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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Lntvölkorungsfrage

Abschreckend wirken zunächst die drohenden Kosten der Erziehung und der
größeren Wohnung. Die Erziehungskosten sind bei den gebildeten Ständen
ungleich höher als bei den ärmeren, führen diese daher auch weniger zur Ge¬
burtenbeschränkung. Billige Wohnungen, obwohl durch ein besonderes franzö¬
sisches Gesetz angestrebt, sind für kinderreiche Familien, besonders in Paris,
sehr schwer zu finden; Eigentümer, Mieter und Pförtner (concierZe), der
Cerberus des französischen Hauses, wünschen keine Kinder. Das sich mehr und
mehr ausbreitende Streben nach Unabhängigkeit entfremdet den Eltern die
Kinder, sobald diese selbst verdienen, nimmt ihnen die in früheren Zeiten
erhoffte Hilfe als Lohn für das Großziehen und erklärt dadurch gleichfalls die
wachsende Abneigung gegen Kinder. Dasselbe wird durch den Unterrichtszwang
und die Sozialgesetzgebung erreicht, die die Kinderarbeit mehr und mehr ein¬
schränkt, sowie durch die in Frankreich geplante Wiedereinführung einer längeren
Lehrzeit ohne Arbeitsverdienst und der jetzt im Mittelpunkte des Interesses
stehenden Erhöhung der Militärdienstzeit für sämtliche Waffenfähige und Waffen¬
gattungen auf drei Jahre. Kinder, einst eine Kapitalquelle, sind daher heute ein
Luxus für den einzelnen. -- Neben der Eigenliebe der Eltern und ihrer Furcht vor
übermäßiger Belastung des Haushalts hat man auch die übertriebene Liebe zu
ihren Kindern hervorgehoben, die diesen felbst ein allzu mühseliges Leben
ersparen wolle, ein indes wohl reichlich idealer Grund.

Für die Töchter spricht weiterhin die Frage der Mitgift mit. Während
früher der Gatte für seine Frau an deren Eltern etwas zahlte, sie gleichsam
kaufte und damit den Eltern einen Ersatz für ihre Erziehungskosten gewährte,
ein Brauch, der sich noch in Afrika erhalten hat, verlangt er jetzt eine gute
Mitgift, und diese ist eine Voraussetzung für die Ehe ganz besonders in Frank¬
reich, wo dem Eheschlusse sehr häufig (in 75000 Fällen bei 310000 Ehen
im Jahre 1910) der notarielle Ehevertrag vorausgeht. Fehlt die Mitgift, so
droht den Eltern eine dauernde wirtschaftliche Last, die ihnen nicht mehr, wie
früher, ein Kloster abzunehmen pflegt. Das Sinken des Zinsfußes bedingt das
Ansammeln eines größeren Kapitales für die Mitgift. Wenn bei dem früheren
Zinsfuße von 5 Prozent z. B. ein Kapital von 24000 Mark für die Kommi߬
rente des Offiziers genügte, so ist bei ^/zprozentiger Verzinsung ein solches
von über 37000 Mark erforderlich. Konnte man also früher für drei TöchtD
eine Mitgift aufbringen, so kann man es heute nicht einmal für zwei.

Als dritter wirtschaftlicher Grund für die Kinderbeschränkung läßt sich die
Rücksicht auf die künftige Erbfolge ansprechen. Der Wunsch der Kaufleute und
Industriellen und namentlich der Bauern, die ihr Leben lang an der Abrundung
ihres Besitzes gearbeitet haben, geht dahin, ihr Werk nach ihrem Tode zu
erhalten. Ihnen wird also eine Nachkommenschaft erwünscht erscheinen, und
nicht nur ein einziger Sohn, da dieser vorzeitig sterben oder entarten kann.
Anderseits soll aber das Erbe unzerstückelt bleiben. Das Erstgeburtsrecht, wie
es sich namentlich in unserem hannoverschen Höferechte und unserem Fidel-


Zur Lntvölkorungsfrage

Abschreckend wirken zunächst die drohenden Kosten der Erziehung und der
größeren Wohnung. Die Erziehungskosten sind bei den gebildeten Ständen
ungleich höher als bei den ärmeren, führen diese daher auch weniger zur Ge¬
burtenbeschränkung. Billige Wohnungen, obwohl durch ein besonderes franzö¬
sisches Gesetz angestrebt, sind für kinderreiche Familien, besonders in Paris,
sehr schwer zu finden; Eigentümer, Mieter und Pförtner (concierZe), der
Cerberus des französischen Hauses, wünschen keine Kinder. Das sich mehr und
mehr ausbreitende Streben nach Unabhängigkeit entfremdet den Eltern die
Kinder, sobald diese selbst verdienen, nimmt ihnen die in früheren Zeiten
erhoffte Hilfe als Lohn für das Großziehen und erklärt dadurch gleichfalls die
wachsende Abneigung gegen Kinder. Dasselbe wird durch den Unterrichtszwang
und die Sozialgesetzgebung erreicht, die die Kinderarbeit mehr und mehr ein¬
schränkt, sowie durch die in Frankreich geplante Wiedereinführung einer längeren
Lehrzeit ohne Arbeitsverdienst und der jetzt im Mittelpunkte des Interesses
stehenden Erhöhung der Militärdienstzeit für sämtliche Waffenfähige und Waffen¬
gattungen auf drei Jahre. Kinder, einst eine Kapitalquelle, sind daher heute ein
Luxus für den einzelnen. — Neben der Eigenliebe der Eltern und ihrer Furcht vor
übermäßiger Belastung des Haushalts hat man auch die übertriebene Liebe zu
ihren Kindern hervorgehoben, die diesen felbst ein allzu mühseliges Leben
ersparen wolle, ein indes wohl reichlich idealer Grund.

Für die Töchter spricht weiterhin die Frage der Mitgift mit. Während
früher der Gatte für seine Frau an deren Eltern etwas zahlte, sie gleichsam
kaufte und damit den Eltern einen Ersatz für ihre Erziehungskosten gewährte,
ein Brauch, der sich noch in Afrika erhalten hat, verlangt er jetzt eine gute
Mitgift, und diese ist eine Voraussetzung für die Ehe ganz besonders in Frank¬
reich, wo dem Eheschlusse sehr häufig (in 75000 Fällen bei 310000 Ehen
im Jahre 1910) der notarielle Ehevertrag vorausgeht. Fehlt die Mitgift, so
droht den Eltern eine dauernde wirtschaftliche Last, die ihnen nicht mehr, wie
früher, ein Kloster abzunehmen pflegt. Das Sinken des Zinsfußes bedingt das
Ansammeln eines größeren Kapitales für die Mitgift. Wenn bei dem früheren
Zinsfuße von 5 Prozent z. B. ein Kapital von 24000 Mark für die Kommi߬
rente des Offiziers genügte, so ist bei ^/zprozentiger Verzinsung ein solches
von über 37000 Mark erforderlich. Konnte man also früher für drei TöchtD
eine Mitgift aufbringen, so kann man es heute nicht einmal für zwei.

Als dritter wirtschaftlicher Grund für die Kinderbeschränkung läßt sich die
Rücksicht auf die künftige Erbfolge ansprechen. Der Wunsch der Kaufleute und
Industriellen und namentlich der Bauern, die ihr Leben lang an der Abrundung
ihres Besitzes gearbeitet haben, geht dahin, ihr Werk nach ihrem Tode zu
erhalten. Ihnen wird also eine Nachkommenschaft erwünscht erscheinen, und
nicht nur ein einziger Sohn, da dieser vorzeitig sterben oder entarten kann.
Anderseits soll aber das Erbe unzerstückelt bleiben. Das Erstgeburtsrecht, wie
es sich namentlich in unserem hannoverschen Höferechte und unserem Fidel-


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[0634] Zur Lntvölkorungsfrage Abschreckend wirken zunächst die drohenden Kosten der Erziehung und der größeren Wohnung. Die Erziehungskosten sind bei den gebildeten Ständen ungleich höher als bei den ärmeren, führen diese daher auch weniger zur Ge¬ burtenbeschränkung. Billige Wohnungen, obwohl durch ein besonderes franzö¬ sisches Gesetz angestrebt, sind für kinderreiche Familien, besonders in Paris, sehr schwer zu finden; Eigentümer, Mieter und Pförtner (concierZe), der Cerberus des französischen Hauses, wünschen keine Kinder. Das sich mehr und mehr ausbreitende Streben nach Unabhängigkeit entfremdet den Eltern die Kinder, sobald diese selbst verdienen, nimmt ihnen die in früheren Zeiten erhoffte Hilfe als Lohn für das Großziehen und erklärt dadurch gleichfalls die wachsende Abneigung gegen Kinder. Dasselbe wird durch den Unterrichtszwang und die Sozialgesetzgebung erreicht, die die Kinderarbeit mehr und mehr ein¬ schränkt, sowie durch die in Frankreich geplante Wiedereinführung einer längeren Lehrzeit ohne Arbeitsverdienst und der jetzt im Mittelpunkte des Interesses stehenden Erhöhung der Militärdienstzeit für sämtliche Waffenfähige und Waffen¬ gattungen auf drei Jahre. Kinder, einst eine Kapitalquelle, sind daher heute ein Luxus für den einzelnen. — Neben der Eigenliebe der Eltern und ihrer Furcht vor übermäßiger Belastung des Haushalts hat man auch die übertriebene Liebe zu ihren Kindern hervorgehoben, die diesen felbst ein allzu mühseliges Leben ersparen wolle, ein indes wohl reichlich idealer Grund. Für die Töchter spricht weiterhin die Frage der Mitgift mit. Während früher der Gatte für seine Frau an deren Eltern etwas zahlte, sie gleichsam kaufte und damit den Eltern einen Ersatz für ihre Erziehungskosten gewährte, ein Brauch, der sich noch in Afrika erhalten hat, verlangt er jetzt eine gute Mitgift, und diese ist eine Voraussetzung für die Ehe ganz besonders in Frank¬ reich, wo dem Eheschlusse sehr häufig (in 75000 Fällen bei 310000 Ehen im Jahre 1910) der notarielle Ehevertrag vorausgeht. Fehlt die Mitgift, so droht den Eltern eine dauernde wirtschaftliche Last, die ihnen nicht mehr, wie früher, ein Kloster abzunehmen pflegt. Das Sinken des Zinsfußes bedingt das Ansammeln eines größeren Kapitales für die Mitgift. Wenn bei dem früheren Zinsfuße von 5 Prozent z. B. ein Kapital von 24000 Mark für die Kommi߬ rente des Offiziers genügte, so ist bei ^/zprozentiger Verzinsung ein solches von über 37000 Mark erforderlich. Konnte man also früher für drei TöchtD eine Mitgift aufbringen, so kann man es heute nicht einmal für zwei. Als dritter wirtschaftlicher Grund für die Kinderbeschränkung läßt sich die Rücksicht auf die künftige Erbfolge ansprechen. Der Wunsch der Kaufleute und Industriellen und namentlich der Bauern, die ihr Leben lang an der Abrundung ihres Besitzes gearbeitet haben, geht dahin, ihr Werk nach ihrem Tode zu erhalten. Ihnen wird also eine Nachkommenschaft erwünscht erscheinen, und nicht nur ein einziger Sohn, da dieser vorzeitig sterben oder entarten kann. Anderseits soll aber das Erbe unzerstückelt bleiben. Das Erstgeburtsrecht, wie es sich namentlich in unserem hannoverschen Höferechte und unserem Fidel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/634>, abgerufen am 04.07.2024.