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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das seltenste Fremdwort

Geschwätzigkeit des Gelehrten" brandmarkt. In Wahrheit ist es das Gegenteil.
Der Gelehrte sagt lieber zu wenig als zu viel. Er legt sich fortwährend die
äußerste Beschränkung auf dessen, was er sagt, kann dies aber nur auf Kosten
der reichsten Verschwendung dessen, wie er es sagt. Alle seine Zusätze sind
eigentlich Wegsätze, welche die bei jedem Wort üppig aufschießenden Mi߬
verständnisse beschneiden sollen, welche die vielverzweigten und auseinander-
lanfenden Bächlein der Bedeutungen in den einen einzigen Strom des Sinnes
zurückleiten sollen. Solche straffe und nnbeirrte Gedankenführung nötigt ihn
auch, um Wiederholungen nach Möglichkeit zu vermeiden, zum äußersten Ausbau
der Periode, die dem Laien besonders verhaßt ist. Im Interesse der Ein¬
heitlichkeit des Gedankens zwingt sie nämlich den Leser, will er den Faden
nicht verlieren, zu gespanntester Aufmerksamkeit auf den durchgehenden Gedankenzug,
verriegelt ihm nacheinander alle Hinterpförtchen, durch die seine schweifenden
Hintergedanken auf. die blumigen Wiesen der eigenen, phantastischen Neben¬
vorstellungen entschlüpfen könnten, und gönnt ihm nicht eher einen Ruhepunkt,
als bis wenigstens dieser eine, den ganzen Satz beherrschende Gedanke folgerichtig
zu Ende gedacht ist. Wie unvollkommen trotzdem in den so sukzessiv vor¬
gebrachten, einzelnen Gedankenzügen die ursprüngliche Einheit der wiederum
in ihnen wirksamen, allgemeinen Idee zum Ausdruck kommt, davon gibt sich
auch Schopenhauer Rechenschaft in der sehr lesenswerten Vorrede zur ersten
Auflage seines Werkes: "Die Welt als Wille und Vorstellung", wenn er sagt:
"Was durch dasselbe mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke.'') Dennoch
konnte ich keinen kürzeren Weg, ihn mitzuteilen, finden als dieses ganze Buch.
Ein einziger Gedanke muß die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er
dennoch, zum Behufe seiner Mitteilung, sich in Teile zerlegen, so muß doch
wieder der Zusammenhang dieser Teile ein organischer, d. h. ein solcher sein,
wo jeder Teil ebenso sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten
wird, und auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß
schon das Ganze vorher verstanden sei. Ein Buch muß inzwischen eine erste
und eine letzte Zeile haben: folglich werden Form und Stoff hier im Wider¬
spruch stehen."

So ist es nur Hingabe an die Sache, ein Durchdrungensein von der Un¬
zulänglichkeit seiner Ausdrucksmittel, wenn der Gelehrte sich seinen eigenen Stil
schafft, der ihm die höchst erreichbare Klarheit verwirklicht. Ebenso wie dieser
Stil dem Laien inhaltlich verworren und formal nüchtern erscheint, wimmeln
dem Gelehrten gerade die nach gangbarer Ansicht deutlich und verständlich
geschriebenen Bücher von Unklarheiten, weil in ihnen die vieldeutigsten Worte
und die komplexesten Begriffe mit einer Miene vorgetragen werden, als handle
es sich um die einfachste Sache von der Welt, die gar keiner Erklärung bedürfe.
Er verzichtet grundsätzlich auf die Deutlichkeit, um die Eindeutigkeit zu gewinnen.



") In meiner Terminologie: Idee.
Das seltenste Fremdwort

Geschwätzigkeit des Gelehrten" brandmarkt. In Wahrheit ist es das Gegenteil.
Der Gelehrte sagt lieber zu wenig als zu viel. Er legt sich fortwährend die
äußerste Beschränkung auf dessen, was er sagt, kann dies aber nur auf Kosten
der reichsten Verschwendung dessen, wie er es sagt. Alle seine Zusätze sind
eigentlich Wegsätze, welche die bei jedem Wort üppig aufschießenden Mi߬
verständnisse beschneiden sollen, welche die vielverzweigten und auseinander-
lanfenden Bächlein der Bedeutungen in den einen einzigen Strom des Sinnes
zurückleiten sollen. Solche straffe und nnbeirrte Gedankenführung nötigt ihn
auch, um Wiederholungen nach Möglichkeit zu vermeiden, zum äußersten Ausbau
der Periode, die dem Laien besonders verhaßt ist. Im Interesse der Ein¬
heitlichkeit des Gedankens zwingt sie nämlich den Leser, will er den Faden
nicht verlieren, zu gespanntester Aufmerksamkeit auf den durchgehenden Gedankenzug,
verriegelt ihm nacheinander alle Hinterpförtchen, durch die seine schweifenden
Hintergedanken auf. die blumigen Wiesen der eigenen, phantastischen Neben¬
vorstellungen entschlüpfen könnten, und gönnt ihm nicht eher einen Ruhepunkt,
als bis wenigstens dieser eine, den ganzen Satz beherrschende Gedanke folgerichtig
zu Ende gedacht ist. Wie unvollkommen trotzdem in den so sukzessiv vor¬
gebrachten, einzelnen Gedankenzügen die ursprüngliche Einheit der wiederum
in ihnen wirksamen, allgemeinen Idee zum Ausdruck kommt, davon gibt sich
auch Schopenhauer Rechenschaft in der sehr lesenswerten Vorrede zur ersten
Auflage seines Werkes: „Die Welt als Wille und Vorstellung", wenn er sagt:
„Was durch dasselbe mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke.'') Dennoch
konnte ich keinen kürzeren Weg, ihn mitzuteilen, finden als dieses ganze Buch.
Ein einziger Gedanke muß die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er
dennoch, zum Behufe seiner Mitteilung, sich in Teile zerlegen, so muß doch
wieder der Zusammenhang dieser Teile ein organischer, d. h. ein solcher sein,
wo jeder Teil ebenso sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten
wird, und auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß
schon das Ganze vorher verstanden sei. Ein Buch muß inzwischen eine erste
und eine letzte Zeile haben: folglich werden Form und Stoff hier im Wider¬
spruch stehen."

So ist es nur Hingabe an die Sache, ein Durchdrungensein von der Un¬
zulänglichkeit seiner Ausdrucksmittel, wenn der Gelehrte sich seinen eigenen Stil
schafft, der ihm die höchst erreichbare Klarheit verwirklicht. Ebenso wie dieser
Stil dem Laien inhaltlich verworren und formal nüchtern erscheint, wimmeln
dem Gelehrten gerade die nach gangbarer Ansicht deutlich und verständlich
geschriebenen Bücher von Unklarheiten, weil in ihnen die vieldeutigsten Worte
und die komplexesten Begriffe mit einer Miene vorgetragen werden, als handle
es sich um die einfachste Sache von der Welt, die gar keiner Erklärung bedürfe.
Er verzichtet grundsätzlich auf die Deutlichkeit, um die Eindeutigkeit zu gewinnen.



") In meiner Terminologie: Idee.
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[0073] Das seltenste Fremdwort Geschwätzigkeit des Gelehrten" brandmarkt. In Wahrheit ist es das Gegenteil. Der Gelehrte sagt lieber zu wenig als zu viel. Er legt sich fortwährend die äußerste Beschränkung auf dessen, was er sagt, kann dies aber nur auf Kosten der reichsten Verschwendung dessen, wie er es sagt. Alle seine Zusätze sind eigentlich Wegsätze, welche die bei jedem Wort üppig aufschießenden Mi߬ verständnisse beschneiden sollen, welche die vielverzweigten und auseinander- lanfenden Bächlein der Bedeutungen in den einen einzigen Strom des Sinnes zurückleiten sollen. Solche straffe und nnbeirrte Gedankenführung nötigt ihn auch, um Wiederholungen nach Möglichkeit zu vermeiden, zum äußersten Ausbau der Periode, die dem Laien besonders verhaßt ist. Im Interesse der Ein¬ heitlichkeit des Gedankens zwingt sie nämlich den Leser, will er den Faden nicht verlieren, zu gespanntester Aufmerksamkeit auf den durchgehenden Gedankenzug, verriegelt ihm nacheinander alle Hinterpförtchen, durch die seine schweifenden Hintergedanken auf. die blumigen Wiesen der eigenen, phantastischen Neben¬ vorstellungen entschlüpfen könnten, und gönnt ihm nicht eher einen Ruhepunkt, als bis wenigstens dieser eine, den ganzen Satz beherrschende Gedanke folgerichtig zu Ende gedacht ist. Wie unvollkommen trotzdem in den so sukzessiv vor¬ gebrachten, einzelnen Gedankenzügen die ursprüngliche Einheit der wiederum in ihnen wirksamen, allgemeinen Idee zum Ausdruck kommt, davon gibt sich auch Schopenhauer Rechenschaft in der sehr lesenswerten Vorrede zur ersten Auflage seines Werkes: „Die Welt als Wille und Vorstellung", wenn er sagt: „Was durch dasselbe mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke.'') Dennoch konnte ich keinen kürzeren Weg, ihn mitzuteilen, finden als dieses ganze Buch. Ein einziger Gedanke muß die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Behufe seiner Mitteilung, sich in Teile zerlegen, so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Teile ein organischer, d. h. ein solcher sein, wo jeder Teil ebenso sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, und auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden sei. Ein Buch muß inzwischen eine erste und eine letzte Zeile haben: folglich werden Form und Stoff hier im Wider¬ spruch stehen." So ist es nur Hingabe an die Sache, ein Durchdrungensein von der Un¬ zulänglichkeit seiner Ausdrucksmittel, wenn der Gelehrte sich seinen eigenen Stil schafft, der ihm die höchst erreichbare Klarheit verwirklicht. Ebenso wie dieser Stil dem Laien inhaltlich verworren und formal nüchtern erscheint, wimmeln dem Gelehrten gerade die nach gangbarer Ansicht deutlich und verständlich geschriebenen Bücher von Unklarheiten, weil in ihnen die vieldeutigsten Worte und die komplexesten Begriffe mit einer Miene vorgetragen werden, als handle es sich um die einfachste Sache von der Welt, die gar keiner Erklärung bedürfe. Er verzichtet grundsätzlich auf die Deutlichkeit, um die Eindeutigkeit zu gewinnen. ") In meiner Terminologie: Idee.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/73>, abgerufen am 22.12.2024.