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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das seltenste Fremdwort

Der Nachdruck ist eben weniger auf die NichtProfessoren als auf das "sehr oft"
zu legen. In der Regel wird Fremdwort und Feiertagswort jedoch zusammen¬
fallen, so daß ich im folgenden schlechthin vom Fremdwort reden werde, den
Leser aber sich gegenwärtig zu halten bitte, daß ich immer den stillen Vorbehalt
seines feiertäglichen Charakters mache. .

Könnte da nicht denselben Dienst ein ungewöhnliches deutsches Wort leisten,
das noch keine Gelegenheit hatte, im Verkehr die Bazillen der populären Jdeen-
anknüpfungen aufzusammeln, also im vorliegenden Falle etwa das von Engel
vorgeschlagene: Jchsinn")? Wenn nun aber einmal von Eitelkeit die Rede ist,
so muß ich doch sagen, Jchsinn klingt nur mindestens ebenso affektiert wie
Egoität. Wenn dies das eitle Selbstlob enthalten soll: "Seht, was für ein
gescheiter Kerl muß ich sein, daß ich aus lateinisch neue Wörter entdecke", so
liegt in jenem neben derselben Erfindereitelkeit noch die stille Pose des Auf¬
klärungshelden: "Seht mich an: ich breche mit allen Vorurteilen und schneide
ab alle Zöpfe der Schulgelehrten." Aber, wie gesagt, dieser ganze Gesichtspunkt
ist sehr kindlich.

Davon also abgesehen, unterliegt aber das deutsche Neuwort dem zureichenden
sachlichen Einwand, daß es durch seinen Anklang an bekannte Wortstamme einer
nachträglichen populären Assoziation immer geneigt bleibt.

Stellen wir von diesem Gesichtspunkt aus einmal Jchsinn und Egoität
gegenüber. Was ist da Jchsinn? Ich-Sinn: also der auf mein Ich gerichtete
Sinn. Was ist Egoität? L^o-itÄ8: also die Summe derjenigen Beziehungen,
die sich in "eZo" denken lassen. Und was ist eZv? Ist exo --ich? Ja und
nein. Es ist nicht ich, sofern wir es, wie oben bei Jchsinn, mit "mein Ich"
interpretieren; es ist ich, sofern wir darunter das Ich schlechthin verstehen.
Diese Aseität, d. h. Schlechtsinnigkeit des Sinnes, eignet allein einem Wort, das
lebens"fremd" geblieben ist. Li duc" faciunt latein, non est latein. Das gilt
besonders auch in der Sprache. Wie kam ich aber oben bei Zerlegung des
Wortes Jchsinn dazu, "ich" mit "mein Ich" zu identifizieren? Es war nichts
als der blitzschnelle, reflexartige Niederschlag dessen, woran ich denke, sobald ich
das Wort Jchsinn nach seinem Gedankengehalt erfassen will. Denn das Wort
"ich" wird täglich unzählige Male ausschließlich gehört oder gesprochen als das
Subjekt derjenigen Sätze, die von einer nur durch den Gebrauch des bürger¬
lichen Lebens praktisch erforderten und wesentlich durch ihre äußerlichen und
zufälligen Beziehungen zu diesem praktischen Leben qualifizierten sogenannten
"Person" ausgehen. So ist der Begriff "Ich", als der selbstverständliche Brenn¬
punkt dieser Beziehungen, für alle Sätze der Profansprache zum eingestandenen
oder stillschweigenden Subjekt geworden. Das macht eben die Alltagssprache
wissenschaftlich verdächtig, daß sie auf das Subjekt ihrer Sätze, indem dieses
direkt oder indirekt immer in das persönliche Element einmündet, von selbst
dessen praktisches Interesse überträgt. Demgegenüber ist in dem wissenschaftlichen



") a. a, O.
Grenzboten I 1913K
Das seltenste Fremdwort

Der Nachdruck ist eben weniger auf die NichtProfessoren als auf das „sehr oft"
zu legen. In der Regel wird Fremdwort und Feiertagswort jedoch zusammen¬
fallen, so daß ich im folgenden schlechthin vom Fremdwort reden werde, den
Leser aber sich gegenwärtig zu halten bitte, daß ich immer den stillen Vorbehalt
seines feiertäglichen Charakters mache. .

Könnte da nicht denselben Dienst ein ungewöhnliches deutsches Wort leisten,
das noch keine Gelegenheit hatte, im Verkehr die Bazillen der populären Jdeen-
anknüpfungen aufzusammeln, also im vorliegenden Falle etwa das von Engel
vorgeschlagene: Jchsinn")? Wenn nun aber einmal von Eitelkeit die Rede ist,
so muß ich doch sagen, Jchsinn klingt nur mindestens ebenso affektiert wie
Egoität. Wenn dies das eitle Selbstlob enthalten soll: „Seht, was für ein
gescheiter Kerl muß ich sein, daß ich aus lateinisch neue Wörter entdecke", so
liegt in jenem neben derselben Erfindereitelkeit noch die stille Pose des Auf¬
klärungshelden: „Seht mich an: ich breche mit allen Vorurteilen und schneide
ab alle Zöpfe der Schulgelehrten." Aber, wie gesagt, dieser ganze Gesichtspunkt
ist sehr kindlich.

Davon also abgesehen, unterliegt aber das deutsche Neuwort dem zureichenden
sachlichen Einwand, daß es durch seinen Anklang an bekannte Wortstamme einer
nachträglichen populären Assoziation immer geneigt bleibt.

Stellen wir von diesem Gesichtspunkt aus einmal Jchsinn und Egoität
gegenüber. Was ist da Jchsinn? Ich-Sinn: also der auf mein Ich gerichtete
Sinn. Was ist Egoität? L^o-itÄ8: also die Summe derjenigen Beziehungen,
die sich in „eZo" denken lassen. Und was ist eZv? Ist exo --ich? Ja und
nein. Es ist nicht ich, sofern wir es, wie oben bei Jchsinn, mit „mein Ich"
interpretieren; es ist ich, sofern wir darunter das Ich schlechthin verstehen.
Diese Aseität, d. h. Schlechtsinnigkeit des Sinnes, eignet allein einem Wort, das
lebens„fremd" geblieben ist. Li duc» faciunt latein, non est latein. Das gilt
besonders auch in der Sprache. Wie kam ich aber oben bei Zerlegung des
Wortes Jchsinn dazu, „ich" mit „mein Ich" zu identifizieren? Es war nichts
als der blitzschnelle, reflexartige Niederschlag dessen, woran ich denke, sobald ich
das Wort Jchsinn nach seinem Gedankengehalt erfassen will. Denn das Wort
„ich" wird täglich unzählige Male ausschließlich gehört oder gesprochen als das
Subjekt derjenigen Sätze, die von einer nur durch den Gebrauch des bürger¬
lichen Lebens praktisch erforderten und wesentlich durch ihre äußerlichen und
zufälligen Beziehungen zu diesem praktischen Leben qualifizierten sogenannten
„Person" ausgehen. So ist der Begriff „Ich", als der selbstverständliche Brenn¬
punkt dieser Beziehungen, für alle Sätze der Profansprache zum eingestandenen
oder stillschweigenden Subjekt geworden. Das macht eben die Alltagssprache
wissenschaftlich verdächtig, daß sie auf das Subjekt ihrer Sätze, indem dieses
direkt oder indirekt immer in das persönliche Element einmündet, von selbst
dessen praktisches Interesse überträgt. Demgegenüber ist in dem wissenschaftlichen



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[0077] Das seltenste Fremdwort Der Nachdruck ist eben weniger auf die NichtProfessoren als auf das „sehr oft" zu legen. In der Regel wird Fremdwort und Feiertagswort jedoch zusammen¬ fallen, so daß ich im folgenden schlechthin vom Fremdwort reden werde, den Leser aber sich gegenwärtig zu halten bitte, daß ich immer den stillen Vorbehalt seines feiertäglichen Charakters mache. . Könnte da nicht denselben Dienst ein ungewöhnliches deutsches Wort leisten, das noch keine Gelegenheit hatte, im Verkehr die Bazillen der populären Jdeen- anknüpfungen aufzusammeln, also im vorliegenden Falle etwa das von Engel vorgeschlagene: Jchsinn")? Wenn nun aber einmal von Eitelkeit die Rede ist, so muß ich doch sagen, Jchsinn klingt nur mindestens ebenso affektiert wie Egoität. Wenn dies das eitle Selbstlob enthalten soll: „Seht, was für ein gescheiter Kerl muß ich sein, daß ich aus lateinisch neue Wörter entdecke", so liegt in jenem neben derselben Erfindereitelkeit noch die stille Pose des Auf¬ klärungshelden: „Seht mich an: ich breche mit allen Vorurteilen und schneide ab alle Zöpfe der Schulgelehrten." Aber, wie gesagt, dieser ganze Gesichtspunkt ist sehr kindlich. Davon also abgesehen, unterliegt aber das deutsche Neuwort dem zureichenden sachlichen Einwand, daß es durch seinen Anklang an bekannte Wortstamme einer nachträglichen populären Assoziation immer geneigt bleibt. Stellen wir von diesem Gesichtspunkt aus einmal Jchsinn und Egoität gegenüber. Was ist da Jchsinn? Ich-Sinn: also der auf mein Ich gerichtete Sinn. Was ist Egoität? L^o-itÄ8: also die Summe derjenigen Beziehungen, die sich in „eZo" denken lassen. Und was ist eZv? Ist exo --ich? Ja und nein. Es ist nicht ich, sofern wir es, wie oben bei Jchsinn, mit „mein Ich" interpretieren; es ist ich, sofern wir darunter das Ich schlechthin verstehen. Diese Aseität, d. h. Schlechtsinnigkeit des Sinnes, eignet allein einem Wort, das lebens„fremd" geblieben ist. Li duc» faciunt latein, non est latein. Das gilt besonders auch in der Sprache. Wie kam ich aber oben bei Zerlegung des Wortes Jchsinn dazu, „ich" mit „mein Ich" zu identifizieren? Es war nichts als der blitzschnelle, reflexartige Niederschlag dessen, woran ich denke, sobald ich das Wort Jchsinn nach seinem Gedankengehalt erfassen will. Denn das Wort „ich" wird täglich unzählige Male ausschließlich gehört oder gesprochen als das Subjekt derjenigen Sätze, die von einer nur durch den Gebrauch des bürger¬ lichen Lebens praktisch erforderten und wesentlich durch ihre äußerlichen und zufälligen Beziehungen zu diesem praktischen Leben qualifizierten sogenannten „Person" ausgehen. So ist der Begriff „Ich", als der selbstverständliche Brenn¬ punkt dieser Beziehungen, für alle Sätze der Profansprache zum eingestandenen oder stillschweigenden Subjekt geworden. Das macht eben die Alltagssprache wissenschaftlich verdächtig, daß sie auf das Subjekt ihrer Sätze, indem dieses direkt oder indirekt immer in das persönliche Element einmündet, von selbst dessen praktisches Interesse überträgt. Demgegenüber ist in dem wissenschaftlichen ") a. a, O. Grenzboten I 1913K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/77>, abgerufen am 22.12.2024.