupackender Natur nach sofort für die Plus¬
oder Minusseite entscheiden zu müssen glauben. Und zu den Beziehungslinien
gehört gerade bei denen, die so gern ein wenig den Gelehrten spielen wollen,
zu allererst die wissenschaftlich gar nicht existierende Linie der Wahrheit oder
Falschheit, wohlverstanden der absoluten Wahrheit oder Falschheit, womit zu¬
gleich über demi Gedanken in der Wert-Unwertlinie mit naiver Selbstverständ¬
lichkeit der Stab gebrochen wird. Gegenüber dem Umgangswort, das, beständig
diesen Ausflüssen ausgesetzt, die Plus-Minustendenz stillschweigend angenommen
hat, behauptet das Fremdwort ungezwungen und überall die unabhängige,
leidenschaftslose Sachlichkeit einer vox mociia. Es ist das „mystische Wort",
von dem Schiller sagt*), daß es „den heiligen Sinn hütet". Darin liegt ein
doppelter Anspruch eingeschlossen. Eine Überlieferung durch das Wort soll sein,
die zeitlos über dem Wandel des Lebens steht, dann aber auch ein Über¬
liefertes in dem Wort, das, weil es von Anbeginn einen gleichgestimmten
Inhalt trägt, zum natürlichen Ausgangspunkt einer solchen Überlieferung werden
konnte. Nur auf einem artverwandten Stamme gedeiht das veredelte Reis
einer subtilen, wissenschaftlichen Kultur. Es ist darum mehr als Pietät, wenn
die Wissenschaft allgemein und nicht nur bei den „ohne sprachliches Ehrgefühl"**)
ausgestatteten Deutschen als Grundlagen ihrer Terminologie Fremdwörter
lateinischer und griechischer Kreszenz verwendet, die nicht nur einer „toten",
„aus der Zeitflut weggerissenen" Sprache angehören, sondern noch dazu in
beiden Fällen einer Sprache, die im Verlaufe der Geschichte des Ringens nach
dem wissenschaftlichen Ausdruck bahnbrechend und auch für heute noch vorbildlich
gewirkt hat***).





") „Das Genie".
Engel, a. a. O.
***) Diese traditionelle Berechtigung des Fremdwortes vertritt auch Schopenhauer in dem
schon zitierten zwölften Kapitel des ersten Buches seiner „W, a. W, u. V,". Wenn seine Thesen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324949"/>
          <fw type="header" place="top"> Das seltenste Fremdwort</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_215" prev="#ID_214"> damit also nicht bewiesen, geschweige denn erklärt. Demgegenüber hat aber<lb/>
Gesetz, nach populärem Sprachgebrauch mit Befehl und Realgewalt assoziiert,<lb/>
die selbstverständliche Bedeutung eines Zwanges, der innerlich oder äußerlich<lb/>
der realen Tatsache selbst auferlegt ist. Aus diesem Mißverständnis folgt dann<lb/>
der beliebte, haltlose Hohn über die &#x201E;ewigen" Naturgesetze der superkluger<lb/>
Herren Gelehrten, und den fragwürdigen Wert ihrer ganzen mühselig gewonnenen<lb/>
Ergebnisse überhaupt, die jeden Tag von einer neuen &#x201E;Tatsache" über den<lb/>
Haufen gerannt und aä acta der Geschichte des menschlichen Irrtums gelegt<lb/>
werden können. Es ist eben den Menschen, die scheinbar so &#x201E;bescheiden" über<lb/>
die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnis die Augen verdrehen, eine bare Unmög¬<lb/>
lichkeit, daraus die Konsequenz zu ziehen und sich mit der Entwicklungsfähigkeit<lb/>
der notwendig relativen Wahrheit und ihrer subjektiven Geltung nun wirklich<lb/>
zu &#x201E;bescheiden". Sie vermögen nicht, einen Gedanken auf die Dauer in der<lb/>
Schwebe zu lassen auf dem Indifferenzpunkt derjenigen Beziehungslinien, bei<lb/>
denen sie sich ihrer robusten, derb zupackender Natur nach sofort für die Plus¬<lb/>
oder Minusseite entscheiden zu müssen glauben. Und zu den Beziehungslinien<lb/>
gehört gerade bei denen, die so gern ein wenig den Gelehrten spielen wollen,<lb/>
zu allererst die wissenschaftlich gar nicht existierende Linie der Wahrheit oder<lb/>
Falschheit, wohlverstanden der absoluten Wahrheit oder Falschheit, womit zu¬<lb/>
gleich über demi Gedanken in der Wert-Unwertlinie mit naiver Selbstverständ¬<lb/>
lichkeit der Stab gebrochen wird. Gegenüber dem Umgangswort, das, beständig<lb/>
diesen Ausflüssen ausgesetzt, die Plus-Minustendenz stillschweigend angenommen<lb/>
hat, behauptet das Fremdwort ungezwungen und überall die unabhängige,<lb/>
leidenschaftslose Sachlichkeit einer vox mociia. Es ist das &#x201E;mystische Wort",<lb/>
von dem Schiller sagt*), daß es &#x201E;den heiligen Sinn hütet". Darin liegt ein<lb/>
doppelter Anspruch eingeschlossen. Eine Überlieferung durch das Wort soll sein,<lb/>
die zeitlos über dem Wandel des Lebens steht, dann aber auch ein Über¬<lb/>
liefertes in dem Wort, das, weil es von Anbeginn einen gleichgestimmten<lb/>
Inhalt trägt, zum natürlichen Ausgangspunkt einer solchen Überlieferung werden<lb/>
konnte. Nur auf einem artverwandten Stamme gedeiht das veredelte Reis<lb/>
einer subtilen, wissenschaftlichen Kultur. Es ist darum mehr als Pietät, wenn<lb/>
die Wissenschaft allgemein und nicht nur bei den &#x201E;ohne sprachliches Ehrgefühl"**)<lb/>
ausgestatteten Deutschen als Grundlagen ihrer Terminologie Fremdwörter<lb/>
lateinischer und griechischer Kreszenz verwendet, die nicht nur einer &#x201E;toten",<lb/>
&#x201E;aus der Zeitflut weggerissenen" Sprache angehören, sondern noch dazu in<lb/>
beiden Fällen einer Sprache, die im Verlaufe der Geschichte des Ringens nach<lb/>
dem wissenschaftlichen Ausdruck bahnbrechend und auch für heute noch vorbildlich<lb/>
gewirkt hat***).</p><lb/>
          <note xml:id="FID_45" place="foot"> ") &#x201E;Das Genie".</note><lb/>
          <note xml:id="FID_46" place="foot"> Engel, a. a. O.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_47" place="foot" next="#FID_48"> ***) Diese traditionelle Berechtigung des Fremdwortes vertritt auch Schopenhauer in dem<lb/>
schon zitierten zwölften Kapitel des ersten Buches seiner &#x201E;W, a. W, u. V,". Wenn seine Thesen</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0079] Das seltenste Fremdwort damit also nicht bewiesen, geschweige denn erklärt. Demgegenüber hat aber Gesetz, nach populärem Sprachgebrauch mit Befehl und Realgewalt assoziiert, die selbstverständliche Bedeutung eines Zwanges, der innerlich oder äußerlich der realen Tatsache selbst auferlegt ist. Aus diesem Mißverständnis folgt dann der beliebte, haltlose Hohn über die „ewigen" Naturgesetze der superkluger Herren Gelehrten, und den fragwürdigen Wert ihrer ganzen mühselig gewonnenen Ergebnisse überhaupt, die jeden Tag von einer neuen „Tatsache" über den Haufen gerannt und aä acta der Geschichte des menschlichen Irrtums gelegt werden können. Es ist eben den Menschen, die scheinbar so „bescheiden" über die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnis die Augen verdrehen, eine bare Unmög¬ lichkeit, daraus die Konsequenz zu ziehen und sich mit der Entwicklungsfähigkeit der notwendig relativen Wahrheit und ihrer subjektiven Geltung nun wirklich zu „bescheiden". Sie vermögen nicht, einen Gedanken auf die Dauer in der Schwebe zu lassen auf dem Indifferenzpunkt derjenigen Beziehungslinien, bei denen sie sich ihrer robusten, derb zupackender Natur nach sofort für die Plus¬ oder Minusseite entscheiden zu müssen glauben. Und zu den Beziehungslinien gehört gerade bei denen, die so gern ein wenig den Gelehrten spielen wollen, zu allererst die wissenschaftlich gar nicht existierende Linie der Wahrheit oder Falschheit, wohlverstanden der absoluten Wahrheit oder Falschheit, womit zu¬ gleich über demi Gedanken in der Wert-Unwertlinie mit naiver Selbstverständ¬ lichkeit der Stab gebrochen wird. Gegenüber dem Umgangswort, das, beständig diesen Ausflüssen ausgesetzt, die Plus-Minustendenz stillschweigend angenommen hat, behauptet das Fremdwort ungezwungen und überall die unabhängige, leidenschaftslose Sachlichkeit einer vox mociia. Es ist das „mystische Wort", von dem Schiller sagt*), daß es „den heiligen Sinn hütet". Darin liegt ein doppelter Anspruch eingeschlossen. Eine Überlieferung durch das Wort soll sein, die zeitlos über dem Wandel des Lebens steht, dann aber auch ein Über¬ liefertes in dem Wort, das, weil es von Anbeginn einen gleichgestimmten Inhalt trägt, zum natürlichen Ausgangspunkt einer solchen Überlieferung werden konnte. Nur auf einem artverwandten Stamme gedeiht das veredelte Reis einer subtilen, wissenschaftlichen Kultur. Es ist darum mehr als Pietät, wenn die Wissenschaft allgemein und nicht nur bei den „ohne sprachliches Ehrgefühl"**) ausgestatteten Deutschen als Grundlagen ihrer Terminologie Fremdwörter lateinischer und griechischer Kreszenz verwendet, die nicht nur einer „toten", „aus der Zeitflut weggerissenen" Sprache angehören, sondern noch dazu in beiden Fällen einer Sprache, die im Verlaufe der Geschichte des Ringens nach dem wissenschaftlichen Ausdruck bahnbrechend und auch für heute noch vorbildlich gewirkt hat***). ") „Das Genie". Engel, a. a. O. ***) Diese traditionelle Berechtigung des Fremdwortes vertritt auch Schopenhauer in dem schon zitierten zwölften Kapitel des ersten Buches seiner „W, a. W, u. V,". Wenn seine Thesen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/79
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/79>, abgerufen am 22.07.2024.