Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das seltenste Fremdwort

In der besonderen Anwendung auf den zweiten Umformungsprozeß des
Gedankens in das Wort besteht die wissenschaftliche Klarheit darin, daß der
Gedanke unverfälscht in seiner lautlicher Bezeichnung stecke, ohne daß ihm diese
etwas Fremdes hinzutue oder ein Eigenes verkümmere. In dem Ringen danach
bieten sich nun die Fremdwörter als sehr wertvolle Bundesgenossen an.

Schon äußerlich bedeuten sie durch die numerische Bereicherung der Sprache
eine Vermehrung der Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade mit ihrer Hilfe lassen
sich Spielarten der im deutschen Wort enthaltenen allgemeinen Bedeutung
sprachlich fixieren, die bisher in dieser latent schlummerten und darum nicht zu
fassen waren. Es vollzieht sich so der Prozeß der Erweiterung des Sprach¬
schatzes im Sinne einer fortschreitenden Differenzierung der Bedeutungen. "Die
Sprache um ein Wort ärmer machen," sagt Schopenhauer*), "heißt das Denken
der Nation um einen Begriff ärmer machen." Man muß allerdings nicht mit
E. Engel**) meinen, jedes existierende oder neu erfundene Fremdwort bestehe als
ein zweites Zeichen für denselben Sinn, wie ihn ein deutsches Wort bereits
zureichend ausdrückt, und könne beliebig mit ihm ausgetauscht werden. "I)i8tinZuo"
ist die Devise des Gelehrten. Zunächst halten die schon erwähnten Lücken seines
Reallexikons ständig das Bedürfnis nach neuen Namen wach. Wissenschaftlich
noch wichtiger ist natürlich die namentliche Spaltung von Bedeutungen, deren
Divergenz nicht auf real trennbare Objekte zurückführt, sondern nur der engeren
Auslegung eines abstrakten Begriffs dient, den ein reiferes Bewußtsein als
zusammengesetzt empfindet. Denn die Terminologie ist der Zentralbahnhof der
Wissenschaft, der das Schicksal seines realen Gegenstückes teilt, daß er sich ständig
als zu klein erweist. Es liegt in der wissenschaftlich rohen Vergangenheit der
Volkssprache, daß sie nur die Hauptlinien angelegt hat, die ein wachsendes
Bedürfnis Gleis um Gleis ausbauen muß. In demselben Maße wie dieser
Begriffsschematismus immer feinere Spitzen treibt, werden nun die Ausdrücke
einer primitiveren Denkweise wissenschaftlich vieldeutig. Aber nicht nur quanti¬
tativ umspannen sie einen weiten Spielraum wichtiger Unterbegriffe, auch
qualitativ erkennt eine strengere Auffassung von der Objektivität der Wissenschaft
in ihrer Bedeutung Elemente, die diesem objektiven Charakter widersprechen.
Das Wort Kunst z. B. ist für uns weniger ein Begriff, der im Denken seinen
Unterbegriffen übergeordnet ist, als ein Inbegriff, der seinen realen Erschei¬
nungen als praktischer Imperativ gegenübersteht. Wenn also hier in die
quantitative Ableitung des Gedachten ein qualitativer Gegensatz des Existenten
hineingetragen erscheint, so ist die Wissenschaft, die nur logisch quantitative
Unterschiede kennt, in diesem Wort, wenn nicht beseitigt, so doch gehemmt.

Damit berühren wir bereits die zweite Forderung des wissenschaftlichen
Stils; dem quantitativ Eindeutigen muß sich das qualitativ Reindeutige ver-




*) "Die Welt als Wille und Vorstellung", Buch l, Kap, 12. Vgl, auch "parergs un<t
paralipomena", Bd. Il 291 und 308.
"") a. a. O.
Das seltenste Fremdwort

In der besonderen Anwendung auf den zweiten Umformungsprozeß des
Gedankens in das Wort besteht die wissenschaftliche Klarheit darin, daß der
Gedanke unverfälscht in seiner lautlicher Bezeichnung stecke, ohne daß ihm diese
etwas Fremdes hinzutue oder ein Eigenes verkümmere. In dem Ringen danach
bieten sich nun die Fremdwörter als sehr wertvolle Bundesgenossen an.

Schon äußerlich bedeuten sie durch die numerische Bereicherung der Sprache
eine Vermehrung der Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade mit ihrer Hilfe lassen
sich Spielarten der im deutschen Wort enthaltenen allgemeinen Bedeutung
sprachlich fixieren, die bisher in dieser latent schlummerten und darum nicht zu
fassen waren. Es vollzieht sich so der Prozeß der Erweiterung des Sprach¬
schatzes im Sinne einer fortschreitenden Differenzierung der Bedeutungen. „Die
Sprache um ein Wort ärmer machen," sagt Schopenhauer*), „heißt das Denken
der Nation um einen Begriff ärmer machen." Man muß allerdings nicht mit
E. Engel**) meinen, jedes existierende oder neu erfundene Fremdwort bestehe als
ein zweites Zeichen für denselben Sinn, wie ihn ein deutsches Wort bereits
zureichend ausdrückt, und könne beliebig mit ihm ausgetauscht werden. „I)i8tinZuo"
ist die Devise des Gelehrten. Zunächst halten die schon erwähnten Lücken seines
Reallexikons ständig das Bedürfnis nach neuen Namen wach. Wissenschaftlich
noch wichtiger ist natürlich die namentliche Spaltung von Bedeutungen, deren
Divergenz nicht auf real trennbare Objekte zurückführt, sondern nur der engeren
Auslegung eines abstrakten Begriffs dient, den ein reiferes Bewußtsein als
zusammengesetzt empfindet. Denn die Terminologie ist der Zentralbahnhof der
Wissenschaft, der das Schicksal seines realen Gegenstückes teilt, daß er sich ständig
als zu klein erweist. Es liegt in der wissenschaftlich rohen Vergangenheit der
Volkssprache, daß sie nur die Hauptlinien angelegt hat, die ein wachsendes
Bedürfnis Gleis um Gleis ausbauen muß. In demselben Maße wie dieser
Begriffsschematismus immer feinere Spitzen treibt, werden nun die Ausdrücke
einer primitiveren Denkweise wissenschaftlich vieldeutig. Aber nicht nur quanti¬
tativ umspannen sie einen weiten Spielraum wichtiger Unterbegriffe, auch
qualitativ erkennt eine strengere Auffassung von der Objektivität der Wissenschaft
in ihrer Bedeutung Elemente, die diesem objektiven Charakter widersprechen.
Das Wort Kunst z. B. ist für uns weniger ein Begriff, der im Denken seinen
Unterbegriffen übergeordnet ist, als ein Inbegriff, der seinen realen Erschei¬
nungen als praktischer Imperativ gegenübersteht. Wenn also hier in die
quantitative Ableitung des Gedachten ein qualitativer Gegensatz des Existenten
hineingetragen erscheint, so ist die Wissenschaft, die nur logisch quantitative
Unterschiede kennt, in diesem Wort, wenn nicht beseitigt, so doch gehemmt.

Damit berühren wir bereits die zweite Forderung des wissenschaftlichen
Stils; dem quantitativ Eindeutigen muß sich das qualitativ Reindeutige ver-




*) „Die Welt als Wille und Vorstellung", Buch l, Kap, 12. Vgl, auch „parergs un<t
paralipomena", Bd. Il 291 und 308.
«") a. a. O.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324944"/>
          <fw type="header" place="top"> Das seltenste Fremdwort</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_202"> In der besonderen Anwendung auf den zweiten Umformungsprozeß des<lb/>
Gedankens in das Wort besteht die wissenschaftliche Klarheit darin, daß der<lb/>
Gedanke unverfälscht in seiner lautlicher Bezeichnung stecke, ohne daß ihm diese<lb/>
etwas Fremdes hinzutue oder ein Eigenes verkümmere. In dem Ringen danach<lb/>
bieten sich nun die Fremdwörter als sehr wertvolle Bundesgenossen an.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_203"> Schon äußerlich bedeuten sie durch die numerische Bereicherung der Sprache<lb/>
eine Vermehrung der Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade mit ihrer Hilfe lassen<lb/>
sich Spielarten der im deutschen Wort enthaltenen allgemeinen Bedeutung<lb/>
sprachlich fixieren, die bisher in dieser latent schlummerten und darum nicht zu<lb/>
fassen waren. Es vollzieht sich so der Prozeß der Erweiterung des Sprach¬<lb/>
schatzes im Sinne einer fortschreitenden Differenzierung der Bedeutungen. &#x201E;Die<lb/>
Sprache um ein Wort ärmer machen," sagt Schopenhauer*), &#x201E;heißt das Denken<lb/>
der Nation um einen Begriff ärmer machen." Man muß allerdings nicht mit<lb/>
E. Engel**) meinen, jedes existierende oder neu erfundene Fremdwort bestehe als<lb/>
ein zweites Zeichen für denselben Sinn, wie ihn ein deutsches Wort bereits<lb/>
zureichend ausdrückt, und könne beliebig mit ihm ausgetauscht werden. &#x201E;I)i8tinZuo"<lb/>
ist die Devise des Gelehrten. Zunächst halten die schon erwähnten Lücken seines<lb/>
Reallexikons ständig das Bedürfnis nach neuen Namen wach. Wissenschaftlich<lb/>
noch wichtiger ist natürlich die namentliche Spaltung von Bedeutungen, deren<lb/>
Divergenz nicht auf real trennbare Objekte zurückführt, sondern nur der engeren<lb/>
Auslegung eines abstrakten Begriffs dient, den ein reiferes Bewußtsein als<lb/>
zusammengesetzt empfindet. Denn die Terminologie ist der Zentralbahnhof der<lb/>
Wissenschaft, der das Schicksal seines realen Gegenstückes teilt, daß er sich ständig<lb/>
als zu klein erweist. Es liegt in der wissenschaftlich rohen Vergangenheit der<lb/>
Volkssprache, daß sie nur die Hauptlinien angelegt hat, die ein wachsendes<lb/>
Bedürfnis Gleis um Gleis ausbauen muß. In demselben Maße wie dieser<lb/>
Begriffsschematismus immer feinere Spitzen treibt, werden nun die Ausdrücke<lb/>
einer primitiveren Denkweise wissenschaftlich vieldeutig. Aber nicht nur quanti¬<lb/>
tativ umspannen sie einen weiten Spielraum wichtiger Unterbegriffe, auch<lb/>
qualitativ erkennt eine strengere Auffassung von der Objektivität der Wissenschaft<lb/>
in ihrer Bedeutung Elemente, die diesem objektiven Charakter widersprechen.<lb/>
Das Wort Kunst z. B. ist für uns weniger ein Begriff, der im Denken seinen<lb/>
Unterbegriffen übergeordnet ist, als ein Inbegriff, der seinen realen Erschei¬<lb/>
nungen als praktischer Imperativ gegenübersteht. Wenn also hier in die<lb/>
quantitative Ableitung des Gedachten ein qualitativer Gegensatz des Existenten<lb/>
hineingetragen erscheint, so ist die Wissenschaft, die nur logisch quantitative<lb/>
Unterschiede kennt, in diesem Wort, wenn nicht beseitigt, so doch gehemmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_204" next="#ID_205"> Damit berühren wir bereits die zweite Forderung des wissenschaftlichen<lb/>
Stils; dem quantitativ Eindeutigen muß sich das qualitativ Reindeutige ver-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_39" place="foot"> *) &#x201E;Die Welt als Wille und Vorstellung", Buch l, Kap, 12.  Vgl, auch &#x201E;parergs un&lt;t<lb/>
paralipomena", Bd. Il  291 und 308.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_40" place="foot"> «") a. a. O.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0074] Das seltenste Fremdwort In der besonderen Anwendung auf den zweiten Umformungsprozeß des Gedankens in das Wort besteht die wissenschaftliche Klarheit darin, daß der Gedanke unverfälscht in seiner lautlicher Bezeichnung stecke, ohne daß ihm diese etwas Fremdes hinzutue oder ein Eigenes verkümmere. In dem Ringen danach bieten sich nun die Fremdwörter als sehr wertvolle Bundesgenossen an. Schon äußerlich bedeuten sie durch die numerische Bereicherung der Sprache eine Vermehrung der Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade mit ihrer Hilfe lassen sich Spielarten der im deutschen Wort enthaltenen allgemeinen Bedeutung sprachlich fixieren, die bisher in dieser latent schlummerten und darum nicht zu fassen waren. Es vollzieht sich so der Prozeß der Erweiterung des Sprach¬ schatzes im Sinne einer fortschreitenden Differenzierung der Bedeutungen. „Die Sprache um ein Wort ärmer machen," sagt Schopenhauer*), „heißt das Denken der Nation um einen Begriff ärmer machen." Man muß allerdings nicht mit E. Engel**) meinen, jedes existierende oder neu erfundene Fremdwort bestehe als ein zweites Zeichen für denselben Sinn, wie ihn ein deutsches Wort bereits zureichend ausdrückt, und könne beliebig mit ihm ausgetauscht werden. „I)i8tinZuo" ist die Devise des Gelehrten. Zunächst halten die schon erwähnten Lücken seines Reallexikons ständig das Bedürfnis nach neuen Namen wach. Wissenschaftlich noch wichtiger ist natürlich die namentliche Spaltung von Bedeutungen, deren Divergenz nicht auf real trennbare Objekte zurückführt, sondern nur der engeren Auslegung eines abstrakten Begriffs dient, den ein reiferes Bewußtsein als zusammengesetzt empfindet. Denn die Terminologie ist der Zentralbahnhof der Wissenschaft, der das Schicksal seines realen Gegenstückes teilt, daß er sich ständig als zu klein erweist. Es liegt in der wissenschaftlich rohen Vergangenheit der Volkssprache, daß sie nur die Hauptlinien angelegt hat, die ein wachsendes Bedürfnis Gleis um Gleis ausbauen muß. In demselben Maße wie dieser Begriffsschematismus immer feinere Spitzen treibt, werden nun die Ausdrücke einer primitiveren Denkweise wissenschaftlich vieldeutig. Aber nicht nur quanti¬ tativ umspannen sie einen weiten Spielraum wichtiger Unterbegriffe, auch qualitativ erkennt eine strengere Auffassung von der Objektivität der Wissenschaft in ihrer Bedeutung Elemente, die diesem objektiven Charakter widersprechen. Das Wort Kunst z. B. ist für uns weniger ein Begriff, der im Denken seinen Unterbegriffen übergeordnet ist, als ein Inbegriff, der seinen realen Erschei¬ nungen als praktischer Imperativ gegenübersteht. Wenn also hier in die quantitative Ableitung des Gedachten ein qualitativer Gegensatz des Existenten hineingetragen erscheint, so ist die Wissenschaft, die nur logisch quantitative Unterschiede kennt, in diesem Wort, wenn nicht beseitigt, so doch gehemmt. Damit berühren wir bereits die zweite Forderung des wissenschaftlichen Stils; dem quantitativ Eindeutigen muß sich das qualitativ Reindeutige ver- *) „Die Welt als Wille und Vorstellung", Buch l, Kap, 12. Vgl, auch „parergs un<t paralipomena", Bd. Il 291 und 308. «") a. a. O.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/74
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/74>, abgerufen am 22.07.2024.